Kaffee: Reparationszahlungen für die Kolonialherren
Als (post)koloniales Exportprodukt ist Kaffee bis heute nicht nur mit Genuss, sondern ebenso mit Gewalt verbunden. Das wird am Beispiel Haiti deutlich, das 1804 zur ersten Schwarzen Republik wurde und sich mit Kaffee eine Zukunft aufbauen wollte. Ein Vorabdruck aus dem Buch «Kaffee».
Der Pionier des Kaffees in der Karibik war der französische Marineoffizier Gabriel-Mathieu de Clieu. Er soll die ersten Setzlinge nach Martinique gebracht haben. Für die Überfahrt liess er kleine transportable Gewächshäuser bauen, Schachteln aus Holz mit einer Vorderseite aus Glas. So staute sich die Hitze des Tages im Inneren und hielt bis in die Nacht hinein. Die Konstruktion war mit Stacheldraht bewehrt, damit die Ratten auf dem Schiff nicht über die Pflänzchen herfallen konnten. De Clieus Miniaturgewächshäuser wurden für viele Jahrzehnte zum Modell für den Transport von Pflanzen auf See.
Das Schiff mit den Kaffeesetzlingen geriet in der Karibik in einen schweren Sturm, dem eine lange Flaute folgte. Das Trinkwasser wurde knapp und musste rationiert werden. Jeder Mann auf dem Schiff bekam nur eine halbe Tasse pro Tag. Es heisst, de Clieu habe seine Ration mit den Pflanzen geteilt. Nur eine einzige habe die Flaute überlebt. Das reichte, da Arabicas sich ja selbst befruchten. De Clieu pflanzte den überlebenden Setzling in seinen Garten auf Martinique. Fünf Jahre später standen schon 2000 Kaffeesträucher auf der Insel, fünfzig Jahre später waren aus diesem einen Setzling achtzehn Millionen Kaffeebäume in den französischen Kolonien in der Karibik geworden. Ihre Nachkommen liefern heute mehr als die Hälfte der weltweit gehandelten Arabicabohnen.
De Clieu, der später Gouverneur der Insel Guadeloupe wurde, liess auch dort Kaffeeplantagen anlegen. Wie die Pflanze dann von Martinique in die französische Kolonie Saint-Domingue kam, ist nicht bekannt. Hier erlebte sie einen rasanten Aufstieg. Die Kolonie, mit knapp 28 000 Quadratkilometern ein bisschen kleiner als das deutsche Bundesland Brandenburg, war 1788, am Vorabend der Französischen Revolution, der weitaus grösste Kaffeeproduzent. Von dort kam rund die Hälfte der weltweit konsumierten Bohnen. […]
Saint-Domingue war für Frankreich wertvoller, als es die dreizehn nordamerikanischen Kolonien zusammen für Grossbritannien waren. Man nannte die Inselhälfte deshalb die «Perle der Karibik». Der wichtigste Ausfuhrhafen, Cap Français im Norden (heute Cap Haïtien), war grösser und eleganter als Boston. Oft ankerten über hundert Schiffe vor der Stadt, zu den 12 000 Einwohner:innen kamen ständig rund 2500 Seeleute.
All dieser Reichtum war von Sklav:innen geschaffen worden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatten Sklavenhändler über eine Million Menschen aus Afrika nach Saint-Domingue verschleppt. Die meisten kamen aus dem Kongobecken und der Gegend zwischen dem heutigen Liberia und Nigeria. Sie wurden mit dem Brandzeichen ihrer Besitzer markiert und überlebten meist nicht lange. Nirgendwo war das Regime der Sklav:innenhalter so brutal wie in Saint-Domingue. Jedes Jahr starben zwischen fünf und zehn Prozent der Sklav:innen an Hunger, Überarbeitung, Krankheiten und Folter. […] Nachwuchs unter den Schwarzen war selten. Die Frauen kannten die nötigen Kräuter und Methoden, um Schwangerschaften abzubrechen. Oft wurden Neugeborene ertränkt, um ihnen das Schicksal ihrer Eltern zu ersparen. Auch Selbstmorde waren häufig.
