150 grosse Popsongs: Willkommene Anmassung
Eine identitäre Selbstermächtigung der spektakulären Art: Das US-Magazin «Forward» hat eine Liste der besten jüdischen Popsongs der Geschichte zusammengestellt.
Wenn es einen Gott gibt da oben, dann hat er Sinn für Humor. Wie sonst wäre er auf die Idee gekommen, ausgerechnet einen sibirischen Juden das populärste Weihnachtslied der westlichen Hemisphäre komponieren zu lassen?
Sein Name ist Israel Isidore Beilin, 1888 in Tjumen zur Welt gekommen, 1700 Kilometer östlich von Moskau. Auf der Flucht vor Gewalt und Pogromen landet der kleine Israel Isidore 1893 mit seinen Eltern auf Ellis Island, dem Sehnsuchtsort der Geflüchteten im New Yorker Hafen. Wie so viele Jüd:innen aus Osteuropa ändert er seinen Namen, und er avanciert als Irving Berlin zu einem der erfolgreichsten Songschreiber seiner Zeit. Auf sein Konto gehen Evergreens wie «Puttin’ on the Ritz», «There’s No Business Like Show Business» und «God Bless America». Und eben «White Christmas».
Kulturpolitischer Coup
Leute, die für diese Sorte Humor etwas übrig haben, dürften an der Liste der «150 grössten jüdischen Popsongs» ihren Spass haben, präsentiert auf der Website der New Yorker Zeitschrift «Forward», bis 2015 «The Jewish Daily Forward», inzwischen nur noch im Netz. Wer sich diese Liste anhört und ansieht, dem könnte Hören und Sehen vergehen, denn der «Forward»-Redaktion um den Initiator Seth Rogovoy ist ein kulturpolitischer Coup gelungen, der Fragen aufwirft. Erst mal die naheliegende: Was ist das eigentlich, ein jüdischer Popsong? Aber auch argwöhnische Fragen von Skeptiker:innen: Wozu eine Liste mit jüdischen Popsongs? Warum keine mit christlichen? Ist diese Liste philosemitisch und, wenn ja, was heisst das?
Die einfachste, aber dann doch tückische Antwort: Ein Popsong von einer Jüdin, einem Juden ist ein jüdischer Popsong. Nach dieser Logik ist die moderne Popmusik angloamerikanischer Provenienz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine ziemlich jüdische Angelegenheit. «Wir hätten eine Liste mit 150 oder 300 oder 1000 Songs von Bob Dylan, Leonard Cohen, Paul Simon und Lou Reed erstellen können, und das wärs gewesen», sagt Seth Rogovoy. Sie hätten auch noch 150 Songs von Carole King unterbringen können, von Randy Newman und Amy Winehouse, von den Beastie Boys und Drake. Oder von den Haim-Schwestern, die gerade in Paul Thomas Andersons Kinohit «Licorice Pizza» eine in Hollywood selten gesehene Jewishness performen.
Der schiere quantitative Anteil von Jüdinnen und Juden am Pop der Neuzeit, das offenbart die Liste, hat schon was, nun ja, Erdrückendes. Aber die «Forward»-Liste beansprucht auch noch reichlich Musik für sich, die nun definitiv nicht von jüdischen Musiker:innen kommt. «Wir haben grossartige Songs, die sich mit jüdischen Themen befassen, aber nicht von jüdischen Künstlern geschrieben wurden», sagt Rogovoy. So landen die Rolling Stones auf der Liste, weil Mick Jagger 1978 in ihrem Hit «Shattered» eine Prise Jiddisch droppt: «Shmatta, shmatta, shmatta, I can’t give it away on Seventh Avenue.» Oder die Bangles, weil ihr bittersüsses «Eternal Flame» auf die ewige Flamme in der Synagoge anspielt, so einer der Begleittexte zum Ranking, die 150 Mal erklären, «was an dem Lied jüdisch bedeutsam ist». Jüdisch bedeutsam ist dann plötzlich auch ein familienfreundlicher Hip-Hop-Schlager von 2009, der sich als «most massive Bar Mitzvah hit of all time» entpuppt: «I Gotta Feeling» von den Black Eyed Peas.
Hymne aus Jew York
Vergleichsweise trivial verläuft die Integration von David Bowie in den jüdischen Kanon. «From Kether to Malkuth» singe er in einwandfreiem Hebräisch in «Station to Station». Na gut, aber schön ist dann wieder die Begründung: Bowies kabbalistische Erziehung habe dem alten Hexenmeister Aleister Crowley mehr zu verdanken als Gershom Scholem.
