Sherko Fatah: «Das Motiv der Suche zieht sich durch alle meine Bücher»

Nr. 19 –

Der Berliner Autor mit irakischen Wurzeln Sherko Fatah beschäftigt sich in seinen Büchern stets mit dem Irak. Ein Gespräch über Angst, Verrat, die mutterlosen Helden seiner Romane und die bilderlose Kultur des IS.

Sherko Fatah: «Ich habe die Ungleichzeitigkeit verschiedener Lebenswelten zu meinem ­erzählerischen Projekt gemacht.»

WOZ: Sherko Fatah, Anfang April berichteten die Medien, dass die irakische Stadt Tikrit von der Terrormiliz IS befreit worden sei. Was empfinden Sie bei solchen Nachrichten?
Sherko Fatah: Es ist zu früh, um zu jubeln. Es war zu erwarten, dass irgendetwas geschieht. Aber der IS ist sehr stark, und es ist schon viel, wenn die irakische Armee überhaupt etwas zurückerobert. Ich hatte, als ich das letzte Mal im Land war, nicht den Eindruck, dass sie in der Lage ist, den IS aus dem Land zu werfen.

Wann haben Sie den Irak zuletzt besucht?
Ich war im Dezember dort. Und es ist wie immer in Krisengebieten: Die Menschen müssen ihren Alltag weiterleben und tun es auch. Ich war nur ein einziges Mal in der Nähe der Front, das heisst zehn Kilometer davon entfernt. In Kirkuk war die Lage angespannt, man hatte immer Angst vor Anschlägen. In Slemani war es dagegen relativ ruhig, man musste immer nur die aktuelle Situation und die Sicherheit der Wege abklären.

Es ist kein Krieg, wie wir ihn uns vorstellen, mit Flächenbombardements, es gibt immer nur aufflackernde Gefechte, aber die gesamte Region ist elektrisiert, und man diskutiert ständig darüber. Die IS-Leute kommen, um zu sterben, das macht es so schwer, sie zu bekämpfen. Und selbst wenn sie nach Syrien zurückgedrängt würden, ist das auch keine Lösung des eigentlichen Problems.

Begleitet Sie während Ihrer Aufenthalte manchmal auch die Angst, die in Ihren Romanen ja allgegenwärtig ist?
Na ja, «Angst» ist in seiner Bedeutung ein sehr deutsches Wort. Ich würde es eher Anspannung nennen, eine Bedrohung, die nicht immer real ist. Darum geht es ja auch in meinem Roman «Ein weisses Land». Es sind künstliche Bedrohungen, die geschaffen werden, insbesondere in multiethnischen oder multireligiösen Regionen, wo die Angst vor dem Anderen vorherrscht. Es ist schwer, miteinander zu leben. Wer das Zusammenleben zerstören will, kann mit der Brechstange an solchen Gesellschaften ansetzen und sie an den ethnisch-religiösen Bruchkanten knacken. Das wollte ich beschreiben, denn das gab es schon in den dreissiger Jahren einmal.

Für eine durchschnittliche Europäerin wie mich wurde der Irak erst im Januar 1991 bedeutsam, als man sich für oder gegen den Krieg gegen Saddam Hussein positionieren musste. Hat dieser Krieg eine Rolle dabei gespielt, dass Sie über den Irak zu schreiben begannen?
Das Thema Irak war schon immer mein Thema. Für mich ist der Irak eine literarische Weltlandschaft, zu der ich einen besonderen Zugang habe. Mein erster Roman, «Im Grenzland», kam dann zur Unzeit, in Deutschland interessierte sich 1999 niemand mehr dafür. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Der eigentlich kurze Zweite Golfkrieg war nicht der Auslöser für mich, sondern die Schmugglergeschichte, die mir erzählt wurde und die ich in «Im Grenzland» dann verarbeitet habe.

Weshalb haben Sie sich nicht mehr mit den Problemen der Länder befasst, in denen Sie aufgewachsen sind, Deutschland oder Österreich?
Es ist nicht so, dass ich mich nicht mit anderen Problemen beschäftigt hätte. Aber es gelang mir nicht, einen erzählerischen Schlüssel zu finden für eine komplexe Gesellschaft, deren Widersprüche doch eher hinter den Kulissen zu suchen sind.