Die französischen Sklav:innenhalter mussten deshalb ständig neue Sklav:innen importieren. In manchen Jahren waren es mehr als 40 000.
Als in Frankreich 1789 die Revolution im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit begann, gab es in der Kolonie Saint-Domingue nach den Zahlen der damaligen Kolonialverwaltung 40 000 Weisse und 28 000 freie Farbige, sogenannte «gens de couleur». Sie waren aus für die Frauen meist unfreiwilligen Verhältnissen zwischen weissen Herren und Schwarzen Sklavinnen hervorgegangen. Dazu kamen 452 000 Schwarze Sklav:innen, auf jede:n Weisse:n also mindestens elf. Da der Sklavenbesitz besteuert wurde, kamen viele Schwarze als Schmuggelware illegal ins Land. Ihre tatsächliche Zahl dürfte deshalb deutlich höher gewesen sein.
Das schwerste Los hatten die Sklav:innen auf den Zuckerrohrplantagen. Die Arbeit auf dem Feld war hart. Die meisten Plantagen lagen in den Ebenen an der Küste, wo die Temperaturen schnell über vierzig Grad Celsius erreichen. In den Zuckermühlen und Siedehäusern war es noch viel heisser. Während der Erntezeit wurde dort Tag und Nacht gearbeitet. Weil die Schichten sehr lang und die Sklav:innen am Ende ermüdet und unkonzentriert waren, kam es zu vielen Unfällen. Manch einer verlor in der Mühle einen Arm oder ein Bein, andere wurden von heisser Melasse verbrüht.
Die Arbeit auf den Kaffeeplantagen war im Vergleich dazu weniger hart. Die Pflanzungen waren in den Bergen, wo es kühler ist, und zudem von grossen Bäumen beschattet. Kaffeeplantagen waren keine landwirtschaftlich-industriellen Komplexe mit mehreren Hundert Sklav:innen, wie sie in der Zuckerproduktion üblich waren. Sie waren sehr viel kleiner und hatten selten mehr als wenige Dutzend Sklav:innen. Das Regime jedoch war dasselbe wie unten in den Ebenen. Ungehorsam, Arbeitsverweigerung und Flucht wurden genauso hart bestraft. […]
Von Anfang an war die Flucht ein Weg, sich dem brutalen Regime der Sklav:innenhalter zu entziehen. Sie war gefährlich. Die Weissen gingen mit Bluthunden auf die Jagd nach Entlaufenen, der Beruf des Sklavenjägers war überall in der Karibik und auf dem lateinamerikanischen Festland verbreitet. Die Geflohenen wussten, was ihnen bevorstand, wenn sie eingefangen wurden. Im besten Fall wurde ihnen ein Arm oder ein Bein amputiert. Im schlechtesten wurden sie von Bluthunden zerfleischt oder öffentlich zu Tode gefoltert. Viele verkrochen sich deshalb im unzugänglichen Hinterland, verhielten sich ruhig, um nicht entdeckt zu werden, und gründeten kleine Weiler mit im Wald versteckten Feldern für die Selbstversorgung. Andere dagegen waren militant.
Mitte des 18. Jahrhunderts vereinigte der entlaufene Sklave François Makandal viele militante Gruppen unter seinem Kommando. Die Truppe überfiel nächtens Plantagen, brannte Zuckerrohrfelder und Fabriken nieder und tötete die Weissen. Es war der bis dahin grösste Aufstand in der Kolonie, über 6000 Menschen kamen zu Tode. 1758 aber wurde Makandal verraten, bei einer Voudouzeremonie erkannt und gefangen genommen. Man verbrannte ihn auf einem Platz in Cap Français auf dem Scheiterhaufen. Voudougläubige Zuschauer:innen waren überzeugt, dass er die Hinrichtung überlebt und sich in eine Fliege verwandelt habe, dass er davongeflogen und später als Mückenschwarm zurückgekommen sei, um die Französ:innen mit dem Gelbfieber zu bestrafen. Seine wundersame Rettung ist bis heute ein häufiges Motiv in haitianischen Volksliedern.
