Frieden in Europa: Die Rivalität überwinden
Der Krieg gegen die Ukraine hat zwei Ursachen: Russlands Imperialismus und die Konkurrenz zwischen den Militärblöcken in Europa. Warum nur eine neue, transnationale Organisation einen Ausweg bietet – und es für ihre Gründung die Zivilgesellschaft braucht.

Seit drei Jahren wütet in Europa ein brutaler Krieg. Viele anfängliche Vorhersagen dazu haben sich als falsch erwiesen – von der Annahme, Wladimir Putin würde die Ukraine schnell erobern, bis hin zur Überzeugung, dass Putins Invasion scheitern werde, sein Sturz nur eine Frage der Zeit sei. Vor allem aber hat sich gezeigt, dass der Konflikt weit mehr ist als ein regionaler Streit – und dass er gravierende Auswirkungen auf die Sicherheit Europas hat.
Je länger der Krieg dauert, desto grösser ist die Gefahr, dass er normalisiert wird. Das derzeitige politische Klima, gekennzeichnet durch eine alarmierende Militarisierung in zahlreichen Staaten und den zunehmenden Sicherheitswahn im Alltag, fördert die Vision eines isolierten und fragmentierten Europa: eines Europa, das Gefahr läuft, die Wiederherstellung der Demokratie, die Bekämpfung der Ungleichheit oder die Abwendung der Klimakatastrophe zu vernachlässigen. Um diese düstere Zukunft abzuwenden, müssen neue Bedingungen für einen dauerhaften Frieden geschaffen werden.
Zu diesem Text
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Symptom einer regionalen wie einer globalen Krise – und die Forschung über Russland hat ihn in diesem Ausmass weder vorausgesehen noch verhindert. Diese Feststellung liegt dem Institute for Global Reconstruction (Igrec) zugrunde, das mit theoriegeleiteten und fantasievollen Beiträgen Antworten auf diese Krise finden und eine neue politische Architektur entwerfen will. Domiziliert in Berlin, gehören ihm Wissenschaftler:innen aus Russland und weiteren europäischen Staaten an.
Der vorliegende Beitrag wurde von Grigorij Judin und Ilja Budraitskis verfasst. Das Igrec hat ihn bereits vor den jüngsten Angeboten der Trump-Regierung an Russland für Gespräche über eine Beendigung des Krieges veröffentlicht. Die WOZ publiziert den Diskussionsbeitrag auf Deutsch, weil er über die aktuellen Ereignisse hinaus eine wichtige linke Perspektive für einen Frieden in der Ukraine bietet.
Der Philosoph und Soziologe Grigorij Judin ist Kogründer des Igrec, von ihm erschien etwa der Band «Public Opinion. The Power of Numbers»; der politische Autor Ilja Budraitskis hat das Buch «Dissidents among Dissidents» über die sowjetische und russische Linke veröffentlicht.
Der Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur sollte dabei nicht den politischen Eliten allein anvertraut werden. Denn solange soziale und demokratische Bewegungen von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen sind, wird jede Lösung instabil bleiben. Die gegenwärtige internationale Krise ist mit einer Krise der demokratischen Repräsentation verbunden: Während in einem Militärblock eine vollständig autoritäre Herrschaft dominiert, mangelt es den Regierungen im anderen oftmals an öffentlichem Rückhalt.
Wir rufen deshalb zur Überwindung der derzeitigen Sicherheitspolitik auf, in der Regierungen wichtige Entscheidungen durch undurchsichtige Absprachen hinter verschlossenen Türen treffen. Stattdessen braucht es ein Modell mit einer breiten demokratischen Beteiligung.
Ein «war of choice»
Zwei Hauptfaktoren treiben die Fortsetzung des Krieges gegen die Ukraine voran: die imperialistischen Ambitionen des russischen Präsidenten und die Teilung Europas in zwei rivalisierende Blöcke, was auf beiden Seiten ein Bedrohungsgefühl befeuert. Der erste Faktor weist die Verantwortung für den Krieg bestimmten Akteuren zu, während der zweite den Schwerpunkt auf systemische Bedingungen legt, die von allen Seiten gemeinsam geschaffen wurden, ohne Schuldzuweisungen auszusprechen oder Verantwortlichkeiten festzulegen.
