Ukraine: Wie viel Geschichte erträgt eine Stadt?

Nr. 3 –

Welche Statue und welcher Strassenname dürfen bleiben, welche nicht? In der ukrainischen Hafenstadt Odesa ist die Debatte über den Umgang mit dem kulturellen Erbe neu entflammt.

eine Skulptur von Katharina die Grosse in einem Unterstand
Weggesperrt: Katharina die Grosse, für viele ein Symbol des russischen Imperialismus.

Fast trotzig prangt der kurze Satz «Wir arbeiten» neben dem Eingang zum Kunstmuseum in Odesa. Das Gebäude dahinter wirkt mit seinen mit Sperrholz vernagelten Fenstern und dem Stacheldraht am Tor auf den ersten Blick verschlossen. Der Wärter, der sich als Oleksandr vorstellt, geht langsam über den Platz vor dem Museum, vorbei an einem hüfthohen Labyrinth aus Büschen mit einem Vogelbad in der Mitte und einer letzten dunkelroten Rose, die sich kurz vor Wintereinbruch noch einmal nach oben streckt. Auch an diesem Tag sind kaum Besucher:innen da.

Beinahe drei Jahre Krieg haben auch der Kultur- und Kunstwelt der Ukraine zugesetzt. Vor einem Jahr schlug direkt neben dem Museum eine russische Rakete ein. Die Explosion hat überall an der altrosa Fassade ihre Spuren hinterlassen. Auch die Dellen in den Seitenwänden des anthrazitfarbenen Containers, der direkt davor steht, als hätte ihn dort jemand vor langer Zeit vergessen, stammen von der Druckwelle.

Oleksandr hievt die Steinplatte beiseite, die die Tür des Containers versperrt, worauf sich diese mit einem lauten Quietschen öffnet. Was sich dahinter verbirgt, entlockt dem Wärter einen argwöhnischen Blick und lässt ihn auch etwas ratlos zurück. Vor ihm, seitlich auf dem Boden, liegt die drei Meter hohe Statue von Katharina der Grossen, der stolzen russischen Zarin, die im 18. Jahrhundert lebte und heute für viele in der Ukraine ein Symbol für den russischen Imperialismus ist, von dem man sich befreien will. Die Zarin hält ein Dokument in der Hand, das den Auftrag zum Bau des Hafens und der Stadt Odesa erteilt. «Sie schläft jetzt wahrscheinlich», sagt der Wächter nach einer kurzen Pause und zuckt mit den Schultern.

Seit Beginn der russischen Vollinvasion haben ukrainische Bürger:innen im ganzen Land Statuen und Denkmäler entfernt, die an russische Herrscher:innen erinnern. «In Odesa trauern nur wenige um Katharina die Grosse», sagt Waleria Schewtschenko, die Sprecherin des Museums, über die Statue, die im Dezember 2022, im ersten Kriegsjahr, gestürzt wurde. «Das Denkmal ist ohnehin eine Kopie des Originals aus den 1990er Jahren und daher nicht besonders wertvoll.»

Doch langsam stellt sich die Frage, was mit den Relikten aus der Zeit vor der russischen Invasion passieren soll. «Das Museum ist nicht Eigentümer der Statue, sie wurde einfach abgegeben, und seitdem lagern wir sie», sagt Schewtschenko. Mehr könne sie dazu nicht sagen. Vielleicht wird Katharina eines Tages gemeinsam mit anderen Symbolen des russischen Imperialismus ausgestellt. Oder man wird sich ihrer entledigen.

das Kunstmuseum von Odesa
Trotz der verbarrikadierten Fenster: Das Kunstmuseum von Odesa ist geöffnet.

Dichter werden abgeräumt

Lange wollte sich niemand mit Fragen des kulturellen Erbes beschäftigen. Auf den Schock der Invasion folgten der zivile Widerstand, die humanitäre Hilfe und der Einsatz an der Front in der Hoffnung, den Krieg zu gewinnen. Nun rückt schon der dritte Jahrestag des Kriegsbeginns näher. Doch immer mehr Bewohner:innen der Hafenstadt fragen sich, wie sie mit ihrer eigenen Geschichte umgehen sollen.

Die Debatte über das historische Erbe Odesas wurde vor einigen Monaten neu entfacht, als die Regionalverwaltung im Juli 2024 ankündigte, dass weitere neunzehn Statuen aus der Stadt entfernt werden sollten, darunter die des russischen Dichters Alexander Puschkin, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einige Wochen hier lebte.

