Militarisierung in Russland: Wer leben darf und wer sterben muss
Für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert das russische Militär überproportional in indigenen Gemeinschaften. Dabei macht sich das Regime auch die wirtschaftliche Not der Menschen zunutze.

«Es zerreisst mich zu sehen, wie Burjaten im Krieg sterben. Es tut weh, daran zu denken, dass wir als diejenigen in die Geschichte eingehen werden, die gegen die Ukrainer:innen gekämpft haben.» Maria ist selbst burjatischer Herkunft und gehört damit einer der grössten indigenen Gemeinschaften Sibiriens an. Sie rang um Fassung, als sie das im Frühsommer 2022 sagte. Zu diesem Zeitpunkt griffen russische Truppen die Ukraine bereits seit Monaten an, legten Städte in Schutt und Asche.
Wer diesen Krieg globalgeschichtlich verstehen will, muss die Ukraine zunächst in den Kontext der «Interimperialität» stellen: Über Jahrhunderte konkurrierten Imperien um die Herrschaft in der Region – von der polnischen Kolonialisierung im 16. Jahrhundert über die Eingliederung ins Russische Reich im 18. Jahrhundert bis hin zur Unterdrückung während der Sowjetzeit durch Stalins repressive Politik und der von ihm herbeigeführten grossen Hungersnot, dem Holodomor. Im Zweiten Weltkrieg dann verwandelten die imperialen Ambitionen der nationalsozialistischen und sowjetischen Mächte die Ukraine in ein Schlachtfeld.
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist daher eine Fortführung interimperialer Herrschaftsverhältnisse und entsprechend als kolonialer Krieg zu verstehen: Auch Wladimir Putin betrachtet das Nachbarland als Territorium, das es zurückzuerobern und zu kontrollieren gilt. Russlands Geschichte und die aktuelle Aggression verdeutlichen, dass die Regime in Moskau weder vor noch während oder nach der Sowjetzeit dekoloniale Verbündete waren. So setzen sich die einst zementierten interimperialen Unterdrückungsverhältnisse auch heute fort.
Zu Entbehrlichen erklärt
In den Worten Marias zur tragischen Realität der Burjat:innen klingt auch an, was Frantz Fanon beschrieben hat: «Der Kolonialismus nutzt die Kolonialisierten, nachdem er sie auf den Schlachtfeldern eingesetzt und zu Soldaten ausgebildet hat, um die Unabhängigkeitsbewegungen niederzuschlagen.» Dieses Muster einer sich wiederholenden, sich erneuernden Gewalt ist auch in der interimperialen Geschichte Russlands zu erkennen. Indigene Gemeinschaften wurden über Jahrhunderte hinweg von verschiedenen Imperien wie dem Osmanischen Reich, dem Russischen Reich und später durch den sowjetischen Siedlerkolonialismus unterworfen und ausgebeutet, um den Interessen der zentralen Autoritäten und der oberen Klassen zu dienen. Heute setzt sich dieses Erbe fort. Arme, marginalisierte Menschen wie die Burjat:innen sind an der Front überrepräsentiert. Mit dem Krieg hat die Regierung sie zu Entbehrlichen erklärt.
Um seine Truppen zu stärken und Soldaten zu rekrutieren, wendet das russische Militär eine Vielzahl von Methoden an. In Regionen wie Burjatien an der Grenze zur Mongolei oder Sacha im nördlichen Sibirien sehen sich indigene Gemeinschaften, die schon vor, während und nach der Sowjetzeit kolonialer Unterwerfung ausgesetzt waren, mit prekären Lebensbedingungen konfrontiert. Diese wirtschaftliche Not nutzt die russische Regierung gezielt aus.