Sie fokussieren in Ihren Romanen oft auf Epochenbrüche und kontrastieren dabei verschiedene Lebenswelten. Was hat etwa der Abbau des Eisernen Vorhangs mit dem Golfkrieg zu tun?
Man muss das zeitgeschichtlich nicht auf eine Ebene bringen, aber in meinem Erleben war der Zusammenbruch des Kommunismus eine einschneidende Erfahrung. Mich interessierte die neue Weltordnung, die dabei entstand und die als «new order» vor dem Zweiten Golfkrieg ja auch als solche verkündet wurde. Deshalb stelle ich verschiedene Ereignisse synchron dar. Ich habe die Ungleichzeitigkeit verschiedener Lebenswelten zu meinem erzählerischen Projekt gemacht. Das universalistische Weltbild der sozialistischen Blockstaaten hat viele Länder im Nahen Osten in seinen Bann gezogen, auch die Diktaturen. Sie entwickelten sich später dann zu einer Art patriarchalen Despotien. Entscheidend ist jedoch, dass die Welt geordnet war, der Westen hat mit diesen Ländern gehandelt, der Osten unterstützte sie, sie waren integriert in ein grosses Politiksystem, das schliesslich erodierte. Nun leben wir in einer Zeit der Partikularismen, die Struktur ist verloren gegangen.

In «Der letzte Ort», Ihrem letzten Roman, porträtieren Sie einen Aussteiger aus der ehemaligen DDR namens Albert, der im Irak das Abenteuer sucht und zusammen mit seinem einheimischen Übersetzer gekidnappt wird. Lösegelderpressung ist inzwischen ein gängiges Geschäftsmodell. Wie erklären Sie sich trotz der Gewaltexzesse den Rückhalt von marodierenden Banden und Islamisten?
Sie stammen aus der Mitte der Bevölkerung, die Gruppen sind in ihr verwurzelt. Ihr Aufstieg heisst nicht, dass sie ihre Basis verlieren. Die Zerrissenheit des Landes offenbart sich schon an der Basis. In Bagdad stehen ganze Stadtviertel gegeneinander, je nach religiöser Zugehörigkeit. Dem Irak fehlen seit dem Sturz Saddams die inneren Bindekräfte.

Osama, Alberts Übersetzer, gilt als Verräter. Der Verrat ist eine der mächtigsten Triebkräfte in Ihren Romanen. Wiegt Verrat im arabischen Raum schwerer als hierzulande?
Nein, das würde ich nicht sagen, das ist ein rein literarisches Motiv. Der Verrat gehört zur Freundschaft, und er steht für die noch wichtigere Verstrickung jedes Einzelnen in die Verhältnisse und für die Schwierigkeit, ein Held zu sein. Und er hat auch etwas mit Individualisierung zu tun. Deutlich wird das bei Anwar in «Ein weisses Land». Er trifft immer wieder Leute, die ihn in seinem Wunsch weiterzukommen fördern, und er hat auch keinen Grund anzunehmen, das seien falsche Ratgeber. Trotzdem verrät er alle diese Leute. Die Figuren mögen primitiv wirken, sie sind angelegt wie Gefässe, die die Einflüsse von aussen aufnehmen und widerspiegeln, was die Zeit aus ihnen macht. Es geht dabei um das Verhältnis von innen und aussen, so wie ich auch Landschaften beschreibe.

«Ein weisses Land» spielt auf die weisse Landkarte an, die der Irak für Europäer darstellt. Sie okkupierten die mesopotamische Kultur, indem sie sie ausgruben und in europäische Museen schafften. Einer wie Albert sitzt nun in einem Museum in Bagdad und katalogisiert, was von Leuten wie Osama und seinem Freund geplündert wurde. Geschichtliches Erbe scheint im arabischen Raum eine völlig andere Rolle zu spielen.
Der Islam hat ganz generell ein Problem mit vorislamischer Kultur und Kunst. Er geht zwar nicht immer los und sprengt die sogenannten Götzenbilder, aber er achtet sie auch nicht. Ausserdem gibt es in dieser Region eine ganz alltägliche Achtlosigkeit gegenüber den geschichtlichen Überresten. Das Zeug liegt einfach herum, die Leute lesen es in den Höhlen auf und verkaufen es. Die alten orientalischen Kulturen sind räumlich so weit verteilt, dass man sie gar nicht absperren könnte. Allein Babylon als Grabungsort ist riesig.