Dass auf der Liste auch die Statue des in Odesa geborenen jüdischen Schriftstellers Isaak Babel steht, der zu Lebzeiten in Russland und der gesamten Sowjetunion berühmt wurde, sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, erklärt Anastasia Piliavsky. Sie lehrt Anthropologie und Politikwissenschaft am King’s College in London und pendelt zwischen den beiden Städten. Die aktuelle Entwicklung beschreibt sie als besorgniserregend.

Portraitfoto von Anastasia Piliavsky
Die «patriotische Vision» sei einengend, sagt Anastasia Piliavsky. Foto: Privat

«Odesa hat eine sehr stolze Kulturgeschichte, und es ist Unsinn, die russische Sprache mit russischer Identität gleichzusetzen», sagt Piliavsky. Die 43-Jährige ist eine der Autorinnen eines Appells an Audrey Azoulay, die Generaldirektorin der Unesco. Die Organisation, die die Altstadt von Odesa 2023 in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen hat, wird darin aufgefordert, Präsident Wolodimir Selenski dazu zu drängen, Entscheidungen über den Umgang mit dem kulturellen Erbe von Odesa bis zum Ende des Krieges aufzuschieben.

In dem offenen Brief wird Odesa als Schmelztiegel der Kulturen bezeichnet. Die Entfernung der Statuen würde das architektonische Ensemble der Altstadt gefährden. Wenn man Piliavsky fragt, sieht ein grosser Teil der Einwohner:innen die Situation genauso wie sie und die übrigen 152 Unterzeichner:innen. Die Antwort der Unesco war kurz: Sie würden sich mit den Behörden in Verbindung setzen.

Piliavsky selbst erhielt nach der Veröffentlichung des Briefes Hunderte von Nachrichten, in denen sich Menschen dafür bedankten, dass sie endlich laut ausgesprochen hatte, was viele zuvor nur für sich gedacht hatten. «Die meisten Menschen haben Angst, sofort als prorussisch oder als Kollaborateure abgestempelt zu werden, und halten sich deshalb zurück», sagt sie.

Doch die Kritik liess auch nicht lange auf sich warten. Im ukrainischen öffentlich-rechtlichen Sender Suspilne etwa sprachen Schriftsteller:innen und Intellektuelle von russischer Propaganda, die wieder einmal und ausgerechnet in Odesa verbreitet werde. Und die Gemässigten fragten, warum man sich mit einem Brief an die Unesco habe wenden müssen und nicht den gesellschaftlichen Dialog gesucht habe. Genau das aber, so Piliavsky, sei in der heutigen Ukraine kaum möglich.

«Die patriotische Vision in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion lässt nur sehr wenig Raum für andere Stimmen», sagt sie. Das gelte auch für die Frage der Sprache. Ihre eigenen Erfahrungen zeigten, dass viele Menschen in Odesa immer noch Russisch sprächen, sagt Piliavsky, und nur in offiziellen Situationen, insbesondere bei der Arbeit, sprächen sie Ukrainisch. «Seltsamerweise wird Russisch zu einer Sprache für private Angelegenheiten, wenn man sozusagen unter sich ist», sagt Piliavsky, die wie die meisten Menschen, die in Odesa aufgewachsen sind, beide Sprachen spricht, aber normalerweise eine Kombination aus Russisch und Ukrainisch verwendet, ­«Surschyk» genannt.

Laokoon-Gruppe vor dem Rathaus, welche mit Sandsäcken und Stahlblechen eingepackt ist
Gut geschützt gegen den Krieg: Laokoon-Gruppe vor dem Rathaus.

Auftritt der Sprachpolizei

Auch Kateryna Musienko dachte einst wie Piliavsky: dass die beiden Sprachen und Kulturen nebeneinander existieren könnten. «Aber wenn mich heute noch jemand auf Russisch anspricht, ist das für mich das grösste Alarmsignal», sagt die 28-Jährige, während sie mit einem Kaffeebecher in der Hand durch die Altstadt von Odesa spaziert und sich fast heiser ruft, um den Lärm der Stromgeneratoren zu übertönen, die vor fast jedem Hauseingang brummen.

Nach Beginn der russischen Vollinvasion gründete Musienko eine NGO, deren Name auf Deutsch übersetzt «Wir machen euch nervös» bedeutet. Diese will sicherstellen, dass im öffentlichen Raum, wie gesetzlich vorgeschrieben, auf Schildern und in Restaurants die ukrainische Sprache verwendet wird. Wer feststellt, dass irgendwo Russisch in Gebrauch ist, kann die Adresse über einen Chatbot melden. Musienko oder die anderen Sprach­­aktivist:innen rufen dann dort an oder gehen hin und bitten um eine Änderung der Beschriftung.

Portraitfoto von Kateryna Musienko
Gegen Russisch im öffentlichen Raum: Kateryna Musienko.