Dieser Beitrag konzentriert sich auf den zweiten Punkt. Dennoch ist wichtig zu betonen, dass für die Fortführung des Krieges beide Faktoren notwendig sind. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein «war of choice». Putins Entscheidung, ihn zu beginnen, kann nicht als Ergebnis einer erzwungenen Handlung erklärt werden. Weder 2014 noch 2022 befand sich Russland in unmittelbarer Gefahr. Anstatt sich um kooperative Beziehungen zu den postsowjetischen Staaten zu bemühen, reagierte Putin auf deren Abkehr vom russischen Einfluss, indem er sie zu Gehorsam zwang.
Derzeit scheint die Sicherung des Friedens allerdings auch bei einer Entmachtung Putins unwahrscheinlich, da die strukturellen Kriegsursachen fortbestehen würden. Die europäische Sicherheitsarchitektur wird durch die Existenz zweier rivalisierender Militärblöcke bestimmt: der Nato und der – mehr oder weniger – mit Russland verbündeten Staaten. Obwohl Putins Bemühungen, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) als tragfähige Gegenkraft zur Nato zu etablieren, weitgehend gescheitert sind, durchdringt die Logik militärischer Blöcke die Entscheidungsfindung in den Russland nahestehenden Ländern.
Die Nato, ursprünglich gegen die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion gegründet, wurde nach deren Zusammenbruch nicht aufgelöst. Die objektive Realität in Europa vor 2014 bestand darin, dass die Nato kontinuierlich nach Osten expandierte, wobei Russland als Hauptgegner angesehen wurde.
Selbst die wohlwollendste russische Regierung wäre heute mit einem äusseren Umfeld konfrontiert, das sie als bedrohlich wahrnehmen würde. Der von Putin angezettelte Krieg hat die Nato-Staaten veranlasst, Militärproduktion und Verteidigungsausgaben rasch zu erhöhen. Die brutale Invasion Russlands und die Gräueltaten seiner Armee in der Ukraine haben insbesondere bei den östlichen Mitgliedern des Bündnisses berechtigte Wut und Besorgnis ausgelöst. Diese Feindseligkeit wiederum spürt man in Russland, wo die Eliten davon überzeugt sind, dass Putin die Beziehungen zu Europa dauerhaft beschädigt hat und die Russ:innen von den Europäer:innen entsprechend keine Gnade zu erwarten haben.
Werden keine Anstrengungen unternommen, dieser Wahrnehmung entgegenzuwirken, wird jede russische Regierung, die sich nicht als von Feind:innen umzingelt sieht, Schwierigkeiten haben, ihre Macht zu erhalten. Nur eine breite Diskussion unter Einbezug sozialer Bewegungen und demokratischer Kräfte in Russland kann zwischen Paranoia und ideologischem Imperialismus sowie echten Sicherheitsbedürfnissen für die gesamte Gesellschaft unterscheiden.
Prahlerei verhindert Gespräche
Man kann sich deshalb fragen, warum es notwendig ist, sich auf die Frage der Rivalität zwischen den Blöcken zu konzentrieren, wenn die andere Hauptursache für den Krieg – Putins imperialistische Politik – unverändert bleibt. Hierfür gibt es zwei Gründe.
Erstens: Solange die Russ:innen das Umfeld ihres Landes als feindselig empfinden, gibt es weder für die Oligarchie noch für die breite Bevölkerung Anreize, Putin zu entmachten. Zwar war in Russland der Krieg noch nie populär, und die Armen stehen ihm weitaus skeptischer gegenüber als die Wohlhabenden, doch im Moment scheinen alle Alternativen weitaus schlimmer. Solange es keine tragfähige Zukunft für Russland gibt, ist die Motivation für seine Eliten oder potenziellen Machthaber, Putin abzusetzen und den Krieg zu beenden, minimal. Zweitens: Russland wird irgendwann eine neue Führung haben. Wenn dieser Tag kommt, sind Optionen entscheidend, die das Streben nach Frieden zur attraktiven und praktikablen Strategie für eine neue Regierung machen würden.
