Schweizer Arbeitsmarkt: Löcher im Schutzschirm

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Das Entsendesystem führt zu prekären Arbeitsbedingungen. Ausgerechnet dort würde das geplante Abkommen mit der EU die Kontrollen schwächen. Nicht nur Gewerkschaften warnen davor.

Falls der Bundesrat Vertrauen schaffen wollte, dass das mit dem Lohnschutz schon gut komme im geplanten «Bilaterale III»-Abkommen mit der Europäischen Union, ist das gründlich schiefgegangen. «Die Verhandlungsziele wurden erreicht», heisst es fett gedruckt im Abschlussdokument zu den jahrelangen Verhandlungen, das kurz vor Weihnachten vom Aussendepartement veröffentlicht wurde. Und es wird versprochen: Das Lohnschutzniveau werde gesichert.

Doch noch während die Medienkonferenz lief, an der die zuständigen Bundesräte Beat Jans, Guy Parmelin und Ignazio Cassis vom Deal erzählten, trafen bei Helene Budliger Artieda, der Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), wütende SMS ein. Schliesslich korrigierte Budliger den Bundesrat noch an der Medienkonferenz: «Es gibt gewisse Rückschritte», räumte sie ein.

Deutlich negativ bewerten die Gewerkschaften das Verhandlungsergebnis. «Wir sind Teil der Öffnungsallianz», sagt Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, «aber nicht, wenn die Öffnung auf Kosten der Arbeitnehmer:innen geht.» Und das geht die geplante Öffnung des hiesigen Arbeitsmarkts in Lamparts Augen. So sollen verschiedene Instrumente abgeschafft oder abgeschwächt werden, mit denen die Schweiz verhindern will, dass Firmen aus der EU hierzulande Lohndumping betreiben.

Inskünftig soll die Schweiz viele Dumpingfirmen nicht mehr sperren dürfen. Und hierhergeschickte Arbeiter:innen sollen nur noch Spesen erstattet bekommen, wie sie ihnen im Heimatland zustehen würden. Zudem müssten Firmen einen Einsatz in der Schweiz statt acht etwa nur noch vier Tage vorher anmelden – und auch erst bei wiederholten Verstössen eine Kaution hinterlegen.

Am Ende einer Kette

Die geplanten Lockerungen betreffen das sogenannte Entsendesystem: Angestellte aus der EU arbeiten demnach für eine befristete Zeit in der Schweiz, bleiben aber weiterhin im Heimatland angestellt, wo sie auch Sozialabgaben entrichten. Bisher sollten die «flankierenden Massnahmen» sicherstellen, dass mit der Entsendung keine Schweizer Standards unterlaufen werden. Doch über die geplante Rechtsangleichung an die EU würde dieser Schutzschirm löchrig werden.

«Die Entsendung ist heute schon eine der prekärsten Arbeitsformen überhaupt», sagt Lampart. So wurde jeder fünfte kontrollierte Entsendebetrieb im Jahr 2023 beim Lohndumping erwischt. Jährlich sperrt die Schweiz fast tausend Firmen, die sich nicht an die Regeln halten. Und die Kurzeinsätze in der Schweiz werden immer beliebter: Über 270 000 meldepflichtige Kurzaufenthalter:innen wurden 2023 registriert, sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Es ist eine Arbeitsmigration, die in den Zuwanderungsstatistiken nicht auftaucht. Lampart befürchtet, dass sie mit den geplanten Lockerungen stark zunehmen wird.

Dabei steht die Schweiz am Ende einer langen Kette. Diese beginnt in der Slowakei oder in Kroatien, wo Arbeiter:innen aus Drittstaaten über den Entsendemechanismus ins Land geholt werden, etwa Bauarbeiter aus Bosnien oder Pfleger:innen aus Nepal. Slowakische Angestellte wiederum werden von ihren Firmen nach Deutschland geschickt, weil dort aus ihrer Arbeitskraft mehr Profit rauszuholen ist; deutsche Arbeiter:innen landen schliesslich in der Schweiz.

Hochmobile Ausbeutungsgebilde

Das System dreht immer schneller. Die Zahl der entsandten Arbeiter:innen in der EU hat sich zwischen 2012 und 2022 auf 4,6 Millionen verdreifacht – fast zwei Prozent der erwerbstätigen EU-Bevölkerung. Und zwar vor allem in Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen sowieso schon miserabel sind: im Transportwesen, auf dem Bau, in der Privatpflege.

