«Jin, Jiyan, Azadî» : Ein Parkplatz auf den Gräbern

Nr. 39 –

Drei Jahre sind seit dem feministischen Aufstand im Iran vergangen. Derweil sind die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft enorm, der zwölftägige Krieg mit Israel hat die Situation noch verschärft.

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Ob Somayeh Rashidi noch lebt, ist unklar. Nachdem sich der Gesundheitszustand der Gefangenen stark verschlechtert hatte, wurde sie laut der Menschenrechtsorganisation Hengaw vergangene Woche ins Spital eingeliefert. Rashidi, die im April 2025 in Teheran verhaftet wurde, nachdem sie beim Verfassen von Protestslogans entdeckt worden war, kam zunächst ins Evin-Gefängnis. Nach dem israelischen Angriff auf die berüchtigte Haftanstalt wurde sie in ein Gefängnis nach Ghartschak Waramin verlegt. In diesem sind laut Hengaw dieses Jahr schon drei Frauen wegen mangelnder medizinischer Versorgung verstorben. Rashidi, die epileptische Anfälle gehabt haben soll, sei dennoch vom Gefängnispersonal misshandelt worden und ins Koma gefallen.

Wie immer der Fall Rashidi auch ausgehen mag, klar ist schon jetzt, sie ist ein weiteres Opfer des Regimes. Genau wie Mahsa Amini, die vor drei Jahren vom Staat ermordet wurde. Die 22-Jährige aus der kurdischen Provinz Sakkes wurde am 13. September 2022 in Teheran von der Sittenpolizei wegen eines angeblichen Verstosses gegen das Kopftuchgesetz festgenommen, sie starb kurze Zeit später an Misshandlungen, die ihr die Polizei zugefügt hatte. Ihr Tod löste die grössten Proteste seit der Revolution von 1979 aus. Millionen Menschen riefen «Jin, Jiyan, Azadî» (Frau, Leben, Freiheit) und forderten ein Ende der Islamischen Republik. Das Regime antwortete mit Härte: Mehr als 550 Personen starben bei der Niederschlagung der Proteste. Der Staat inhaftierte Tausende und liess mindestens elf Demonstrierende hinrichten. Zuletzt, Anfang September, ermordete er Mehran Bahramian, weil dieser an den damaligen Protesten teilgenommen hatte.

Die Proteste von 2022 markierten einen Wendepunkt. Mahsa Aminis Gesicht wurde weltweit zum Symbol des Widerstands – zu sehen war sie auf Plakatwänden am Times Square in New York und auch auf Wandbildern in Berlin und Paris. Strassen in Wien und Los Angeles tragen heute den Namen der zu Tode Geprügelten. Der Hass auf das Regime flammt seither immer wieder auf. Im Juli 2024 wurde mit Massud Peseschkian ein neuer, regimetreuer, aber auch gemässigter Präsident gewählt. Die Herrschaft der Mullahs hält stand. Doch der «Zwölftagekrieg» mit Israel hat das Land innen- und aussenpolitisch weiter geschwächt, die Bevölkerung ist erschöpft und wütend. Das Regime tritt martialisch auf, fürchtet sich aber vor einer weiteren Protestwelle – anders sind die Repressionen nicht zu erklären.

Mehr als 20 000 Festnahmen

Allein in diesem Jahr wurden rund 900 Personen hingerichtet. Seit Juni rollt eine neue Verhaftungswelle durchs Land. Amnesty International berichtet von mehr als 20 000 Festnahmen – betroffen sind Oppositionelle, Journalisten, Aktivistinnen sowie ethnische und religiöse Minderheiten wie Afghan:innen, Kurd:innen, Baha’i und Christ:innen. So sollen 600 000 Afghan:innen in ihre Heimat zwangsabgeschoben worden sein. Eine Entwicklung, die der iranische Menschenrechtsanwalt Saeid Dehghan von Toronto aus beobachtet: «Angehörigen von Minderheiten werden grundlegende Rechte wie Bildung, Beschäftigung oder medizinische Versorgung verweigert, weil ihnen oftmals keine offiziellen Ausweise ausgestellt werden», sagt Dehghan. «Aus Verzweiflung wenden sich einige kriminellen Geschäften wie dem Drogenhandel zu – und werden ohne Rechtsbeistand oder faire Gerichtsverfahren hart bestraft.» Zudem werde der Konflikt mit Israel instrumentalisiert, um gegen den Widerstand im Innern vorzugehen.

