Enis Maci: Scharf stellen in die Nähe und auch in die Ferne

Nr. 5 –

Eine Welt, die haften bleibt: Enis Maci über Karl May, die Liebe und das älteste Lebewesen der Welt.

Portraitfoto von Enis Maci
«Ich glaube nicht, dass die Kunst da ist, um etwas zu erreichen»: Die Schriftstellerin Enis Maci. Foto: Max Zerrahn

WOZ: Enis Maci, letzten Frühling haben Sie gemeinsam mit Mazlum Nergiz den Essay «Karl May» veröffentlicht. Wieso Karl May? Was gibt es über ihn denn noch zu erzählen?

Enis Maci: Wenn in den letzten Jahren von Karl May die Rede war, dann vor allem als Chiffre für das vermeintlich Verbotene, für das, was man wider den Zeitgeist unbedingt noch sagen können will. Ihn angreifen heisst an einem Mythos sägen, heisst Kindheiten infrage stellen, mehr noch: ein ganzes Land, wie es niemals war, vom Kaiserreich bis in die alte BRD. Mays Biografie bietet dabei viel Verführerisches: ein kleinkrimineller Hochstapler, der zum erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Sprache wird, der sein Überlebensprinzip zum Schreibprinzip macht.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Enis Maci: May wurde 1842 in eine bitterarme Weberfamilie im heutigen Sachsen geboren, in Verhältnisse, also, wie man sie aus Heinrich Heines Gedicht «Die schlesischen Weber» kennt. Menschen, die prekäre, scheinselbstständige Arbeit leisten. Wie heute bei Lieferando zum Beispiel.

Enis Maci: Durch verschiedene Betrügereien landet May im Gefängnis, bricht aus, gibt sich als Arzt oder karibischer Plantagenbesitzer aus, wird wieder eingebuchtet. Und irgendwann verlegt er sein Verfahren – sich als ein anderer auszugeben – in die Literatur. So rettet er sich.

Romandebüt und Essay

Die Dramatikerin, Essayistin und Romanautorin Enis Maci ist 1993 in Gelsenkirchen geboren. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem 2022 mit dem Max-Frisch-Förderpreis der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2018 ist ihr Essayband «Eiscafé Europa» im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Im letzten Jahr publizierte Maci gleich zwei Bücher: Ihr Romandebüt «Pando» ist in gemeinsamer Autor:innenschaft mit Pascal Richmann entstanden. Der Liebes- und Abenteuerroman navigiert durch Zeit und Raum und ergründet so, wie die Gegenwart eigentlich zustande kommt.

Den Essay «Karl May» hat Maci zusammen mit Mazlum Nergiz geschrieben. Er folgt dem gleichnamigen Theaterstück der beiden Autor:innen, das 2023 an der Volksbühne Berlin uraufgeführt wurde. Maci und Nergiz legen vergangene wie auch gegenwärtige Phänomene rund um Mays Biografie und die Rezeptionsgeschichte frei. Dem Buch ist ein per QR-Code abrufbarer Soundtrack von Maximilian Weber unterlegt.

Enis Maci und Pascal Richmann: «Pando». Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2024. 206 Seiten.

Enis Maci und Mazlum Nergiz: «Karl May». Edition Suhrkamp. Berlin 2024. 200 Seiten.

WOZ: Indem er behauptet, die von ihm erzählten Abenteuer selbst erlebt zu haben?

Enis Maci: May bestand tatsächlich darauf, dass die Erlebnisse Old Shatterhands oder Kara Ben Nemsis seine eigenen gewesen seien, dass es sich bei seinen Romanen im Grunde um Autofiktion handelte. Das war natürlich gelogen. Über einiges aber schrieb er die Wahrheit auf – weil er so ein Recherchefreak war. Er konsultierte Atlanten und Geschichtsbücher, Bestseller genauso wie obskure Texte. Deswegen geben seine Bücher Aufschluss über das, was im Europa des 19. Jahrhunderts der Wissens- und Meinungsstand war. Uns hat nicht interessiert, ob diese Perspektiven heute noch so klargehen – tun sie nicht – oder ob sie in weiten Teilen rassistisch sind – sind sie. Viel spannender fanden wir: Wie sind diese Werke entstanden? Und was ist aus ihnen nach May geworden? Wie wurden sie rezipiert? Und welche Sehnsüchte bedienen sie?

WOZ: Auf welche Antworten sind Sie gekommen?

Enis Maci: Es geht um eine Vorstellung vom Fremden, die ja letztlich die Vorstellung vom Eigenen meint. Mays Wildwestromane sind durchzogen von Gewalt, von Landnahmen und Vernichtungskampagnen. Weite Landschaften, die Schrecken in sich bergen, Gewalt, die verschwiegen wird. Und das passt natürlich zum Deutschland der Nachkriegszeit, als die «Winnetou»-Verfilmungen produziert wurden. Sie sind doppelte Heimatfilme, denn der Western ist ja der amerikanische Heimatfilm – und im Heimatfilm geht es um Erzählungen, die Sicherheit versprechen. Die Versehrung wird verdrängt, Geschichte entstellt. Das Fremde ist blosse Deko.

WOZ: May hat nicht nur Westerngeschichten geschrieben, sondern auch den «Orientzyklus» veröffentlicht – eine Reihe von Romanen, die zwischen 1881 und 1888 als Reiseerzählungen erschienen sind. Sie schreiben im Essay, dass er Kurdistan darin als Projektionsfläche für seine Helden nutzte. Was ist damit gemeint?

