Europäische Abkommen: Das K-Wort der SVP

Nr. 5 –

Die SVP bezeichnet die Abkommen mit der EU regelmässig als «Kolonialverträge». Eine kurze Einführung in das Wesen und die Geschichte ungleicher Verträge – gegen das absichtliche historische Unwissen.

Druckgrafik von 1900: «Die 16 Staatsoberhäupter beraten über die Gestalt der Erde»
Über ihre Entscheide durfte niemand abstimmen: «Die 16 Staatsoberhäupter beraten über die Gestalt der Erde» (circa 1900).

Christoph Blocher hat es am 25. August 1992 erstmals verwendet, in der Nationalratsdebatte über den EWR. Seither beten es ihm alle nach: Toni Brunner («Kolonialvertrag!»), Natalie Rickli («Kolonialvertrag!»), Ueli Maurer («Kolonialvertrag!»), Albert Rösti («Kolonialvertrag!»), Magdalena Martullo-Blocher («Kolonialvertrag!»), Thomas Matter («Kolonialvertrag!»), Markus Somm («Kolonialvertrag!») und Thomas Aeschi («Kolonialvertrag!»). Im vergangenen Februar fand Blocher dann noch eine Steigerung («Klassischer Kolonialvertrag!»), und Roger Köppel plapperte es ihm an der Albisgüetli-Tagung nach («Klassischer Kolonialvertrag!»).

Hier sollen zwei Versuche unternommen werden, der K-Fraktion zu erklären, was ein «typischer Kolonialvertrag» (Blocher an der SVP-Delegiertenversammlung vom 25. Januar) im Detail ist: also ein Abkommen, mit dem sich eine militärisch überlegene europäische Macht unter Androhung oder Einsatz von Gewalt gegenüber indigenen Gemeinschaften oder staatlichen Institutionen in den Amerikas, in Asien und Afrika Einfluss und Profite sichert.

Mit Kanonen und Schulden

Der erste Erklärungsversuch: Die USA haben mit den Native Americans rund dreissig Verträge abgeschlossen mit dem Resultat, dass diese Menschen in einer Art kulturellem Genozid verdrängt, massakriert und in Reservate gesperrt wurden. Der belgische König Leopold II. liess mit Betrug und Drohungen mit 450 afrikanischen Machthabern im Kongobecken Verträge abschliessen mit dem Resultat, dass im État indépendant du Congo Kolonialverbrechen rund zehn Millionen Opfer forderten. Und im 19. Jahrhundert wurden solche Verträge dann derart häufig, dass man etwa für 1842 bis 1915 vom «Zeitalter der ungleichen Verträge» spricht. Die Kanonenboote Grossbritanniens, Frankreichs, Russlands, Deutschlands und der USA erzwangen in weiten Teilen Asiens (China, Japan, Korea, Siam) Handelsprivilegien, die mit Souveränitätsbeschränkungen einhergingen. Dass man sich bei der SVP mit dieser Geschichtsepoche schon einmal befasst hat, ist eher unwahrscheinlich. Man hält sich lieber an Morgarten, Murten, Marignano und Bruder Klaus.

Der zweite Versuch: 2025 jährt sich zum 200. Mal der Kolonialvertrag par excellence. Frankreich unter König Charles X. war nicht bereit, die in einem blutigen Sklavenaufstand und Befreiungskrieg 1791 bis 1804 erkämpfte haitianische Unabhängigkeit anzuerkennen. Im Juli 1825 lagen vierzehn französische Kriegsschiffe mit insgesamt 528 Kanonen vor Port-au-Prince, es drohte die Wiedereinführung der Sklaverei oder die Zerstörung der Hauptstadt. Zwischen dem französischen Emissär Baron de Mackau und dem haitianischen Präsidenten Jean-Pierre Boyer begannen Gespräche. Letzterem (und dem haitianischen Senat) blieb nichts anderes übrig, als am 11. Juli 1825 jenen Kolonialvertrag zu unterzeichnen, der gegen die Anerkennung der haitianischen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie die Bezahlung von 150 Millionen Goldfrancs auferlegte. Weil Frankreich realisierte, dass diese gigantische Summe nie zurückbezahlt werden würde, kam es 1838 zu einer Reduktion auf 90 Millionen.

Keinen Finger gerührt

Haiti stotterte fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch diese (illegitime) Schuld ab: Schiffsladungen von Zucker und Kaffee wurden jeweils sofort konfisziert und konnten nicht zum Aufbau der jungen Volkswirtschaft beitragen. Die aus dem ärmsten Land der westlichen Welt herausgepressten Mittel wurden vom französischen Staat dazu verwendet, die Sklav:innenhalter (darunter auch Schweizer) für den Verlust ihres «Eigentums» zu entschädigen. 1888 galt die 90-Millionen-Schuld gegenüber Frankreich als beglichen, aber der Karibikstaat hatte sich inzwischen bei US-amerikanischen und französischen Banken verschulden müssen. 1947 war der letzte Rest dieser «Schuld» getilgt.

2006 verlangte der Zuger Jo Lang im Nationalrat mit einer Motion, dass die Schweiz in der Frage der Rückerstattung der Haiti von Frankreich abgepressten Zahlung ihre Guten Dienste für eine einvernehmliche Lösung anbietet. Es ist nicht bekannt, dass in der SVP auch nur ein Finger für diesen Vorstoss gerührt wurde, obwohl es doch einen Reflex «Kleine kolonisierte Nationen sind untereinander solidarisch» hätte geben können.

Zum Schluss nochmals zusammengefasst zuhanden der SVP und der K-Fraktion: Beim aktuellen Abkommen verhandeln Staaten (beziehungsweise Staatengruppen) miteinander. Sie haben ähnliche Finanzkraft und ähnliche demokratische Kulturen. Es geht um Zusammenarbeit und um Streitschlichtung. In der Schweiz wird man am Ende abstimmen können. In den Great Plains in den USA und in Léopoldville im Kongo durfte niemand abstimmen. Auch über den Vertrag von Nanking (1842) gab es keine Abstimmung. Beim Vertrag von Saigon (1862) gab es weder Volks- noch Ständemehr. Die Kolonialmächte behandelten ihre Gegenüber als Kinder, die es zu erziehen galt. Als affenähnliche Wilde, die man zivilisieren musste. Als faule Eingeborene, denen man Disziplin beibringen musste. Oder als Aufständische, die es zusammenzuschiessen galt.

Der St. Galler Historiker Hans Fässler (71) prägte die Aufarbeitung der Schweizer Verstrickungen in die Sklaverei mit seinem Buch «Reise in Schwarz-Weiss» (Rotpunkt, 2005) wesentlich mit. Aktuell setzt er sich dafür ein, dass die UBS ihre Akten zu Kolonialgeschäften freigibt.