Aber wenn Russlands Sicherheitsbedenken doch anerkannt werden – warum werden dann nicht sofort Verhandlungen mit Putin aufgenommen? Weil Putins imperialistische Vision solche Gespräche praktisch verunmöglicht. Der Krieg, den er führt, wird offen mit imperialistischen Zielen begründet, etwa seiner Prahlerei, wonach das Asowsche Meer erstmals seit der Ära von Peter dem Grossen zu «Russlands Binnenmeer» geworden sei. Abgesehen von diesen territorialen Ambitionen ist der militärische Block, den Putin um Russland herum zu errichten versucht, auch zutiefst ideologischer Natur: Von den postsowjetischen Ländern unter russischem Einfluss wird erwartet, dass sie das politische System an die Vorgaben des Kreml anpassen – von der Konsolidierung autoritärer Macht über die Unterdrückung der Opposition bis zur Förderung «traditioneller Werte» wie der Einschränkung der Frauenrechte und der Kriminalisierung von LGBTQ+-Personen. Das sieht man etwa in Georgien, das sich derzeit rasch unter Russlands Kontrolle begibt.
Nato nicht auflösen
Von grundlegender Bedeutung für jede Diskussion über eine neue Sicherheitsarchitektur ist die Anerkennung der Souveränität aller europäischen Länder. Putin stellt jedoch nicht nur die Souveränität der Ukraine, sondern auch jene der grossen europäischen Staaten offen infrage und strebt direkte Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten an, um Europa in Einflusssphären aufzuteilen. Für jegliche sinnvolle Friedensgespräche macht ihn das zu einem unwahrscheinlichen Partner. Dennoch ist es wesentlich, die Voraussetzungen für Verhandlungen mit einer künftigen russischen Regierung zu schaffen, die verantwortungsbewusst und nicht imperialistisch ist und die Souveränität aller europäischen Nationen respektiert.
Linke Kommentator:innen anerkennen weithin, dass die Nato das Blockdenken fördert, Anreize für eine gegenseitige Militarisierung schafft und letztlich zur Instabilität in Europa beiträgt. Dennoch führen Forderungen nach ihrer Reduzierung oder gar Auflösung ins Leere. Denn seit 2022 hat sich die Nato-Mitgliedschaft für Länder in der Nähe von Russland zu einer entscheidenden Sicherheitsgarantie entwickelt. Das hat der rasche Beitritt Schwedens und Finnlands gezeigt. Vorschläge zur Auflösung der Nato, ohne den sich zu Recht bedroht fühlenden Gesellschaften klare und praktikable Sicherheitsgarantien zu bieten, dürften bei den Europäer:innen entsprechend auf grossen Widerstand stossen.
Anerkannt werden sollte auch, dass die Existenz der Nato – vielleicht kontraintuitiv – auf das militärische Abenteurertum ihrer Mitglieder abschreckend wirken kann. Zwar ist es möglich, dass ein einzelnes Mitglied trotz der Einwände anderer Mitglieder in den Krieg zieht – insbesondere im Fall der USA als führender Militärmacht innerhalb des Blocks. Die Nato-Mitgliedschaft verpflichtet dennoch zur Koordinierung mit anderen, möglicherweise weniger kriegslüsternen Mitgliedsländern. Dies steht im Gegensatz zur OVKS, wo es keine Mechanismen für eine kollektive Entscheidungsfindung gibt, die die Interessen aller Mitglieder berücksichtigen.
