Irans Innenpolitik: Wenn das Regime plötzlich Entscheide zurücknimmt

Nr. 51 –

Arbeitskämpfe und anhaltende Proteste gegen die Kopftuchpflicht: Trotz zunehmender Repression lehnen sich Iraner:innen weiter gegen die Machthaber auf – teils mit Erfolg.

Der Druck der Zivilgesellschaft hat gewirkt: Die iranische Regierung hat das umstrittene «Gesetz zum Schutz der Familie durch die Förderung der Kultur der Keuschheit und des Hidschab» nun auf Eis gelegt. Vergangene Woche hatte der als moderat geltende Präsident Massud Peseschkian bereits sein Veto eingelegt. Er fürchtete eine Ausweitung der Unruhen im Land, die trotz der autoritären Herrschaft des politisch-religiösen Regimes nicht abreissen.

Mit dem neuen Hidschabgesetz sollten die geltenden strengen Kleidervorschriften für Frauen noch weiter verschärft werden und hätten bereits für Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr gegolten. Wer sich auf Fotos in sozialen Netzwerken oder auf der Strasse wiederholt ohne das vorgeschriebene Kopftuch zeigt, wäre künftig noch härter bestraft worden. Verstösse wären etwa mit hohen Geldbussen von umgerechnet mehr als 2000 Franken, mit Haftstrafen und Reiseverboten sanktioniert worden. Sogar die Todesstrafe hätte bei einem Verstoss ausgesprochen werden können. Die Regierung will das Gesetz nun erneut von der politischen Führung sowie dem Nationalen Sicherheitsrat überprüfen lassen. Der Rat gehört zu den wichtigsten Entscheidungsinstanzen des Landes. Das letzte Wort hat aber stets Revolutionsführer Ali Chamenei – ein prinzipientreuer Hardliner. Dass die iranische Führung im Fall des geplanten Gesetzes einen Schritt zurücktritt, offenbart, wie nervös die politischen Eliten sind.

Protest in Unterwäsche

Dass das Regime jüngst nicht mehr so fest im Sattel sitzt, zeigt sich etwa am geschrumpften aussenpolitischen Einfluss des Iran, der durch den Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad zusätzlich geschmälert wurde: Mit dem Systemwechsel hat der Iran einen seiner wichtigsten Verbündeten verloren und kann der durch israelische Angriffe geschwächten libanesischen Hisbollah kaum noch Waffen liefern. Da ist aber auch der innenpolitische Widerstand, den die Machthaber trotz eines Rekords an Exekutionen nicht unterdrücken können. Dabei gibt es unterschiedliche Gründe, aus denen Demonstrant:innen auf die Strasse gehen und in sozialen Netzwerken einen Sturz der Führung fordern.

So werden seit den «Frau, Leben, Freiheit»-Protesten von 2022 die Rechte von Frauen immer weiter beschnitten. Mitte November kündigte das Mullahregime etwa an, eine «Behandlungsklinik» für Frauen zu planen, die sich dem Hidschabgesetz widersetzen. Dies war die Reaktion auf die Aktion einer Studentin, die sich kurz zuvor, wohl aus Protest, nur in Unterwäsche bekleidet auf einem Campus in Teheran gezeigt hatte. Die Frau wurde in eine psychiatrische Einrichtung gesperrt und vom Regime als «geistesgestört» verunglimpft; Aktivist:innen befürchten, ihr könnte Folter drohen. Als Ende November Auszüge aus dem geplanten neuen Hidschabgesetz veröffentlicht wurden, folgten sogleich zahlreiche Reaktionen aus der Zivilgesellschaft im In- und Ausland: «Wir werden nie frei sein, bis sich der Iran vom islamischen Regime befreit und zu einer säkularen Demokratie wird», schrieb auf X die iranisch-amerikanische Menschenrechtsaktivistin Masih Alinejad nach Bekanntgabe des Gesetzesentwurfs. Das geplante Gesetz sei «mittelalterlich», wurde die im Iran lebende Aktivistin Nasrin Sotudeh in den Medien zitiert.