Der von Makandal angeführte Aufstand war das Vorspiel zum grossen Aufstand der Sklav:innen, der am 22. August 1791 begann und nach einem langen und blutigen Krieg am 1. Januar 1804 zur Unabhängigkeit der Kolonie und zur Gründung der weltweit ersten Schwarzen Republik führte. Sie nennt sich seit diesem Tag nach dem alten Namen der karibischen Ureinwohner:innen Ayiti, Haiti. Neben dem napoleonischen Heer und den aufständischen Schwarzen waren an diesem Krieg auch die Armeen Grossbritanniens und Spaniens beteiligt. Am Ende war die damals stärkste Armee Europas geschlagen. Napoleon hatte nach Berechnungen des US-amerikanischen Historikers Robert L. Scheina 75 000 Soldaten verloren, rund dreimal so viele wie bei der Schlacht von Waterloo. […] Am meisten aber hatten die Schwarzen gelitten. Vor dem Beginn des Aufstands lebten über eine halbe Million Afrikastämmige in der Kolonie. Als die Unabhängigkeit ausgerufen wurde, waren davon nicht einmal mehr 300 000 am Leben.
Die vorher für die Französ:innen so rentable Zuckerindustrie überlebte die Haitianische Revolution nicht. Die ehemaligen Sklav:innen wollten nicht mehr auf den Plantagen arbeiten, auf denen sie vorher so gequält worden waren. Sie wollten das Land bestellen, wie sie es von ihren Dörfern in Afrika kannten. Der Kaffeeanbau passte gut in diese kleinbäuerliche Welt. Er wurde zum wichtigsten Pfeiler der haitianischen Wirtschaft, die Kaffeesteuer die bei weitem grösste Einnahmequelle des jungen Staates. Kaffee hätte die Basis werden können für den Aufbau eines funktionierenden Gemeinwesens. Doch Haiti hatte nie die Chance dazu. […]
Die Selbstbefreiung der Sklav:innen von Haiti war den Kolonialmächten und den USA ein Graus. Sie fürchteten, dass der Funke überspringen könnte. Tatsächlich gab es in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung Sklav:innenaufstände auf vielen karibischen Inseln und auch im Süden der USA, die allesamt von der haitianischen Revolution inspiriert waren. Die Kolonialmächte und die USA versuchten deshalb von Anfang an, Haiti politisch zu isolieren und mit einer Seeblockade wirtschaftlich zu erwürgen. Die ehemaligen französischen Sklav:innenhalter, die sich hatten retten können, drängten zu Hause auf eine Zurückeroberung der verlorenen Kolonie.
1825 hatten sie Erfolg. Der französische König Charles X. schickte vierzehn Kriegsschiffe nach Haiti, die mit rund 500 Kanonen bestückt waren. Seine Forderung lautete: Entweder bezahlt Haiti 150 Millionen Goldfrancs an Reparationen, oder Frankreich erobert die ehemalige Kolonie zurück. Der damalige haitianische Präsident, Jean-Pierre Boyer, wollte weiteres Blutvergiessen verhindern und liess sich auf die Erpressung ein. Es ist ein einzigartiger Fall in der Geschichte der Kriege. Reparationen sind zwar üblich, aber sie werden nicht von den Siegern, sondern von den Verlierern der Auseinandersetzung bezahlt. In Haiti hatte die französische Armee verloren! Die erpresste Summe war noch viel absurder. 1803 hatte Frankreich seine nordamerikanischen Kolonien für 80 Millionen Goldfrancs an die USA verkauft – ein Gebiet, das 77-mal so gross war wie Haiti. Die Absicht war klar: Die Schwarze Republik sollte zum postkolonialen Schuldnerstaat werden. Frankreich wollte die ehemalige Kolonie weiterhin auspressen.