Auch in den nordkaukasischen Regionen Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan, wo zahlreiche ethnisierte, rassifizierte und religiös marginalisierte Gemeinschaften wie Awar:innen und Kumyk:innen leben, wird intensiv fürs Militär rekrutiert. In den von Armut geprägten Regionen werden Menschen – teilweise unter Androhung von Gewalt, mit Erpressung und Folter – zum Kriegsdienst gezwungen. In Regionen wie Dagestan sind die Rekrutierungsbemühungen allerdings nicht immer erfolgreich: Die russische Propaganda, die den Krieg als «Entnazifizierung» deklariert, überzeugt nicht alle.
In Moskau und anderen Städten positionieren sich Militärrekrutierer gern vor Moscheen. Sie laden gezielt Arbeiter vor, die vermeintlich nicht «slawisch» oder «russisch» aussehen, und führen Zwangsrekrutierungen durch. Ein Beispiel für diese brutale Praxis ist die Operation «Illegal 2023». In diesem Kontext wurden Razzien auf Baustellen, Märkten, Bauernhöfen, in Restaurants und Wohnhäusern durchgeführt, auf Strassen sowie in U-Bahnen kam es zu Racial Profiling, wobei gezielt migrantisierte Personen ins Visier genommen wurden. Betroffen sind vor allem Arbeitsmigranten aus den ehemaligen sowjetischen Republiken Zentralasiens. Ihnen wird mit Haft oder der Deportation der Familie gedroht, wenn sie sich gegen die Rekrutierung wehren.
Russland rekrutiert seine Soldaten jedoch auch jenseits der Landesgrenzen. So wurden Berichten zufolge Arbeiter aus Usbekistan, die Verträge für Bauarbeiten in der russisch besetzten Stadt Mariupol im Süden der Ukraine unterschrieben hatten, zum Kämpfen an die Front geschickt. Auch in Indien wurden Menschen unter falschen Versprechungen gut bezahlter ziviler Jobs in Russland angeworben. Andere berichten, dass sie sich für Jobs in Städten wie Dubai gemeldet hätten, um sich dann an der Front in der Ukraine wiederzufinden.
Soldaten aus dem Ausland
Die russische Regierung macht sich gezielt das Bedürfnis nach wirtschaftlicher und langfristiger Stabilität zunutze: Menschen aus Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan werden mit Einstiegsprämien und dem Versprechen einer beschleunigten Einbürgerung in Russland für den Militärdienst angeworben. Nach dieser Logik hat Russland auch Söldner aus Nepal, Kuba, Libyen und Syrien für monatlich 300 bis 600 US-Dollar rekrutiert. Jüngst wurden aber auch Söldner aus Sri Lanka, Ruanda, Burundi, Somalia und Uganda unter Vertrag genommen. Laut ukrainischen Geheimdiensten erhalten diese 2000 Dollar für die Vertragsunterzeichnung, eine monatliche Vergütung von 2200 Dollar, eine Krankenversicherung und die Aussicht auf die russische Staatsbürger:innenschaft für die ganze Familie.
Ende Oktober wurden zudem rund 10 000 nordkoreanische Soldaten in Frontgebiete verlegt; bis zu 100 000 könnten folgen. In diesem Fall stellt die nordkoreanische Regierung selbst Truppen zur Verfügung. Russische Militärs sprechen von «burjatischen Spezialbataillonen». Nach Angaben des südkoreanischen Geheimdiensts erhalten die Soldaten aus Nordkorea gefälschte Ausweise aus Jakutien und Burjatien, um als russische Soldaten getarnt ihre Beteiligung am Einsatz zu verschleiern.
Während in peripheren Regionen und im Ausland verstärkt angeworben wird, spürt die eigene, «russische» Bevölkerung, insbesondere die Mittelschicht in den Zentren, davon wenig. Und während etwa auch in Gefängnissen Männer sowie Frauen rekrutiert werden, bleiben die oberen Klassen vom Kriegsdienst verschont.