Enis Maci: In «Durchs wilde Kurdistan» begeistert sich der Erzähler für die Jesiden. Deren Überlebenskampf gegen die osmanische Verfolgung markiert er als aussergewöhnlich heldenhaft. Trotzdem müssen auch sie letzten Endes vom deutschen Helden gerettet werden. Andererseits hasst May die Armenier regelrecht, artikuliert sogar den Wunsch, sie mögen vernichtet werden. Diese extremen Betrachtungsunterschiede lassen sich auch auf die Quellen zurückführen, die er verwendet. Betreffs der Armenier sind das deutsche Texte, die wiederum osmanische Positionen spiegeln. In ihnen ist der sich anbahnende Genozid im Grunde schon enthalten. Von den Jesiden erfährt er vermutlich im Reisebericht Austen Henry Layards, der selbst einen Angriff gegen die Gemeinschaft auf dem Dschabal Sindschar bezeugt hatte. Es wird also differenziert zwischen denen, die das Leben verdient haben, und jenen, die besser ausgelöscht werden sollten. May spinnt bestehende Mythen weiter, und er erschafft neue, Mythos auf Mythos, und sie sind bis heute nicht totzukriegen.

WOZ: Im Essay verweisen Sie auf eine Analogie zwischen der Besiedlung des amerikanischen Kontinents und der Siedlungspolitik der Nazis.

Enis Maci: Die Eroberung des amerikanischen Westens hat die nationalsozialistische Siedlungspolitik in Osteuropa stark beeinflusst. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 beginnt die Grenzkolonisierung, die auf dem Versprechen von «Lebensraum im Osten» fusst, ganz so, als sei der «Osten» leer. Das hat eine Vorgeschichte im Kaiserreich: Weil die deutsche Bevölkerungsmehrheit Westpreussens, nicht zuletzt durch die andauernde Auswanderung nach Amerika, sehr dünn war, gab es eine Kommission, die damit befasst war, «volksdeutsche» Emigration nach Westpreussen zu ermutigen, die Preussische Wiederansiedlungskommission. So hängt die Idee Amerikas im Grunde doppelt mit dem deutschen Expansionismus zusammen. In «Karl May» haben wir versucht, diese Spuren, die die Vergangenheit gleichsam in die Zukunft legt, aufzudecken, die Zusammenhänge zwischen May und unseren eigenen Leben mit all ihren biografischen und geografischen Verstrickungen freizulegen.

WOZ: Auch in Ihrem im Herbst erschienenen Roman «Pando», den Sie mit Pascal Richmann geschrieben haben, geht es um solche Zusammenhänge.

Enis Maci: «Pando» handelt vom Schrecken der Gleichzeitigkeit. Und der Liebe, die man ihm entgegensetzen kann. Wie kommt unsere Gegenwart zustande? Und wem gehören die Mittel, mit denen sie produziert wird? Das fragen sich Hans und Reja, die Held:innen dieses Romans. Geschichte zerrinnt ihnen nicht zwischen den Fingern, sondern gerinnt auf ihren Fingerkuppen, süss und irgendwie klebrig. Die Welt haftet sozusagen an ihnen.

WOZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Enis Maci: Sagen wir, Hans fährt mit dem Fahrrad durch Berlin. Er will zum Humboldt-Forum, um sich die gestohlenen Benin-Bronzen anzusehen, bevor sie zurückgegeben werden. Und so tut sich ein Bogen auf, der ins ehemalige Königreich Benin führt, wo die Bronzen hergestellt wurden. Und woraus wurden sie hergestellt? Aus jenen Kupferringen, mit denen die Portugiesen dem Königreich Benin Versklavte abkauften, die wiederum nach Amerika verschleppt wurden. Und wo wurden diese Ringe eigentlich hergestellt? Wo hatten die Portugiesen sie her? Aus den Schmieden im Rheinland. Und was ist los im Rheinland? Aus dem Rheinland kommt Hans’ Grossmutter. Diese Zusammenhänge waren schon da, bevor wir sie erzählt haben. Wir machen sie bloss lesbar.

WOZ: Wieso haben Sie Ihren Roman eigentlich nach einem Wald benannt?

Enis Maci: Hans und Reja kaufen sich einen Honda Accord und fahren los, zu «Pando», einem Waldstück in Utah, dem ältesten Lebewesen der Welt. Seine Bäume sind unterirdisch miteinander verbunden. Sie haben dieselbe DNA: Sie sind identisch, auch wenn sie andere sind. Sie keimen, wachsen und verrotten, gleichzeitig manche, zeitversetzt andere. Was stets besteht, seit Zehntausenden von Jahren, ist das Wurzelgeflecht zwischen ihnen. Wir haben uns gefragt, ob das ginge: den Wald vor lauter Bäumen eben doch zu sehen und jeden einzelnen Stamm noch dazu. Scharf stellen in die Nähe und auch die Ferne. Das Auge kann das nicht. Die Sprache schon.

WOZ: Kann Ihre Arbeit als Form des Widerstands verstanden werden?

Enis Maci: Das finde ich schwer zu beantworten. Ich glaube nicht, dass die Kunst da ist, um etwas zu erreichen. Im Theater spricht man von der Katharsis, an die ich auch nicht glaube: die Vorstellung, der Text oder der Abend sei dazu da, um seelisch zu reinigen.

Enis Maci: Interessanter finde ich den Begriff der Apokalypsis. Man kennt ihn in der Umgangssprache als den Weltuntergang oder die Katastrophe. In seiner Wortbedeutung heisst Apokalypsis aber Enthüllung oder Offenlegung. Das beschreibt meine Arbeit gut: der Versuch, offenzulegen, was da ist.