Die neue Organisation
Ein vielversprechenderer Ansatz wäre die Schaffung einer neuen Organisation, die alle europäischen Akteure einschliesst, die derzeit durch die Rivalität zwischen den Blöcken gespalten sind. Statt die Auflösung der bestehenden Blöcke zu fordern – was in Kriegszeiten unweigerlich als feindlich empfunden wird –, würde eine gesamteuropäische Sicherheitsorganisation dem Grundsatz der Unteilbarkeit kollektiver Sicherheit entsprechen. Um den Erfolg einer solchen Initiative zu gewährleisten, müssen drei Leitprinzipien beachtet werden:
1. Gemeinsame Sicherheit. Die Logik von Militärblöcken führt unweigerlich dazu, dass Länder ihre Sicherheit als «gegen» andere gerichtet wahrnehmen. Eine neue Organisation, die alle europäischen Nationen einschliesst, muss stattdessen davon ausgehen, dass Sicherheit nur gemeinsam, durch Zusammenarbeit mit anderen, erreicht werden kann und nicht in Opposition zu ihnen.
2. Mechanismen zur Entscheidungsfindung. Die Mitgliedschaft in der neuen Organisation ist nicht mit einem Souveränitätsverzicht verbunden; alle Mitglieder verpflichten sich aber, sich an die gemeinsam gefassten Beschlüsse zu halten. Militäroperationen und die Aufstockung von Rüstungsgütern müssen kollektiv ratifiziert werden. Die Organisation ist zwar kein Militärbündnis, erleichtert und fördert aber gemeinsame militärische Übungen, um Vertrauen und Zusammenarbeit aufzubauen.
3. Achtung der Souveränität. Jeder Mitgliedstaat behält die volle Souveränität über seine Sicherheitsangelegenheiten und kann sich an anderen Bündnissen und Sicherheitsorganisationen beteiligen. Dies bedeutet, dass die bestehenden Blöcke nicht aufgelöst werden müssten, sondern dass ihre europäischen Mitglieder einer übergreifenden Struktur beitreten würden, ohne ihre Verpflichtungen in anderen Organisationen aufzugeben. Für die europäischen Nato-Mitglieder würde dies die Abhängigkeit von den USA verringern und zusätzliche Mechanismen zur Gewährleistung der Sicherheit schaffen.
Die vorgeschlagene Sicherheitsstruktur kann nur erfolgreich sein, wenn zwischen den Mitgliedern ein Grundvertrauen besteht. Dieses muss auf gemeinsamen Grundsätzen beruhen, wobei die Unannehmbarkeit eines Krieges und die Souveränität eines jeden Landes im Mittelpunkt stehen. Es sei zudem daran erinnert, dass der relative Erfolg der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 (KSZE) nicht nur auf Sicherheitsbelangen beruhte, sondern auch auf einer breiteren Basis gemeinsamer Werte. Dazu gehörten die Garantien für die Menschenrechte (was etwa zur Verringerung der politischen Unterdrückung in der UdSSR führte) wie auch das Gebot der nuklearen Abrüstung.
Klarheit für die Linke
Heute nun braucht es eine Erweiterung und eine Aktualisierung dieses Rahmens. Entscheidend ist, dass auf allen Seiten des Konflikts ein dringender Bedarf an substanzieller Demokratisierung besteht. Machtkonzentration, die Krise der politischen Repräsentation und die weitverbreitete Politikverdrossenheit in ganz Europa bilden den Nährboden für einen unverantwortlichen Militarismus der Regierungen. Die Demokratisierung könnte die notwendigen Kontrollen der derzeitigen Entscheidungsfindungen einführen, die Möglichkeiten für unkontrollierte politische Manöver verringern und die allgemeine Sicherheit erhöhen. Eine gemeinsame Agenda – etwa kollektive Massnahmen gegen die Klimaerwärmung und die Bekämpfung der Ungleichheit – könnte ebenfalls eine solide Grundlage für solche Abkommen bilden.