Gruppen wie die Free Buryatia Foundation haben diese ungleiche Belastung stark kritisiert – und sich von Anfang an gegen den Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen. Auch haben sich Menschen aus Burjatien und Sacha dem Sibirischen Bataillon in der ukrainischen Armee angeschlossen. Ihrer Motivation liegt der Wunsch zugrunde, für eine Zukunft zu kämpfen, in der auch ihre Gemeinschaften ohne Unterdrückung und in Freiheit leben können. Viele, die sich einer Rekrutierung in Russland entziehen wollen, verstecken sich oder fliehen. Ein internationales Solidaritätsnetzwerk, überwiegend aus der russischen Diaspora bestehend, unterstützt diese Kriegsdienstverweigerer.
Die interimperiale Gewalt bestimmt, wer angegriffen und wer in den Krieg geschickt wird, wessen Leben als entbehrlich gilt und welche Gemeinschaften wiederholt Traumata erleiden müssen, die an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Sie setzt sich aber auch strukturell fort, wenn Kriegsdienstverweigerer in anderen Ländern Zuflucht suchen. Gerade für marginalisierte Menschen ist der Weg an einen sicheren Ort nahezu unmöglich.
Ihr politischer Standpunkt als Kriegsdienstverweigerer oder Deserteure wird in der EU und auch in der Schweiz nicht als gültiger Asylgrund anerkannt. Nur wenigen gelingt es, Schutz zu finden. Die Verflechtung der russischen Kriegs- und Rekrutierungspolitik mit der Asylpraxis anderer Länder ist ein zentraler Faktor für die systematische Gewalt. Indem europäische und andere Länder diesen Schutz verweigern, verschärfen sie das prekäre Leben der Oppositionellen und Vulnerablen. Als Konsequenz dienen sie dem russischen Militär als Kanonenfutter. So setzt sich der Kreislauf der Marginalisierung fort und führt das historische Erbe der Entmenschlichung und des Traumas weiter, während die Ärmsten zurückgelassen werden: gefangen in der Gewaltspirale des russischen Staates und der Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft.
Mangel an Aufmerksamkeit
«Nekropolitik», wie sie der kamerunische Theoretiker Achille Mbembe beschreibt, reflektiert die modernen Demokratien innewohnende Gewalt. Mbembe argumentiert, dass souveräne Mächte die Kontrolle behielten, indem sie entschieden, wer leben dürfe und wer sterben müsse, oft durch die Schaffung stark kontrollierter, gewalttätiger Räume inner- und ausserhalb ihrer Grenzen. Dazu gehören Flüchtlingslager, in denen Gesetze ausser Kraft gesetzt sind und wo Menschen unter extremen Bedingungen (über-)leben müssen. Mbembe stellt die verbreitete Vorstellung infrage, dass Demokratien rein friedlicher Natur seien, und beschreibt, wie sie sich auf die Ausbeutung und Kontrolle marginalisierter Gruppen stützen, um sich selbst zu erhalten.
Ein Asylsystem, das nicht anerkennt, dass Menschen nicht sterben und nicht töten wollen, ist Teil dieser Nekropolitik und der interimperialen Gewalt im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine. Der Mangel an Aufmerksamkeit für ein zunehmend nekropolitisch ausgerichtetes Asylrecht spiegelt indes zweierlei wider: eine bürgerliche, neokoloniale Kälte und das Fehlen einer globalen Antikriegsbewegung. Stattdessen erlebt die Welt eine beispiellose Spirale weltweiter Militarisierung ohne absehbares Ende. Es ist dringender denn je, damit zu brechen.
Dina Bolokan ist Soziolog:in und Geschlechterforscher:in. Derzeitiger Fokus von Bolokans Arbeit sind die Umstände, unter denen Männer im Kontext des russischen Kriegs gegen die Ukraine den Kriegsdienst verweigern oder desertieren. Dieser Text ist die gekürzte und editierte Version eines Beitrags, der ursprünglich auf dem Blog «Concerning Violence» der britischen Bath-Universität erschienen ist.