Tatsächlich eröffnen die Begleittexte eine völlig neue Perspektive auf die Popgeschichte, wenn Songs, die wir schon tausendmal gehört haben, plötzlich als jüdisch markiert werden. Wenn wir etwa erfahren, dass «The Boxer» von Simon and Garfunkel eine Reminiszenz an «Slapsie Maxie» Rosenbloom, Joseph «Jewey» Smith und Ruby «The Jewel of the Ghetto» Goldstein ist – populäre Preisboxer im New York zwischen den Weltkriegen. Wenn wir nicht nur erfahren, dass Liza Minnellis «Theme From New York, New York» die inoffizielle Hymne der inoffiziellen Hauptstadt des jüdischen Amerika ist – sie nennen es auch Jew York –, sondern überdies der Bogen zu Moses Maimonides geschlagen wird, einem jüdischen Philosophen, der im 12. Jahrhundert in Andalusien und Ägypten tätig war.
Was wohl Liza Minnelli zu dieser Deutung sagen würde? Rogovoy sagt: «Es war uns egal, wer die Person war oder woher die Musik kam. Uns interessierte nur, dass das Lied ein jüdisches Thema oder eine jüdische Geschichte anspricht oder die jüdische Religion oder den Holocaust. Etwas, das es als jüdisches Lied identifizieren könnte.»
Nicht jeder mag die Definition, nicht jede mag die Liste, denn sie ist eine Anmassung. Eine jüdische Anmassung. Plötzlich lesen sich die 150 grössten jüdischen Songs wie ein Who is Who des Pop.
Frage an Steven Lee Beeber, er hat an der Liste mitgearbeitet und ist Autor eines Standardwerks über die jüdischen Wurzeln des New York Punk. Ist die Liste ein Versuch, sich die Definitionsmacht von den Antisemit:innen zurückzuholen? «Ich denke schon. Als ich mein Buch über die jüdischen Ursprünge des Punk schrieb, wollte ich eine andere Version von Juden zeigen als die allgemein akzeptierte. Es war nicht cool, jüdisch zu sein. Als ich aufwuchs, war es mir peinlich, jüdisch zu sein. Aber als ich erfuhr, dass Lou Reed, Joey Ramone und Jonathan Richman Juden waren und dass Dylan nicht bloss ein Folkie war, sondern ein Protopunk in Lederjacke – da wurde mir klar, wie falsch ich gelegen hatte.» Und, unübersetzbar: «Jews were bad asses. Yet not assholes. Think Groucho Marx or Philip Roth, […] Henry Miller or Steve Reich. Those are my people.»
Im Sinne Beebers können wir die Liste als antiessenzialistische identitätspolitische Intervention lesen – nein, das ist kein Paradox. Wenn jüdische Autor:innen, deren Vorfahren ihr Jüdischsein verstecken mussten, mit Aplomb so ziemlich alles Mögliche und Unmögliche im Pop für sich reklamieren, dann ist das einerseits eine identitäre Selbstermächtigung der spektakulären Art. Aber eben auch eine der spekulativen Art, denn die dreiste Jewifizierung von Jagger, Bowie und Co. verweist ja auch auf den hybriden, fluiden bis opaken Charakter von Identität. Wer wüsste das besser als die Rabinowitze, Zimmermans, Kleins oder Bermowitze, die sich neu erfanden als Reed, Dylan, Carole King oder Alan Vega.
Gute Beziehungen
Sogar den laut «Time Magazine» besten Song des 20. Jahrhunderts reissen sich die «Forward»-Leute unter den Nagel: Billie Holidays «Strange Fruit», der Klassiker über die Lynchmorde an Schwarzen im US-amerikanischen Süden. Nein, die afroamerikanische Sängerin war keine Jüdin. Auf die Liste gehört sie trotzdem, meint Rogovoy: «Das Lied ist eine Manifestation der guten Beziehungen zwischen amerikanischen Schwarzen und amerikanischen Juden. Ein jüdischer Lehrer, Abel Meeropol, hat den Text geschrieben, inspiriert von den Lynchmorden. Billie Holiday nahm das Lied auf, und es ist bis heute einer der herzzerreissendsten, aber auch repräsentativsten Songs über die Schrecken des Rassismus. Dass ein Jude das Lied schrieb, ist ein Beweis für dieses gemeinsame Erbe.»
Auch dieses mal vergessene, mal verdrängte Kapitel der Popgeschichte wird wieder ins Licht gerückt durch die Liste der grössten jüdischen Popsongs. Eine Liste des Grauens für Reinheitsfanatiker:innen, Rassistinnen und Antisemiten.
«The 150 greatest Jewish pop songs of all time» findet sich auf forward.com .