Zunächst wurden mit dem Geld die ehemaligen französischen Siedler:innen für den Verlust ihres Eigentums entschädigt – für die Immobilien genauso wie für die Sklav:innen. Die Schwarzen sollten nachträglich für die von ihnen selbst erkämpfte Freiheit bezahlen. Für jede:n verlorene:n Sklav:in aus der Zuckerindustrie standen den ehemaligen Sklav:innenhaltern 3425 Francs zu, für solche von Kaffeeplantagen 3250 Francs. Dabei entstanden Vermögen, die zum Teil bis heute Bestand haben. So gehören die vier Kinder des 2022 verstorbenen deutschen Unternehmers Maximilian Andreas Markgraf von Baden zu den Nachfahren der damals Entschädigten, genauso der französische Unternehmer Ernest-Antoine Seillière, der von 1997 bis 2005 Präsident des Unternehmerverbands Medef war, oder der belgische Prinz Michel de Ligne.
Aber nicht nur die Sklav:innenhalter und ihre Nachkommen haben profitiert, sondern vor allem auch die Banken. Schon für die erste von vereinbarten fünf Raten musste Haiti einen Kredit aufnehmen, den französische Banken gerne anboten. Von den dreissig Millionen Francs, die von der Regierung in Port-au-Prince aufgenommen wurden, waren allein sechs Millionen Kommissionen für die Banken. Es war das Sechsfache der Jahreseinnahmen der haitianischen Regierung. Fast hundert Jahre lang wickelte die französischen Bank Crédit Industriel et Commercial (CIC) diese Kredite über ihre sogenannte Nationalbank von Haiti ab. «National» war dabei nur der Name dieser CIC-Tochter. Die Pariser Finanzbehörde schrieb 1896: «Die Nationalbank von Haiti ist ein französisches Finanzinstitut mit Sitz in Paris. Seine Büros in Haiti sind nur Aussenstellen unter der Aufsicht und Kontrolle des zentralen Büros.»
Dieses Finanzinstitut war auch die Bank der haitianischen Regierung und verlangte von ihr für jedes ausbezahlte Gehalt und für jede sonstige finanzielle Transaktion Gebühren. Die Profite ihrer Aktionäre waren enorm, 1894 zum Beispiel höher als das gesamte Budget für Landwirtschaft in Haiti. In durchschnittlichen Jahren machten die Anteilseigner 15 Prozent Gewinn, in guten bis zu 24 Prozent. Üblich waren damals rund 5 Prozent. Dank dieser riesigen Gewinne ging aus der einst kleinen CIC eines der grössten Finanzimperien Europas hervor: die Bank Crédit Mutuel. […]
Für den Fall, dass Haiti nicht bezahlen sollte, schrieb der französische Aussenminister Horace-François Sébastiani 1831 vorsorglich an seinen Konsul in Port-au-Prince: «Eine Armee von 500 000 Männern ist kampfbereit. Und hinter dieser beeindruckenden Streitmacht steht eine Reserve von zwei Millionen.» Aber Haiti bezahlte stets. Die ursprüngliche Reparationslast wurde 1837 nach zähen Verhandlungen von 150 auf 90 Millionen Goldfrancs gesenkt. Trotzdem musste Haiti 1875 noch einmal einen Kredit für den Schuldendienst aufnehmen. Diesmal kassierten die Banker eine Kommission von vierzig Prozent. Die letzte Rate wurde 1888 überwiesen. Die Kredite aber stotterte das Land noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ab.
Bezahlt wurde das alles mit den Steuern, die auf die Kaffeeproduktion erhoben wurden. Sie waren die hauptsächlichen Einnahmen des Staates. Aber nicht die aus den Revolutionsführer:innen entstandene neue Elite des Landes, die vor allem durch Import- und Exportgeschäfte reich wurde, bezahlte das Lösegeld für die Freiheit. Es waren die ehemals einfachen Sklav:innen, das Fussvolk der Aufständischen, die danach, wie die Vorfahren in Afrika, ein Leben als Kleinbäuer:innen führten. Und nicht nur diejenigen, die gekämpft hatten, mussten bezahlen, sondern genauso ihre Nachkommen, und das für Generationen. Die Steuerlast war hart. Noch in den späten 1940er Jahren, heisst es in einem Bericht der Vereinten Nationen, hätten die Bäuer:innen in Haiti «oft sehr nahe am Verhungern» gelebt. Von sechs Kindern sei nur eines zur Schule gegangen.
