Geflüchtete in Lwiw: Die ganze Stadt ist ein grosses Lager

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Immer mehr Menschen aufnehmen und sich zugleich für den Krieg wappnen: Die westukrainische Stadt Lwiw ist seit Wochen im Ausnahmezustand. Längst wurden Theater, Stadion und Reisebüros entsprechend umfunktioniert.

Schlafsaal, Ess- und Fernsehzimmer: Der Weg ins sichere Ausland führt für viele Ukrainer:innen durch das Theater Les Kurbas in Lwiw. Foto: Vitaly Hrabar, Keystone

Mit Kriegsbeginn ist aus dem kleinen Jugendstiltheater Les Kurbas inmitten von Lwiw ein Aufnahmezentrum für Geflüchtete geworden: Matratzen liegen auf dem Boden, mitten im Zuschauerraum steht ein Esstisch, und in den Garderoben der Schauspieler:innen stapeln sich Kleidung, Decken und Artikel des täglichen Bedarfs. «In der momentanen Situation konnten wir nichts anderes tun», sagt Andrei Woidjehew, ein Schauspieler des Theaters, der sich jetzt als freiwilliger Helfer um die Aufnahme und die Weiterreise der Menschen kümmert.

Ein Tor nach Westen

Das 760 000 Einwohner:innen zählende Lwiw liegt im Westen des Landes, rund sechzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Die Stadt wurde bisher nur sporadisch von russischen Bomben getroffen, aber ihre Lage ist strategisch überaus wichtig, denn über Lwiw fliehen Tausende aus allen Regionen der Ukraine ins Ausland. Über vier Millionen Menschen haben das Land bereits verlassen, und die Zahl der Binnengeflüchteten beläuft sich nach Angaben der Vereinten Nationen auf zehn Millionen. Seit dem 24. Februar hat sich das von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärte Lwiw in ein Geflüchtetenlager unter freiem Himmel verwandelt.

In der Stadt ist das normale Leben fast ganz zum Erliegen gekommen. Alle Anstrengungen richten sich darauf, die zahlreichen Geflüchteten aufzunehmen, während gleichzeitig Massnahmen zur Abwehr möglicher russischer Angriffe getroffen werden. «Die Menschen, die aus Kiew, Charkiw oder Mariupol zu uns kommen, sind tief verängstigt und müde, viele von ihnen waren tagelang bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt unterwegs», erklärt Woidjehew. Die meisten würden ein paar Tage im Theater bleiben und dann weiterfliehen.

Olga ist gerade erst mit ihrem Ehemann und den zwei Töchtern im Alter von sechzehn und vier Jahren aus Charkiw im Les Kurbas angekommen. «Wir harrten tagelang in Luftschutzbunkern unter der Erde aus», erzählt sie, während sie der Vierjährigen erwas zu essen gibt. «Ab dem zweiten Tag mit Bombenalarm haben wir uns unter der Erde versteckt. Denn uns wurde klar, dass es in der ganzen Stadt keinen sicheren Fleck mehr gibt. Wir hatten Todesangst. Einmal sind wir noch zurück nach Hause, haben geduscht und uns dann nur mit dem Nötigsten im Gepäck auf den Weg gemacht», beschreibt Olga die Flucht. «Ich bin noch mit nassen Haaren aus dem Haus.» Jetzt wollen sie nach Polen, wo sie hofft, Frieden und Ruhe zu finden. Ausserdem hat sie Freund:innen in Spanien, die ihrer Familie möglicherweise helfen können. Ihre Mutter und ihre Grossmutter mussten sie in Charkiw zurücklassen, denn die Neunzigjährige wäre den Strapazen der Flucht nicht gewachsen gewesen.

Auch das Stadion in Lwiw ist zu einem Aufnahmelager geworden. Im Eingangsbereich wurde eine Kantine eingerichtet, in der die Flüchtenden sich ausruhen, essen und ihre Handys aufladen können, bevor ihnen Schlafsäle zugewiesen werden. Helfer:innen verteilen Borschtsch, den typisch ukrainischen Randen-Fleisch-Eintopf. «Wir haben das Aufnahmezentrum direkt am ersten Kriegstag eröffnet. Aber mir kommt es seither vor wie ein einziger, nicht enden wollender Tag», sagt Iwanna Herus, Vizepräsidentin des Verwaltungsbezirks Lwiw, die das Zentrum leitet: «Dutzende von Freiwilligen bringen Lebensmittel und Essenspakete. Die Solidarität ist einfach unglaublich.»

Pakete für Cherson

Im Kunstpalast der Stadt befindet sich derweil das Hauptquartier für humanitäre Hilfe: Die ganze Nacht hindurch sammeln, sortieren und verteilen Hunderte von Freiwilligen Hilfsgüter aus anderen Teilen der Ukraine und aus ganz Europa. Auf dem Parkplatz stapeln sich unzählige Kartons und Stromgeneratoren. Gerade ist ein 36-Tonnen-Lkw angekommen. «Gestern sind fünfzig Busse voller Hilfsgüter von hier abgefahren: vierzig Tonnen Pakete für Odessa und etwa zehn Tonnen für Cherson und Kiew», erklärt der Direktor Juri Wyzniak.

