Türkei und Syrien: Erdoğan in Aktion

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Die Türkei lockert die Ausreisebedingungen für Syrer:innen, um deren Abschiebung zu beschleunigen. Zugleich versucht Präsident Erdoğan, den Konflikt mit den Kurd:innen an mehreren Fronten zu beenden.

Ankunft des ersten Turkish-Airlines-Flug am Flughafen in Damaskus
«Halte deinen Kopf hoch, du bist ein freier Syrer», sangen sie während des Flugs: Ankunft am 23. Januar in Damaskus. Foto: İsa Terli, Getty

Türkische Nachrichtensendungen wiederholten Ende Januar immer wieder dieselben Bilder. Sie zeigten, wie erstmals seit 2012 ein Passagierflugzeug von Turkish Airlines in Syrien landete. An Bord der Maschine TK0846 von Istanbul nach Damaskus waren 345 Passagier:innen, meist Syrer:innen, viele in die Landesflagge gehüllt. Bereits beim Abflug jubelten sie, und während des Flugs sangen sie die Aufstandshymne «Halte deinen Kopf hoch, du bist ein freier Syrer». Turkish Airlines hat ab sofort drei wöchentliche Verbindungen zwischen Istanbul und Damaskus angekündigt.

Etwa drei Millionen Syrer:innen sind während des dreizehnjährigen Bürgerkriegs in die benachbarte Türkei geflüchtet; kein anderes Land hat so viele von ihnen aufgenommen. Während der ersten Jahre des Krieges wurden sie von der Gesellschaft und der Politik meist willkommen geheissen. Doch mit der 2018 einsetzenden Wirtschaftskrise in der Türkei kippte die Stimmung. Im Juni vergangenen Jahres kam es in der Millionenstadt Kayseri zu migrant:innenfeindlichen Ausschreitungen, bei denen Hunderte Geschäfte und Fahrzeuge von Syrer:innen beschädigt wurden.

«Pioniereinwanderer»

Die Geflüchteten wurden zunehmend zum Politikum. Es kam wiederholt zu Ausschaffungen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei. Während die sozialdemokratische CHP gegen Flüchtlinge hetzte, zeigte sich die regierende AKP zunächst ungewohnt sachlich. Erst als Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Stimmung innerhalb der eigenen Wähler:innenschaft nicht länger ignorieren konnte, kündigte er an, eine Million Syrer:innen nach Nordsyrien zurückzuführen: Aber sie sollten «freiwillig» gehen.

Auch nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad streiten sich Regierung und Opposition weiterhin um die Flüchtlingsfrage. Laut offiziellen Angaben haben nach der Machtübernahme der Aufständischen rund 50 000 Syrer:innen die Türkei innerhalb weniger Wochen verlassen. Die Regierung will jedoch möglichst viele weitere Geflüchtete loswerden und hat deshalb die Ausreiseregeln gelockert. Bisher drohte Syrer:innen bei der Rückkehr ein Einreiseverbot, nun dürfen sie mit offiziellem Antrag innerhalb von sechs Monaten bis zu dreimal in die Türkei ein- und wieder ausreisen. Das Programm trägt den Titel «Pioniereinwanderer» und soll ihnen ermöglichen, die notwendigen Vorkehrungen für ihre Rückkehr zu treffen, um die Türkei – so die Hoffnung – endgültig zu verlassen.

Selin Unal, Sprecherin des Uno-Flüchtlingswerks UNHCR in der Türkei, begrüsst das Programm und fordert ähnliche Massnahmen von anderen Regierungen. Hingegen gibt es schon erste Stimmen, die fragen, warum überhaupt noch Syrer:innen in der Türkei seien. Einige Oppositionspolitiker werfen den Geflüchteten vor, keine «Ausreden» mehr zu haben, und fordern, wie CHP-Sprecher Deniz Yücel, eine sofortige Abschiebung aller Syrer:innen.

Gibts eine vierte Amtszeit?

Präsident Erdoğan ist ein wichtiger Verbündeter der neuen syrischen Regierung. Eben erst war Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa in Ankara zu Gast. Erdoğan hatte die Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham jahrelang unterstützt und unmittelbar nach dem Regimewechsel Investitionen in die syrische Wirtschaft und Hilfe für den krisengeschüttelten Energie- und Stromsektor angekündigt. Gleichzeitig sieht Erdoğan eine erneute Chance, die kurdische De-facto-Autonomie an der türkischen Grenze zu beenden. Während die internationale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf die innenpolitischen Entwicklungen in Syrien richtet, bombardiert die türkische Armee weiterhin kurdische Gebiete in Nordsyrien. Erdoğan hat bereits das bevorstehende Ende der kurdischen Milizen verkündet.

Parallel dazu fährt Erdoğan eine Doppelstrategie: Neben der Schwächung der Kurd:innen in Syrien strebt er auch ein Ende des Konflikts mit den Kurd:innen in der Türkei an. Es gibt Anzeichen für eine mögliche Wiederaufnahme des 2015 abgebrochenen Friedensprozesses. Sein Motiv ist jedoch weniger Nächstenliebe als politisches Kalkül. Erdoğan strebt eine vierte Amtszeit nach 2028 an, was nach der geltenden Verfassung nicht erlaubt ist. Um erneut kandidieren zu können, muss er entweder eine Verfassungsänderung durchsetzen oder das Parlament zu vorgezogenen Neuwahlen bewegen. Der Knackpunkt besteht allerdings darin, dass der Regierungsallianz 45 Sitze fehlen, um eine solche Abstimmung zu gewinnen. Die prokurdische DEM (ehemals HDP) mit ihren 57 Sitzen könnte hier entscheidend sein. Zudem braucht Erdoğan die Stimmen der kurdischen Wähler:innenschaft, ohne die er laut Expert:innen keine Wahl mehr gewinnen kann.

Wohl aus diesem Grund durften Ende Dezember und Ende Januar zwei DEM-Abgeordnete den Staatsfeind Nummer eins besuchen: Abdullah Öcalan, Mitgründer der PKK, der seit 1999 eine lebenslange Haftstrafe auf der Insel İmralı vor Istanbul absitzt. Überraschend schlug ausserdem Erdoğans Koalitionspartner, der rechtsextreme MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, vor, Öcalan freizulassen – unter der Bedingung, dass die PKK aufgelöst wird. Öcalan, so heisst es in einer Erklärung, sei an einer friedlichen Lösung interessiert. Demnächst sollen DEM-Abgeordnete den Gefangenen erneut besuchen dürfen.