Es gibt nur wenige Zahlen, die illustrieren, was die wegen der Reparationszahlungen aufgenommenen Kredite für die Entwicklung des Landes bedeuteten. So wurden 1911 von 3 Dollar eingenommener Kaffeesteuer 2,53 Dollar von diesem Schuldendienst aufgefressen. Nach Abzug von Zins und Abzahlung anderer Kredite blieben dem Staatshaushalt von diesen 3 Dollar gerade noch sechs Cent. Was andere arme Länder in den Bau von Strassen und Häfen, von Schulen und Krankenhäusern investieren konnten, überwies Haiti an Banken in Europa und den USA.
Ein Reporter:innenteam der «New York Times» hat 2022 mit der Hilfe eines guten Dutzends namhafter Wirtschaftshistoriker und Ökonominnen errechnet, welchen Schaden diese Erpressung angerichtet hat. Sie kamen dabei – je nach Szenario – auf eine Summe zwischen 21 und 115 Milliarden US-Dollar. Wäre auch nur die niedrigste Schätzung im Land investiert worden, so läge – die durchschnittliche Entwicklung in der Karibik vorausgesetzt – das Pro-Kopf-Einkommen heute sechsmal so hoch, wie es tatsächlich ist. Haiti wäre vergleichbar mit der benachbarten Dominikanischen Republik.
2003 hatte der damalige haitianische Präsident, Jean-Bertrand Aristide, im Vorfeld der Feiern zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit bei einem internationalen Expert:innenteam eine ähnliche Rechnung in Auftrag gegeben, um ein Verfahren gegen Frankreich vorzubereiten. Das Ergebnis dieser Kommission lag ziemlich genau am unteren Rand dessen, was die «New York Times» mit ihren Expert:innen errechnet hat: Gut 21 Milliarden US-Dollar, genau 21 685 135 571 Dollar und 48 Cent. Diese Summe, so Aristide bei einer Rede am 200. Todestag des haitianischen Revolutionshelden Toussaint Louverture am 7. April 2003, müsse Frankreich zurückbezahlen. Und er rief die anderen ehemaligen französischen Kolonien auf, ähnliche Rechnungen aufzustellen und in Paris zu präsentieren. Der damalige Präsident Jacques Chirac nannte die Forderung «demagogisch». Die Zahlungen, die Haiti an Frankreich geleistet habe, seien durch einen Vertrag rechtlich einwandfrei geregelt worden.
Der vom Armenpriester zum Präsidenten aufgestiegene Aristide hatte einen Nerv getroffen. Das sei «explosiv» gewesen, erinnerte sich Yves Gaudeul, von 1999 bis 2002 französischer Botschafter in Port-au-Prince, Jahre später. «Wir mussten das entschärfen.» Wären andere ehemalige Kolonien dem Beispiel Haitis gefolgt, wäre das Verhältnis von Frankreich zu Afrika zumindest erheblich gestört worden. Gaudeul wollte mit Aristide verhandeln, konnte sich aber in Paris mit dieser Haltung nicht durchsetzen. «Ich habe nie verstanden, wie wir so dumm sein konnten», sagte er. «Ich glaube, dass wir Haiti nie verziehen haben, dass es das Land ist, das uns besiegt hat.» Gaudeul wurde von seinem Posten abberufen. Sein Nachfolger wurde Thierry Burkard.