«Wir sind dabei höflich», betont Musienko. «Manchmal sagen uns die Leute, dass sie es nicht besser gewusst hätten, und ändern es nach einer Weile, damit sind wir zufrieden. Aber wenn sie sich weigern, schreiben wir natürlich den Antrag an den Sprachombudsmann.» Die Geldstrafen reichten von umgerechnet 80 bis 300 Franken im Wiederholungsfall, sagt Musienko, und seien damit bei weitem nicht hoch genug: «Die Geldstrafen müssen wehtun.»

Sie selbst bezeichnet ihre Haltung als gesund in einem Angriffskrieg, in dem der Aggressorstaat die Existenz ihres Landes und ihrer Kultur zerstören wolle. Viele hätten das noch immer nicht verstanden. Musienko bleibt vor dem Rathaus stehen und zeigt auf die Puschkin-Statue direkt vor dem Eingang: unbedeckt und sehr «in your face», wie Musienko wütend sagt. «Hoffentlich erlebt er seine letzten Tage.»

Umfragen auf Telegram

Der wegen seiner Verwicklung in Korruptionsskandale umstrittene Bürgermeister von Odesa, Hennadij Truchanow, positioniert sich nicht eindeutig zur Frage nach dem Umgang mit dem kulturellen Erbe. Ein Interview mit der WOZ kurz vor Weihnachten sagte er wegen der festlichen Einweihung eines Weihnachtsbaums ab. Doch in einer knapp achtminütigen Videobotschaft Ende Juli 2024 kritisierte er den Plan der Regionalregierung, Strassen in der Stadt umzubenennen: «Nach der Logik der ‹Entkolonialisierer› sollten wir alles aufgeben, was Odesa zu einer globalen Marke gemacht hat», sagte Truchanow damals. «Einfach ausgedrückt wird dies unsere Stadt ‹annullieren›.» Und eines scheint klar: Für diese Einstellung wird es in Odesa auch in Zukunft eine Wähler:innenschaft geben.

Zwar sind Wahlen in Kriegszeiten unmöglich, und viele Meinungsumfragen schliessen Teile der Gesellschaft aus – diejenigen, die an der Front kämpfen, diejenigen, die geflohen sind, oder diejenigen, die unter russischer Besatzung leben. Doch auch Truchanow machte sich jüngst eine unter Politiker:innen in der Ukraine beliebte Methode zunutze: jene der Umfragen auf dem Nachrichtendienst Telegram. «Wie Sie sehen können, haben 95 278 gegen die Umbenennung gestimmt und 93 641 dafür», schrieb er auf seinem Kanal. Das Ergebnis ist zugegebenermassen unwissenschaftlich. Doch selbst in diesem Fall zeigt sich, dass die Meinungen in Odesa stark auseinandergehen.

Im Frühsommer 2024 präsentierte die öffentliche Organisation «Entkolonialisierung. Ukraine» eine aktualisierte Karte der Strassen, die gemäss dem seit 2023 geltenden «Gesetz über Entkommunisierung und Entkolonialisierung» umbenannt werden sollen. Dieses Gesetz, das den «ukrainischen Kulturraum» schützen soll, sieht nicht nur die Entfernung von Statuen vor, sondern auch die Umbenennung von Strassen, Plätzen und U-Bahn-Stationen. Landesweit sind es Tausende, die meisten davon befinden sich in den Oblasten Saporischschja, Winnyzja, Odesa und Charkiw. Am wenigsten Umbenennungen gibt es in den westukrainischen Gebieten Ternopil, Lwiw und Iwano-Frankiwsk.

Im Jahr 2024 wurden allein in Odesa mehr als hundert Strassen umbenannt. Eine eigens eingerichtete Expert:innenkommission hatte dazu die historischen Namen von Strassen und Plätzen aus der Zeit vor der Sowjetunion recherchiert, um herauszufinden, warum sie wann so benannt wurden, wie die historischen Namen früher lauteten und ob sie einfach wegen der Sowjetunion geändert wurden. Die Kommission entscheidet dann, ob ein Name laut Gesetz geändert werden muss. So wurde die zentrale Puschkinstrasse im Juli 2024 zur «Italienischen Strasse» – zumindest auf dem Papier. An den Häuserfassaden hängen noch die alten Strassenschilder.

Altstadt von Odesa
Altstadt von Odesa: Was bleibt vom Weltkulturerbe, wenn das russische Erbe verschwindet?