Vielleicht hat diese Achtlosigkeit auch damit zu tun, dass der Islam eine bilderlose Religion ist. Allerdings operiert gerade der IS mittlerweile mit dem Krieg der Bilder, sei es mit Bildern von der Zerstörung vorislamischer Kunst oder mit Videos von Enthauptungen …
Sicher, die IS-Leute nehmen die Medien, vor allem das Internet, in den Dienst ihrer Sache. Schaut man sich ihre Filme an, sieht man jedoch, dass es sich immer noch um eine bilderlose Kultur handelt. Man sieht einen Mann mit der schwarzen Fahne, der über die Hügel geht, Bilder, die unterlegt werden mit Gesang und Schrift. Dem Bild wird nur vertraut, wenn es ergänzt wird mit einem Kommentar. Wirklich neu ist der Krieg mit den Bildern der Grausamkeit. Sie haben begriffen, dass der Westen einer Bildpropaganda, die auf Terror und Gewalt beruht, nichts entgegenzusetzen hat.

Und mit manchen dieser Bilder greifen sie eine Religion an, die dem Westen sehr wichtig ist, die Kunstreligion.
Das sagt aber auch etwas über uns aus. Eine Kunstreligion ist für Islamisten völlig gegenstandslos, sie haben ja ihre Religion. So barbarisch das Ganze ist, zeigt es uns doch wie ein Spiegel: Erst haben die Europäer die Kunstschätze aus dem Boden geholt und in Europa konserviert, dann schickten sie ihre Panzer, damit die Region genauso denkt wie wir in Europa. Indem der IS die Überreste zerstört, dokumentieren seine Anhänger, dass sie dieses Erbe nicht wollen.

Die Figuren Ihrer Bücher sind stets aufstiegswillig, geraten jedoch immer wieder in existenzielle Grenzsituationen, erfahren Ausgeliefertsein, Verlassenheit und Ohnmacht, die Freundschaften zwar auf die Probe stellen, aber auch Brücken über die Kulturen hinweg schlagen. Braucht es solche existenziellen Notstände, um Vertrauen zu stiften, oder offenbaren sie nicht vielmehr menschliche Abgründe, wie sie etwa der russische Schriftsteller Warlam Schalamow in seinen minimalistischen Erzählungen über den Gulag beschreibt?
Existenzielle Situationen sind für die Literatur immer fruchtbar. Bei Schalamow kann man beobachten, wie stark sie nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auf das Verhalten in Gruppen wirken. Was Schalamow am Lagersystem im Verbannungsort Kolyma beschreibt, ist eine untergründige Gegenwelt zur Sowjetunion. Sichtbar wird, was in der friedlichen Kulisse nicht zu sehen ist. Bei mir bleibt das natürlich ein rein fiktionaler Raum.

Die Väter spielen in Ihren Romanen eine wichtige Rolle. Sie sind enttäuschte Zyniker wie Alberts Vater, ein DDR-Journalist, oder sie halten sich heraus und resignieren wie der Vater von Anwar. Wo sind eigentlich die Mütter?
Die Mütter spielen in der Gedankenwelt dieser männlichen Helden tatsächlich eine geringere Rolle. In islamischen Ländern steht die gedankliche Auseinandersetzung mit den Vätern im Zentrum, die Mütter haben eine andere Aufgabe. Das wird deutlich in «Das dunkle Schiff», wo Kerim seinen Vater früh verliert, da ist nur Verlust. Bei Albert, der aus der deutschen Kultur stammt, geht es ebenfalls ganz dezidiert um die Gedankenwelt seines Vaters. In der Erinnerung fällt vieles weg, die Hauptrolle in seinem Leben spielen der Vater und die Schwester, die sich gegen den Vater aufgelehnt hat, was Albert nie konnte.