Das französische Aussenministerium stellte eine Kommission unter der Leitung des Altlinken Régis Debray zusammen. Die flog im Dezember 2003 nach Haiti. Bei einem Gespräch mit Aristide sagte Debray klipp und klar: «Sie haben uns nichts vorgelegt, was ernst zu nehmen wäre.» Und er drohte dem Präsidenten: «Es riecht nach Ärger für Sie.» Wenn Aristide sich das Schicksal Allendes ersparen wolle, müsse er zurücktreten. Der chilenische Präsident Salvador Allende war beim Militärputsch unter General Augusto Pinochet am 11. September 1973 während der Bombardierung des Regierungspalasts ums Leben gekommen. Aristide erinnerte sich später: «Die Drohung war deutlich und direkt: Entweder du trittst zurück, oder du kannst erschossen werden.» Auch im Abschlussbericht legte die Debray-Kommission einen Putsch nahe. Aristides Gegner:innen seien «bereit, ihre zivilen Rechte und Pflichten zu übernehmen». Man habe mit ihnen über eine «zukünftige Übergangsregierung» diskutiert.
Tatsächlich wurde Aristide am 29. Februar 2004 gestürzt und mit einem US-amerikanischen Flugzeug in die Zentralafrikanische Republik gebracht. Frankreich und die USA behaupten bis heute, der Präsident sei freiwillig zurückgetreten. Aristide sagt, er sei entführt worden. Und Frankreichs damaliger Botschafter Burkard sagte später, Frankreich und die USA hätten in Haiti einen «Staatsstreich» orchestriert. Man habe Aristide zum Rücktritt gedrängt und ausser Landes gebracht. Die Forderung nach der Rückzahlung der erpressten Reparationen habe bei diesem «Coup» eine Rolle gespielt. Der von Frankreich und den USA als Premierminister des Übergangs gestützte Gérard Latortue besuchte ein paar Wochen später Chirac. Nach dem Treffen im Élysée-Palast erklärte er, Haiti habe die Forderung nach Rückzahlung der Reparationen zurückgenommen.
Das Thema kam seither in Frankreich nur noch einmal regierungsamtlich zur Sprache. Im Mai 2015 bei einer Rede zur Eröffnung einer Gedenkstätte zum Sklavenhandel auf Guadeloupe nannte der damalige Präsident François Hollande die Reparationszahlungen Haitis ein «Lösegeld für die Unabhängigkeit». Und: «Wenn ich nach Haiti komme, werde ich für meinen Teil die Schulden abtragen, die wir haben.» Er bekam donnernden Applaus. Ein paar Stunden später erklärte sein Büro, Hollande habe lediglich von «moralischen Schulden» gesprochen. Das ist bis heute die Haltung der französischen Regierung. Und die Kaffeesteuern, die den haitianischen Bäuer:innen abgepresst wurden, um sie nach Paris zu überweisen, bleiben bis auf Weiteres dort.
Die Steuerlast war so gross, dass die meisten Bäuer:innen den Anbau aufgaben. Kaffee spielt in Haiti, dem einst weltweit grössten Produzenten, heute nur noch eine marginale Rolle, obwohl Klima und Böden für die Pflanze ideal sind. Die Kleinbäuer:innen, die noch immer Plantagen betreiben, bedienen hauptsächlich den lokalen Markt; exportiert wird sehr wenig. Mit viel Glück kann man haitianische Bohnen in kleinen Röstereien in Europa finden. Sie wurden in aller Regel trocken verarbeitet und – obwohl sie so gut wie nie zertifiziert sind – biologisch angebaut. Haitianische Bäuer:innen sind zu arm. Sie können sich keine chemischen Dünger und Pestizide leisten.
Kapitalismus und Krieg
Von der Plantage bis in die Tasse folgt «Kaffee» dem Genussmittel – eine Spur, die auch die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Kaffeeanbaus beleuchtet, und zwar nicht nur heute, sondern vom Moment an, als die Bohne ihr Ursprungsland Äthiopien verliess und zur europäischen Kolonialware wurde und dabei ein symbiotisches Verhältnis mit dem Kapitalismus einging. Erst der Krieg und die Sorte Robusta machten löslichen Kaffee zum Massenprodukt; den Weltmarkt beherrschen heute eine Handvoll Konzerne. Sie bedrohen Kaffeebäuer:innen ebenso in ihrer Existenz, wie es die Klimaerhitzung tut. mei
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