Armeesouvenirs statt Puschkin

«Es ist so viel einfacher, etwas zu zerstören, als etwas aufzubauen», sagt Alla Nirscha, die 69-jährige Direktorin des Puschkin-Museums in Odesa. Ein einfaches Schild mit der Aufschrift «Museum» weist den Weg in einen Innenhof, der Name des Schriftstellers ist verschwunden. Sie würde das Museum gerne zeigen, von dem sie hofft, dass es auch in Zukunft einen Platz in Odesa haben wird. Doch an diesem Tag lasse sich wegen erneuter Stromabschaltungen der elektronische Türcode nicht eingeben. «Es ist eine schlechte Entscheidung, alles umzubenennen», sagt Nirscha. Nichts sei mehr so, wie es gewesen sei.

Ein paar Meter vom Museum entfernt, im selben Hof, hat kürzlich ein Souvenirladen der ukrainischen Armee eröffnet, in dem unter anderem Aufkleber mit der brennenden Basiliuskathedrale auf dem Roten Platz in Moskau verkauft werden. Er selbst könnte jeden Tag einberufen werden, sagt ein junger Verkäufer, und wenn das passiere, werde er sein Land verteidigen, genau wie viele andere junge Männer. Eben deshalb habe er weder die Zeit noch Lust, über Puschkin oder das kulturelle Erbe der Stadt nachzudenken oder zu diskutieren.

Iwan Liptuga dagegen, der seit Jahren die Abteilung für Kultur, internationale Zusammenarbeit und europäische Integration im Stadtrat von Odesa leitet und für Tourismus und das Stadtmarketing zuständig ist, gibt sich pragmatisch. «Wir müssen niemandem beweisen, dass wir in Odesa patriotisch genug sind», sagt der 45-Jährige. «Aber wir müssen aufhören, so zu tun, als wären alle Gebiete in der Ukraine wie im Westen, wie Lwiw oder Transkarpatien.»

Liptuga, der einen Anzug, eine Krawatte und gegeltes Haar trägt, bittet um ein Treffen in einem eleganten Geschäftszentrum in der Nähe des Puschkin-Museums. Er vergleicht Odesa mit Städten in Italien: «Unsere Geschichte ist reichhaltig, und die Beseitigung aller Symbole in dieser Gegend bedeutet, dass ein Teil unserer Geschichte verloren geht.» Während die meisten Menschen in Odesa kein Ende des Krieges sehen und die unzähligen Luftangriffe auf die Stadt weiterhin viel Energie rauben, denkt Liptuga an die Tourist:innen, die die Stadt hoffentlich bald wieder besuchen werden.

«Ich verteidige Puschkin nicht. Mir ist klar, dass die Russische Föderation, die jetzt als Aggressor auftritt, ihn als Waffe benutzt, um dem Rest der Welt zu sagen, dass die russische Kultur schützenswert ist», sagt er. «Aber Puschkin hat hier gelebt, er hat über Odesa geschrieben, er war der berühmteste Dichter seiner Zeit. Er hat Odesa berühmt gemacht und viele andere Generationen von Schriftstellern inspiriert.» Liptuga erwähnt eine weitere Statue, die nicht entfernt werden sollte, nämlich die des Schriftstellers Isaak Babel. Die Errichtung des Denkmals wurde teilweise von dem in Odesa ansässigen Unternehmen Plaske finanziert, bei dem Liptuga zu jener Zeit Vizepräsident war.

Das Herz und der Anker

«Die Leute sind immer schnell dabei, über Veränderungen oder die Entfernung von Dingen zu sprechen», sagt er. «Aber wie viel Arbeit das alles macht, wie schwierig es ist, eine globale Marke aufzubauen und Mittel für die Kultur zu beschaffen, ist vielen nicht klar.» Am Revers seiner Jacke befindet sich eine Anstecknadel mit dem Stadtlogo von Odesa – einem Anker mit einem Herzen. Der Anker geht auf ein Projekt zurück, an dessen Gestaltung er mitgewirkt hat – und das ihm seit Beginn der russischen Invasion viel Kritik eingebracht hat. 2012 hatte Liptuga, der Miteigentümer der Markenrechte ist, die Kyjiwer Niederlassung der Designagentur «Studio of Artemis Lebedev» damit beauftragt, das Logo zu entwerfen. Deren Besitzer, der russische Designer Artemiy Lebedev, ist heute als putintreu bekannt.

«Vor Kriegsbeginn 2014 im Donbas waren die meisten unserer Tourist:innen und Geschäftspartner Russen», sagt Liptuga. Er sieht keinen Grund, das Logo zu ändern. Es zeige einfach ein Herz und einen Anker, Symbole der Liebe und des Hafens. Für andere spiegelt es eine Gratwanderung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft der Stadt wider.

Mitarbeit: Oleksandr Naselenko.

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