Solidarität der Bewegungen

Ungeachtet repressiver Massnahmen, gehen seit Monaten auch immer wieder Menschen verschiedener Branchen auf die Strasse. Angestellte der Teheraner Metro, Arbeiter von Raffinerien und besonders Pflegekräfte fordern bessere Arbeitsbedingungen und pünktliche Auszahlung ihrer Löhne. Es kam auch zu kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen: So streikten etwa Ende November Mitarbeiter:innen des Imam-Khomeini-Spitals in der südwestiranischen Stadt Ahwas. Sie forderten höhere Löhne und die Auszahlung ihrer Überstunden. Gemäss Medienberichten verdienen Pflegefachpersonen im Iran umgerechnet rund 175 Franken im Monat. Die Mindestkosten für den Lebensunterhalt in Teheran werden auf monatlich 440 Franken geschätzt, in anderen Städten betragen sie um die 310 Franken.

«Die steigende Inflation bei ausbleibender Angleichung der Löhne treibt viele Arbeiter:innen in die Armut», sagt Mahdi Rezaei-Tazik. Der Islamwissenschaftler forscht an der Universität Bern zur Geschichte der Religionskritik im Iran und verfolgt die aktuellen Proteste genau. Dass jüngst gerade im Pflegesektor gestreikt wurde, erstaunt Rezaei-Tazik nicht: Dieser gilt als besonders regierungskritisch.

Als 2022 und 2023 landesweit Tausende gegen das Regime aufbegehrten, schlossen sich ihnen gleich zu Beginn zahlreiche Studierende und Dozent:innen der Medizin an. Die derzeitigen Proteste begannen Anfang August, nachdem die 32-jährige Pflegefachfrau Parvaneh Mandani aus der Provinz Fars im Schlaf starb – an den Folgen von Überarbeitung, wie ihr Umfeld vermutete. Sie war bereits die dritte Pflegefachfrau, die innerhalb eines Monats verstorben war und deren Tod mit ihrer übermässigen Arbeitsbelastung in Verbindung gebracht wurde. Seither gehen regelmässig landesweit Pfleger:innen auf die Strasse und verlangen von der Regierung eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Das Gesundheitspersonal erfährt dabei Solidarität – etwa von progressiven Studierendenvereinigungen oder auch von Lehrer:innen. Das Gesundheitsministerium hat als Reaktion auf die Proteste versprochen, ausstehende Gehälter auszahlen zu lassen, und stellte Lohnerhöhungen in Aussicht. Geschehen ist bisher aber nichts.

Der Preis des Widerstands

Unterdessen wächst die Armut im Land, und statt in soziale Reformen wird viel Geld in die Aufrüstung der Armee und die Finanzierung von Milizen gesteckt. Auch Pensionär:innen gingen jüngst immer wieder auf die Strasse, um gegen Senkungen ihrer Renten zu protestieren. Er gehe nicht davon aus, dass die Forderungen der Arbeiter:innen tatsächlich erfüllt werden könnten, sagt Mahdi Rezaei-Tazik: «Denn die Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand, die Korruptionsrate ist enorm hoch, und die kostspielige Aussenpolitik des Regimes ist eine zusätzliche Belastung.» Hinzu kämen westliche Sanktionen, die dazu führten, dass Öl mit erheblichen Rabatten ins Ausland verkauft werden müsse.

Dass der Widerstand manchmal konkrete Verbesserungen zur Folge haben kann, zeigt der Fall der Ingenieurin Scharifeh Mohammadi. Diese wurde von einem Gericht in Rascht, im Norden des Landes, im Juli dieses Jahres zum Tode verurteilt. Die Aktivistin hatte sich für Arbeitnehmer:innen- und Frauenrechte eingesetzt. Nachdem lokale Gewerkschaften sowie internationale Menschenrechtsorganisationen öffentlich protestiert hatten, wurde das Urteil im Oktober aufgehoben. Mohammadi wartet seither im Gefängnis auf ein neues Verfahren.

Auf internationalen Druck sind auch die sogenannten Ekbātān-Boys angewiesen: Die sechs jungen Männer demonstrierten 2022 im Teheraner Stadtteil Ekbātān, der als ein Zentrum des Widerstands galt, gegen das Regime. Sie sitzen seit der Festnahme im Gefängnis und wurden Mitte November vom Revolutionsgericht zum Tode verurteilt. Die Anteilnahme an ihrem Schicksal ist gross, vor allem in sozialen Netzwerken fordern Oppositionelle und Aktivist:innen zur Freilassung der Verurteilten auf.