Nur zwei oder drei Stunden nach Beginn der ersten Bombenangriffe hat Wyzniak Ende Februar hier die Arbeit aufgenommen. In der Haupthalle des 9000 Quadratmeter grossen Gebäudes herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Alle scheinen ihre Aufgabe genaustens zu kennen. Es ist ein mittlerweile eingespieltes System: Medikamente werden im Keller gelagert, Lebensmittel im Erdgeschoss; in den ersten Stock, den Konzertsaal, kommen Kleidung und Spielsachen für Kinder, der zweite ist für Babysachen bestimmt.

In der Kirche der Heiligen Apostel Peter und Paul in der Altstadt ist Militärpfarrer Roman Mentuch für das Sammeln von Spenden für Soldat:innen zuständig. «Wir erleben hier sehr bewegende Momente», sagt Mentuch. «Besonders wenn ältere Menschen kommen und klar wird, dass sie wirklich ihr gesamtes Hab und Gut zu uns bringen.» Die Kirche nehme alles an, «ausser Waffen», fügt der Geistliche hinzu.

Eine historische Entscheidung

Am 3. März beschlossen die 27 EU-Staaten einstimmig, die Richtlinie Nummer 55 aus dem Jahr 2001 anzuwenden. Sie macht es möglich, ukrainischen Geflüchteten vorübergehend Schutz zu gewähren, erlaubt diesen, zu arbeiten und sich frei zu bewegen. Es ist eine historisch einmalige Entscheidung. Bisher hat die EU noch nie auf diese nach dem Balkankrieg eingeführte Notfallrichtlinie zurückgegriffen. Nicht einmal 2015, als während der sogenannten Flüchtlingskrise eine Million Syrer:innen nach Europa kamen.

Daria Iliktschiewa, eine der im Stadion untergebrachten Geflüchteten, sagt, sie sei erleichtert, ohne Probleme in die EU reisen zu können. Sie wartet hier darauf, dass ihre Schwester nachkommt, um gemeinsam mit ihr weiter nach Polen zu fahren. «Mein Traum ist es, weiter Gesang studieren zu können und gleichzeitig zu arbeiten», sagt Iliktschiewa, «um meine Eltern zu unterstützen. Sie sind bei den für eine Flucht zu alten Grosseltern in Kiew geblieben.» Daria Iliktschiewa liebt Musik und hat bei der Talentshow «X Factor Ukraine» mitgemacht. Ein Musikinstrument konnte sie nicht mitnehmen, als sie floh. Aber sie zeigt auf dem Handy stolz Videos ihrer Fernsehauftritte.

Vor dem Bahnhof stehen Zelte des ukrainischen und des polnischen Roten Kreuzes, in denen Hilfsgüter verteilt werden. Zwei junge Pianisten spielen die ukrainische Nationalhymne auf einem Klavier, das vor dem Bahnhof aufgestellt wurde, um den vielen Tausenden, die hier Schlange stehen, die Wartezeit zu verkürzen.

Checkpoints und Sandsäcke

Doch gleichzeitig bereitet sich die Stadt auf den Krieg vor. Checkpoints wurden errichtet und Sandsäcke verteilt. Um die wichtigsten Gebäude sind Barrikaden aufgestellt, Kirchenfenster mit Holzlatten gesichert, Statuen verhängt. Auch die Geschäftsleute helfen in dieser Notlage: So wurde etwa in einem Reisebüro eine Sammelstelle für Güter des täglichen Bedarfs eingerichtet. «Wir hatten keine Arbeit mehr», erzählt Wictoria Bilac, «also haben wir angefangen, uns auf das vorzubereiten, was passieren wird, und gleichzeitig den Flüchtenden zu helfen.»

Bis vor ein paar Tagen war Bilac als Reiseleiterin tätig und organisierte Stadtführungen durch Lwiw. Nun leistet sie ehrenamtlich Hilfe und schneidet Stoffe zu, aus denen Tarnungen für Checkpoints und Panzer der ukrainischen Armee hergestellt werden sollen. «Die Situation ist wirklich schlimm. Und wegen des Lärms des Bombenalarms und der ständigen Angst haben wir seit Beginn des Krieges kaum geschlafen», sagt sie.

Auch Oleksandr Olesiuk war bis vor kurzem Reiseleiter. Er begleitete ukrainische und ausländische Tourist:innen auf Reisen in die Karpaten. Jetzt beherbergt er drei Geflüchtete aus Kiew bei sich zu Hause. «Es gibt keine Betten mehr in der Stadt, selbst Hotelzimmer sind nur noch schwer zu finden.» Wie er haben daher viele Einwohner:innen ihre Wohnungstüren für die Flüchtenden geöffnet.

Die Helfer:innen stehen über Telegram- und Facebook-Gruppen miteinander in Kontakt, und wenn jemand kurzfristig eine Unterkunft benötigt, helfen alle bei der Suche. «Aktiv zu bleiben, hilft mir dabei, nicht über das nachzudenken, was hier gerade passiert», erklärt Olesiuk. «Etwas für die Menschen zu tun, die vor den Bomben fliehen, gibt mir das Gefühl, nützlich zu sein. Aber wenn ich Anrufe aus dem Rest des Landes erhalte, ist es einfach nur schrecklich.»

Aus dem Italienischen von Elke Mählmann.