Europas Grenzregime: In der Verzweiflung über den Ärmelkanal paddeln

Nr. 25 –

Immer mehr Menschen auf der Flucht versuchen, per Boot von Calais aus Grossbritannien zu erreichen. Dort steigt der Druck von rechts – und die Bereitschaft zu drastischen Massnahmen.

Das selbstgemachte Floss bestand aus zwei aneinander befestigten Windsurfboards. Auf jedem sassen zwei Männer. In den frühen Morgenstunden des 10. Juni waren sie bei Calais in See gestochen, um mit Schaufeln hinüber nach England zu paddeln – mindestens 35 Kilometer. Kurz vor halb sieben bemerkte eine Fähre, dass sich das seeuntaugliche Gefährt in Schwierigkeiten befand. Die Küstenwache brachte die Geretteten zurück an Land, nach Frankreich, berichtete die BBC letzte Woche.

Meldungen wie diese gibt es in den letzten Monaten immer wieder. Selten sind die Umstände so dramatisch – in der Regel erfolgen die Kanalüberfahrten mit Schlauchbooten, bisweilen mit gestohlenen Kuttern oder per Kajak. Doch das selbstgebastelte Floss zeugt von der Entschlossenheit und der Verzweiflung der Menschen auf der Flucht. Und zugleich hat sich herumgesprochen, dass die Passage trotz aller Gefahren realistische Erfolgsaussichten hat: Laut BBC gelang sie allein während des Lockdowns «mindestens» 1480 Personen.

Auch die Ereignisse jenes 10. Juni verdeutlichen den Umfang des Phänomens: Nur Stunden bevor die vier Passagiere auf ihrem Floss gerettet wurden, nahm die Border Force in britischen Gewässern vier Frauen und elf Männer aus dem Iran und dem Irak an Bord, weniger als eine Stunde später zehn Männer und fünf Frauen aus dem Iran, aus Syrien und Afghanistan – und gegen Sonnenaufgang zehn weitere Männer aus Syrien, dem Iran und dem Jemen. Zudem hätten französische BeamtInnen an diesem Tag weitere 35 Personen an der Überfahrt gehindert, berichtete das britische Innenministerium.

Kaum Lastwagen während Lockdown

Dass Geflüchtete aus den Elendscamps von Calais und Dunkerque per Boot nach Grossbritannien zu gelangen versuchen, ist nicht neu. Bis im Herbst 2018 handelte es sich jedoch um äusserst seltene Verzweiflungsaktionen. Denn die Chancen bei einer Überfahrt per Lkw oder Eurostar-Zug standen in keinem Verhältnis zum lebensgefährlichen Risiko bei der Flucht übers Meer. Erst seit vorletztem Winter wurde die Bootsüberfahrt eine gängige Praxis, teils selbst organisiert, teils und in zunehmend grossem Stil von SchleuserInnen. Inzwischen gilt die Fahrt übers Meer als Standardmethode zur Kanalüberquerung.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Das lange anhaltend gute Wetter in diesem Frühling ist wohl ein wichtiger Faktor, denn in Zeiten mit ruhiger See verringert sich das Risiko einer solchen Passage. Zudem sank während des Lockdowns die Zahl der Lastwagen, die zu kommerziellen Zwecken den Kanal überqueren, stark. Währenddessen verschlechterten die Coronamassnahmen in Frankreich die Lebensumstände in den provisorischen Camps von Calais und Dunkerque abermals: Die Versorgung mit Essen und Kleidung war nur noch eingeschränkt möglich, wohingegen die täglichen polizeilichen Räumungen von allem, was im Entferntesten einer permanenten Niederlassung gleicht, weitergingen.