Wie mühevoll es ist, das dem Entsendesystem eigentlich zugrunde liegende Prinzip von «gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» durchzusetzen, zeigt sich etwa in Deutschland, wo die im Vergleich zur Schweiz laxeren EU-Regeln gelten. «Es ist relativ einfach, Löhne zu drücken», sagt Stephanie Sperling von der Fachstelle Faire Mobilität. Diese wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund betrieben und bietet rechtliche Beratungen für entsandte Arbeiter:innen an.

Im Fokus steht neben dem Bau vor allem der Transportsektor. Weil in der EU keine Voranmeldepflicht besteht, hinken die Kontrollen immer einen Schritt hinterher. Die Berater:innen von Faire Mobilität verbringen deshalb viel Zeit auf Autobahnrastplätzen, sprechen mit Chauffeuren aus Kasachstan, die über polnische Firmen in Deutschland gelandet sind, schauen sich die Fahrtenbücher an, werten Daten aus (siehe WOZ Nr. 16/23). «Es ist eine extrem aufwendige Arbeit», sagt Sperling.

Die Anstellungsbedingungen seien oft so kompliziert, dass ausstehender Lohn kaum einzutreiben sei. Zuletzt war die Fachstelle Faire Mobilität vermehrt auf deutschen Baustellen unterwegs, wo Glasfaserkabel verlegt werden – und wo sich Missbräuche häuften. «Oft haben wir mit Arbeitern gesprochen, die nicht mal wussten, wer ihr Chef ist», sagt Sperling. Wenn die Behörden dann endlich auf Missstände reagierten, sei das Bauteam schon weitergezogen. Hochmobile Ausbeutungsgebilde in den föderalen Strukturen des Bundesstaats.

Entsprechend hält es Sperling für einen Fehler der Schweiz, Instrumente wie die Voranmeldung, die Kautionspflicht und die Dienstleistungssperre aufzugeben oder abzuschwächen. Die Position wird vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) gestützt, der die EU-Parlamentarier:innen in einem «Call to Action» anhielt, den Schweizer Lohnschutz zu verteidigen.

Angst vor der Konkurrenz

Support für diese Position kommt indes auch vom Gewerbe. Christoph Buser, Direktor der Baselbieter Wirtschaftskammer, schrieb Ende November gemeinsam mit Unia-Präsidentin Vania Alleva einen offenen Brief an den Bundesrat, in dem beide eindringlich vor der Aufweichung des Lohnschutzes warnen. Buser weiss, wovon er spricht: In seinem Kanton hat das Seco im vergangenen Sommer einen Pilotversuch durchgeführt. Die Voranmeldefrist für Entsendungen in die Schweiz wurde von acht auf die geplanten vier Tage gesenkt.

Die Ergebnisse aus dem Versuch sollten auch in die Verhandlungen mit der EU einfliessen. «Die These des Seco war, dass das keinen grossen Einfluss hat», sagt Buser. Die Praxis habe dann schnell gezeigt, dass die Auswirkungen gravierend seien: Oft vergingen drei Tage, bis die Kontrollbehörden von den zuständigen Stellen überhaupt über eine Entsendung informiert wurden. «Eine wirksame Kontrolle kann nicht in einem Tag organisiert werden», klagt Buser. Er befürchtet, dass mit der geplanten Lockerung «das gesamte bisherige Kontrollsystem untergraben wird – mit verheerenden Folgen für die Löhne und Arbeitsbedingungen in der Schweiz».

Aus den drastischen Worten des Baselbieter Gewerbedirektors spricht auch die Angst, dass die Firmen in seinem Kanton nicht mehr mit der Konkurrenz aus dem grenznahen Ausland mithalten können, wenn Schweizer Standards unterlaufen werden. Er erwartet, dass das Seco nun wirksame Massnahmen vorschlägt, um die Kontrollwirkung zu gewährleisten. Doch das Staatssekretariat regt sich bislang nicht. Auch der Bericht zum Pilotprojekt in Baselland liegt unveröffentlicht in der Schublade. Er werde «gegen Ende dieses Winters» erhältlich sein.