Anstatt alle Hoffnungen auf die Nationalstaaten zu setzen, plädieren wir für eine bedeutende Rolle von Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, NGOs, lokalen und anderen Gemeinschaften. Die Linke kann mit ihrem Programm, Frieden auf Gerechtigkeit zu gründen, eine entscheidende Rolle beim Aufbau einer neuen, integrativen Sicherheitsarchitektur spielen. Die Verabschiedung dieser Agenda durch progressive Kräfte in ganz Europa würde der Friedensbewegung zu programmatischer Klarheit verhelfen. Im gegenwärtigen Kontext eines akuten militärischen Konflikts und eines begrenzten rechtlichen Raums für den politischen Kampf in vielen Ländern können die Slogans «Frieden» und «Abrüstung» mit willkürlichen Inhalten gefüllt und von Pro-Putin- und rechtsextremen Kräften politisch manipuliert werden. Es ist an der Zeit, vage Friedensaufrufe durch einen konkreten Vorschlag zur Erreichung eines dauerhaften Friedens zu ersetzen, der nicht auf dem guten Willen einzelner Akteure mit einer Geschichte des Opportunismus beruht.
Die neue Organisation sollte alle europäischen Nationen als Einzelmitglieder einbeziehen, um ein Patt zwischen den Blöcken zu verhindern. Bestehende Militärbündnisse bleiben in Kraft und beeinflussen weiterhin das Sicherheitskalkül der einzelnen Mitglieder. Die gemeinsame Mitgliedschaft in dieser neuen Struktur wird jedoch eine Plattform bieten, um die Blockdynamik mit den Grundsätzen gemeinsamer Sicherheit in Einklang zu bringen.
Beobachter aus dem Süden
Wie lässt sich sicherstellen, dass sich die neue Organisation durchsetzt? Schliesslich könnte sich jedes Mitglied über kollektive Entscheidungen hinwegsetzen, seine Mitgliedschaft aussetzen und zu einseitigen militärischen Massnahmen greifen. Dieses Szenario kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, solange die Staaten ihre Souveränität behalten – aber es gibt Möglichkeiten, die Anreize für nicht kooperatives Verhalten deutlich zu verringern.
Obwohl ein dauerhafter Frieden in Europa nur durch Vereinbarungen zwischen allen europäischen Nationen erreicht werden kann, ist die europäische Sicherheit in der heutigen globalisierten Welt das Anliegen einer viel breiteren Gruppe von Akteuren. Daher würde das stabile Funktionieren einer europäischen Vereinigung von der Teilnahme externer Beobachter:innen profitieren. Vor allem Grossmächte aus dem Globalen Süden könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Wie der Krieg gegen die Ukraine zeigt, ziehen Länder wie Indien, Brasilien und Südafrika Frieden in Europa eindeutig einem Konflikt vor – und sei es nur, um dessen globale Auswirkungen zu vermeiden. Allerdings haben diese Länder derzeit wenig Möglichkeiten, das Verhalten der sich bekriegenden Regierungen zu beeinflussen, wie sie auch 2022 den Ausbruch des Krieges nicht verhindern konnten. Die Gewährung eines formellen Beobachterstatus würde ihnen echte Einflussmöglichkeiten geben – zusammen mit der Verantwortung, die mit einer solchen Rolle einhergeht.
Eine Möglichkeit dieser Länder, ihren Einfluss geltend zu machen, sind die Vereinten Nationen. Würden europäische Akteure in der Uno an den Rand gedrängt, wenn sie sich den Bemühungen aussereuropäischer Mächte widersetzten, dürfte das als zusätzliche Kontrolle für schädliche Absichten dienen. Es liegt auf der Hand, dass die fortschreitende Degradierung der Uno und anderer Institutionen, die das Völkerrecht aufrechterhalten, weiterhin ein erhebliches Hindernis für jede Friedensinitiative darstellen wird. Die Strategie, für die hier plädiert wird, besteht jedoch darin, eine grössere Interdependenz zwischen allen wichtigen globalen Akteuren zu fördern. Die Schaffung eines Systems der vernetzten Entscheidungsfindung in Europa kann dazu beitragen, den Geist der gemeinsamen Sicherheit weltweit wiederzubeleben.