Für die vermehrten Meeresüberquerungen spielt aber noch ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: Seit vorletztem Winter hat sich um die Camps am Ärmelkanal eine Infrastruktur gebildet, in der klandestine Passagen zum Preis von durchschnittlich etwa 3000 Euro gehandelt und organisiert werden. Auch wenn dies zweifellos nicht für alle erschwinglich ist, hat die Struktur trotzdem dazu beigetragen, dass sich die Transportmethode als solche zusehends etablierte. Angebot und Nachfrage halten das System aufrecht, so wie es zuvor bereits bei Überfahrten mit Lkws der Fall gewesen war. Wer den Preis nicht bezahlen kann, behilft sich mit extrem gefährlichen, improvisierten Methoden – wie mit besagtem Floss.

Die eindringlichen Warnungen von Behörden und PolitikerInnen, Menschenrechtsorganisationen und SchiffskundeexpertInnen auf beiden Seiten des Ärmelkanals bleiben bislang wirkungslos. Maya Konforti in Calais engagiert sich seit Jahren bei der Organisation L´Auberge des Migrants. Die Aktivistin schätzt die Erfolgsaussichten bei einer Kanalüberquerung auf mehr als fünfzig Prozent – im Vergleich zu den fast chancenlosen und ebenfalls lebensgefährlichen Passagen per Lkw oder Zug ein astronomischer Wert.

Es ist daher nicht überraschend, dass die 2019 erreichte Rekordzahl von 1892 Personen, die – aus eigener Kraft oder mithilfe der Küstenwache – nach Grossbritannien gelangten, dieses Jahr bereits übertroffen worden ist. Allein am 3. Juni registrierte das Londoner «Home Office» 166 neu angekommene Geflüchtete – mehr als je zuvor an einem Tag. Genau diese Tendenz sorgt im von Brexit und Corona geplagten United Kingdom für Hektik. So erklärte sich Innenministerin Priti Patel im April «entschlossen», die Überfahrten zu beenden. Und die BBC zitierte im Mai den ehemaligen Border-Force-Chef Tony Smith: «Dies wird zu einer grossen Bedrohung der Grenze des Vereinigten Königreichs.»

Kein «seltenes Phänomen»

Im Zuge solcher hetzerischer Rhetorik, unterstützt von Boulevardblättern oder Politikern wie Nigel Farage, wächst der Druck, Patels Worten Taten folgen zu lassen. Denn die eigenen Statistiken erscheinen der Behörde mit Blick auf die rechte Rhetorik als Schwachpunkt: 2019 wurden 125 «boat people» zurück nach Frankreich geschickt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass etwa für IranerInnen – in deren Heimat Homosexualität oder Blasphemie lebensgefährlich sein können – die Chancen auf Asyl in Grossbritannien relativ hoch sind.

Laut einem Bericht des «Guardian» Ende Mai hat das Innenministerium darum die sogenannte Operation Sillath ins Leben gerufen, um Geflüchtete möglichst schnell wieder nach Frankreich zurückzuschicken. Der aktuelle Informationsstand ist allerdings vage, eine Anfrage der WOZ blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Die Londoner Anwältin Lily Parrott, deren Kanzlei regelmässig Geflüchtete vertritt, bestätigt: Das Innenministerium strebe Ausschaffungen nach Frankreich an, sobald es «irgendeinen Beweis oder Hinweis» gebe, dass sich die betreffende Person fünf Monate oder länger irgendwo in Europa aufgehalten habe. Dabei berufe man sich auf das Dublin-Abkommen. «Ich bin sehr besorgt über die rechtswidrige und womöglich willkürliche Machtausübung des Innenministeriums gegenüber Menschen, die in Grossbritannien um Asyl ersuchen», sagt Parrott.

Der gemeinsame Plan der Regierungen in Paris und London von 2019 ist offensichtlich gescheitert. Er sah vor, die Überfahrten bis zum Frühling auf ein «seltenes Phänomen» zu reduzieren. Dass die im Umkreis von Calais agierende britische Border Force nun zuletzt die Order bekam, die Fingerabdrücke von MigrantInnen bereits auf dem Festland zu nehmen, weist darauf hin, dass Grossbritannien in Sachen Bootspassagen die Gangart verschärfen wird.