Insofern ist die Mutterlosigkeit von Anwar fast schon symbolisch.
Ja, richtig. Bei ihm habe ich es auf die Spitze getrieben, weil dieser mutterlose Sohn eine Art von Beschädigung erfährt und deutlich wird, dass scheinbar rationale Welterklärungen, die der Vater und andere bieten, nicht immer zum Guten führen. Anwar ist ein Mängelwesen, das etwas anderes zu werden versucht. Er ist unterkomplex, aber gefährlich, weil er überhaupt keine Grenzen bei seiner Nachahmung anderer kennt. Das Motiv der Suche zieht sich durch alle meine Bücher. Kerim ist auf Glaubenssuche, Anwar sucht mittels Erfolg Sinn. Ausserdem ist er gewalttätig, ohne es selbst zu realisieren: alle Ingredienzen eines beängstigenden Charakters, der, wenn die Zeiten entsprechend sind, monströs werden kann.

In den ersten Tagen der Gefangenschaft und Isolation ist es Alberts Überlebensstrategie, alles genau zu registrieren, «alles aufzubewahren», um darüber berichten zu können. Das klingt wie ein operatives Literaturprogramm.
Ich schreibe gar nicht so detailgenau, wie oft behauptet wird. Eine gewisse Präzision gehört dazu, aber das hat nichts mit einem Programm zu tun. Albert hält sich ja selbst nicht daran, er ist dazu gar nicht in der Lage. Es ist nur sein Versuch, in der Gefangenschaft rational zu bleiben. Er schaut schon ganz am Anfang durch ein Loch auf seine Umwelt, und genau das bleibt seine Perspektive.

Sie haben einmal erzählt, dass Sie Karl May, der in Ihren Büchern ebenfalls auftaucht, sehr spät gelesen haben, seine Bücher waren in der DDR lange verboten. Haben Sie bei ihm etwas über die Heimat Ihres Vaters erfahren, das Sie bis dahin noch nicht wussten?
Bei Karl May habe ich erstmals von den Jesiden gehört, von denen meine Verwandten im Irak nie erzählten. Er hat den Irak, zum Beispiel in «Von Bagdad nach Stambul» oder «Durchs wilde Kurdistan», sehr gut und detailliert beschrieben, das bestätigte auch mein Vater immer. Die deutschen Kolonialisten haben tolle Berichte überliefert, aus denen er sich bediente. Und es ist heute spannend, die Veränderungen nachzuvollziehen.

Sherko Fatah liest in Solothurn am Samstag, 16. Mai 2015, 
um 15 Uhr. Weitere Veranstaltungen in Anwesenheit 
des Autors: «Podium: Kriege erzählen. Leiden 
verarbeiten?»: Freitag, 15. Mai 2015, 13 Uhr. Literatur im Dunkeln: Freitag, 15. Mai 2015, 17 Uhr.

Preisgekrönter Autor

Sherko Fatah (50), als Sohn einer Deutschen und eines irakischen Kurden in Ostberlin geboren, thematisiert in seinen Büchern die gewaltsamen Auseinandersetzungen im kurdischen Grenzgebiet zwischen dem Iran, dem Irak und der Türkei. 1975 siedelte seine Familie nach Wien über und schliesslich nach Westberlin, wo Fatah Philosophie und Kunstgeschichte studierte.

Sherko Fatahs erster Roman, «Im Grenzland», eine Schmugglergeschichte, erschien 2001. In «Das dunkle Schiff» (2008) erzählt er die Geschichte des irakischen Jungen Kerim, der sich nach dem Tod seines Vaters einer Gruppe islamistischer Gotteskrieger anschliesst. In «Das weisse Land» (2012) erschliesst Fatah die irakische Gesellschaft aus der Perspektive des Jungen Anwar, dessen Weg von Bagdad bis vor das Audienzzimmer Adolf Hitlers führt. 2014 erschien die Entführungsgeschichte «Der letzte Ort», in dem Fatah den Terror des Islamischen Staats (IS) vorwegnimmt.

Dieses Jahr wurde dem Autor der Chamisso-Preis der Robert-Bosch-Stiftung und der Grosse Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste verliehen.