China und die USA sind weniger als Vermittler geeignet, da beide stark in die Unterstützung eines der rivalisierenden Blöcke in Europa involviert sind: die USA als führende Macht innerhalb der Nato und China als enger Verbündeter Putins. Die Anwesenheit dieser beiden Grossmächte als Beobachter für die Konsensbildung innerhalb der Organisation ist dennoch von entscheidender Bedeutung. Wichtig ist, dass keiner der Beobachter Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Organisation hätte. Die Sicherheit Europas bleibt allerdings grundsätzlich in der Verantwortung der Europäer:innen – ein wichtiger Grundsatz, insbesondere in einer Zeit zunehmender Spannungen zwischen China und den USA. Die Vereinigung der europäischen Länder in einem einheitlichen Rahmen ist entscheidend, um zu verhindern, dass der Kontinent zum Schlachtfeld für Stellvertreterkriege wird.
OSZE als Ausgangspunkt
Die Gründung einer neuen Organisation ist immer eine schwierige Aufgabe – aber es gibt Präzedenzfälle, die als Grundlage dienen können. Die OSZE ist heute eine der wenigen Plattformen, aus der sich die potenziellen Mitglieder der neuen Organisation nicht zurückgezogen haben. Auch wenn die OSZE in erster Linie als ein Tisch für Verhandlungen fungiert hat und demnach kein Vorbild für die hier vorgeschlagene Struktur ist, kann sie als Ausgangspunkt dienen. Vor allem beweist die OSZE, dass es möglich ist, eine neue Ordnung zwischen den europäischen Nationen zu schaffen, wenn der politische Wille vorhanden ist.
Die siebziger Jahre waren geprägt von der Bereitschaft auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, gemeinsame Spielregeln festzulegen. Dieser Prozess erforderte nicht nur Verhandlungen, sondern die Schaffung einer neuen, dauerhaften Einheit mit einer eigenen Agenda. Damit die neue Organisation effektiv funktionieren kann, muss das Vertrauen von Grund auf wachsen. Gemeinsame Aktivitäten sind dafür weitaus wirksamer als einfache Verpflichtungen. Daher muss sich die Organisation auf Bemühungen wie die gemeinsame Bewertung externer Risiken für die europäische Sicherheit, militärische Übungen und die Entwicklung kollektiver Regeln in Bereichen wie Cybersicherheit und Terrorismusbekämpfung konzentrieren.
Während die Forderung nach einer langfristigen Lösung für die militärische Krise, die Europa auseinanderreisst, auf dem ganzen Kontinent lauter wird, sollten sich fortschrittliche Kräfte das Prinzip zu eigen machen, das ihrer Politik natürlicherweise innewohnt: Solidarität. Es ist unwahrscheinlich, dass Konflikte durch die Errichtung von Grenzen, die Anhäufung von Waffen oder die Stärkung von Militärblöcken gelöst werden – selbst wenn sich diese Massnahmen kurzfristig als notwendig erweisen. Die etablierten Parteien Europas schwanken verzweifelt zwischen zwei aussichtslosen Optionen: einen Krieg ohne klares Ziel zu führen oder die Souveränität europäischer Nationen zu opfern.
Die hier vorgeschlagene Lösung vereint die europäischen Staaten im Rahmen einer neuen Sicherheitsarchitektur – ein Projekt, das in den Gesellschaften Europas auf Resonanz stossen dürfte und das es wert ist, von progressiven politischen Kräften unterstützt zu werden. Die Schaffung einer neuen Sicherheitsarchitektur kann nur gelingen, wenn sie von den politischen Kräften in ganz Europa gemeinsam entwickelt wird: aus dem Osten, aus dem Westen, aus dem Norden und aus dem Süden. Frieden liegt im Interesse der europäischen Gesellschaften, Krieg dient jenem der Eliten.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.