Allein in den ersten Tagen nach Beginn des Gazakriegs wurden rund 700 Menschen unter dem Vorwurf verhaftet, für Israel spioniert zu haben. «Allerdings gibt es im iranischen Recht keine spezifische gesetzliche Bestimmung, die Spionage für Israel unter Strafe stellt. Diese Anschuldigungen dienen lediglich der Einschüchterung», sagt Dehghan.

Die Behörden verschärfen den Umgang mit politischen Gegner:innen. «Täglich finden politische Prozesse statt – oft ohne jegliche rechtliche Grundlage –, begleitet von willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen von Dissident:innen. Die Justiz ist zu einem Instrument der Unterdrückung geworden», sagt Dehghan, der aus dem kanadischen Exil iranische Oppositionelle unterstützt. «Die autoritäre Herrschaft von Ajatollah Ali Chamenei unterscheidet sich kaum von der von Diktatoren wie Muammar al-Gaddafi oder Saddam Hussein. Unter Chameneis Herrschaft sind die universellen Menschenrechte nicht gewährleistet. Stattdessen wird ein religiöses Dogma durchgesetzt, um die Opposition zum Schweigen zu bringen.»

Erst kürzlich wurde ein Gesetz zur Ausweitung der Todesstrafe im Parlament diskutiert. Regierungsnahe Medien fordern offen Hinrichtungen wie 1988, als Tausende politische Gefangene von Todeskommandos exekutiert wurden. In einem Brief an die Vereinten Nationen rufen 322 Menschenrechtler:innen der Organisation «Gerechtigkeit für die Opfer des Massakers von 1988 im Iran» zu sofortigen Massnahmen auf, um der «zunehmenden Welle politischer Hinrichtungen und der tief verwurzelten Straflosigkeit im Iran dringend entgegenzutreten». Die Gefahr eines weiteren Massenmords sei besorgniserregend real, heisst es im Schreiben.

Aber das Regime versucht, die Erinnerung an diese Verbrechen auszulöschen. Auf dem Teheraner Behescht-Sahra-Friedhof liess die Stadtverwaltung kürzlich einen Parkplatz über Massengräbern aus den achtziger Jahren anlegen. Menschenrechtsorganisationen sagen, es würden gezielt forensische Beweise zerstört.

Versorgungskrise und Kopftuch

Trotz all der Repressionen reissen die Proteste keineswegs ab. Immer wieder gibt es Demonstrationen, sei es von Krankenpfleger:innen, Rentnern oder Studentinnen (siehe WOZ Nr. 25/25). Im Sommer gingen in mehreren Städten Menschen auf die Strasse, diesmal wegen der ständigen Wasser- und Stromausfälle. In sozialen Netzwerken kursierten Videos, die Demonstrierende in Schiras zeigen. Sie riefen: «Wasser, Strom, Leben sind unsere Grundrechte.»

Dass sich Proteste auch lohnen, zeigt sich am Lieblingsobjekt der Machthaber, mit dem sie die Frauen kontrollieren wollen. So verabschiedete das Parlament zwar ein strengeres Gesetz bezüglich «Keuschheit und Hidschab». Doch aus Angst vor einer breiten Gegenreaktion legte die Regierung die Umsetzung vorerst auf Eis. Selbst die Sittenpolizei, jene gefürchtete Institution, deren Beamte Mahsa Amini in Gewahrsam genommen hatten, ist momentan weitgehend von den Strassen verschwunden.

Für Menschenrechtler Dehghan sind es vor allem die Frauen, die das Land tragen. «Die Iranerinnen sind die eigentlichen Heldinnen, deren Stärke, Solidarität und Entschlossenheit den Widerstand am Leben halten», sagt er. Er wünscht sich von der internationalen Gemeinschaft mehr als symbolische Gesten. «Die Vereinten Nationen sollten eine Resolution verabschieden, die die systematische Apartheid und Unterdrückung im Iran verurteilt.» Sanktionen seien nicht ausreichend und würden allzu oft der Zivilbevölkerung schaden.

Die Einführung von Sanktionen wurde vergangene Woche vom Uno-Sicherheitsrat wieder in Aussicht gestellt. Sollte es bis zum 28. September nicht zu einer Einigung mit dem Iran kommen, werden frühere Strafmassnahmen wieder in Kraft treten, darunter Reiseverbote und das Einfrieren iranischer Vermögen.