Fernsehen: Augen zu und durch

Nr. 11 –

Reality TV hat noch nie gesellschaftliche Wirklichkeit gezeigt, gab aber immer Aufschluss über die Verhältnisse und ihre Ideologie. Was heisst es, dass mit «Love Is Blind» nun wieder die Liebe in ihrer regressivsten Form auf dem Programm steht?

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Still aus der TV-Serie «Love Is Blind»
Wartet hinter der Pforte die wahre Liebe? Eine Teilnehmerin der achten Staffel von «Love Is Blind». Still: © 2025 Netflix, Inc

Vor recht genau 25 Jahren wohnte die Öffentlichkeit einem folgenreichen «Sozialexperiment» bei. In einen komplett videoüberwachten «Container» zogen ein knappes Dutzend Kandidat:innen ein, um sich wochenlang rund um die Uhr beim Wettstreit filmen zu lassen, wer es am längsten darin aushalte. Streit, Intrigen, Freundschaft, Liebe, Sex, überblendet von gähnender Langeweile und Ödnis des beengten Alltags – «Big Brother» begründete das Zeitalter des Reality TV. Ein Vierteljahrhundert hat dessen Authentizitätsversprechen nun die Populärkultur geprägt, begleitet von Be-yourself-Büchern und dem Aufstieg des Influencermarketings. Was ist seitdem aus uns geworden?

Das Format der Realityshows entstand als Synthese aus den Seifenopern und Telenovelas jener Zeit mit ihren stereotypen Personengefügen sowie den zum Tabubruch tendierenden Talkshows nach US-Vorbild. Jüngst zeigte eine Netflix-Dokumentation über den Talkmaster Jerry Springer, wie die Beziehungskonflikte und Geständnisse der in der Show vorgeführten Gäste eine von den Produzenten bewusst herbeigeführte Eskalation, also eine Manipulation, darstellten.

Genese des Reality TV

So gehörte der Betrug von Beginn an zum Reality TV dazu: Es ging nie um Realität im eigentlichen Sinn. Das Konzept bestand vielmehr darin, Menschen in eine durch und durch künstliche Situation zugespitzter gesellschaftlicher Zwänge zu versetzen. Gruppenabhängigkeit und Autonomiekonflikte, Balzverhalten und Buhlen um Alphamännlichkeit, Schönheitsideale und Liebessehnsucht wurden mit Schlaf- und Privatheitsentzug, Mobbing und jeder Menge Druck zu einer «geskripteten Realität» verdichtet. Aber warum war und ist genau diese Grundformel so erfolgreich?

Grundsätzlich bietet das Reality TV zwei Varianten. Einerseits geht es in Formaten wie «Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!» (Dschungelcamp) oder «Das Sommerhaus der Stars», aber auch etwa «Germany’s Next Topmodel» in erster Linie um Demütigung. Die grosse Anziehung dieser Formate dürfte vor allem darin liegen, die übermässig selbstbewussten, aber meist nur halbprominenten Protagonist:innen scheitern zu sehen. So werden sie quasi dafür bestraft, sich als intakte Persönlichkeiten zu zeigen. Wenn in der «Dschungelprüfung» Känguruhoden gegessen werden müssen, aber auch wenn einfach nur knallharter Wettbewerb herrscht und «Heidis Mädels» kollabieren, dann sind das Eskalationen jener Demütigung, die wir alle tagtäglich unter den Bedingungen gesellschaftlicher Abhängigkeit erleben.

Andererseits gibt es die «Kuppelshows», deren Hauptmotiv Versöhnung ist. Diese kommt in Form der romantischen Liebe, die schon immer als Trostpflaster für das gesellschaftliche Elend herhalten musste. «Der Bachelor» und «Die Bachelorette» neben den Diversity-Spin-offs wie «Prince/Princess Charming» oder eben der jüngste Welterfolg «Love is Blind» handeln von einer Suche nach Erfüllung und Einswerdung mit dem «perfekten Partner». Und, so die tröstende Hoffnung, weil es ja prinzipiell zu jedem Topf einen Deckel gebe, könne man die Liebe eben auch im Fernsehen finden.

Demütigung und Versöhnung sind dabei nur scheinbare Gegensätze. Nicht umsonst gibt es Formate wie «Are You the One?», «Love Island» oder «Temptation Island», die die an Liebessuche oder Treuetest Teilnehmenden unter Bedingungen von Gruppenzwang, Alkohol und tagelangem «Partymachen» vorführen. Der Reiz sind hier die Widersprüche selbst, die sich vorm TV gefahrlos konsumieren lassen: dass die «echten» Menschen zu totalen Stereotypen ausgehöhlt sind; dass wir selbst entscheiden, aber der «Vibe» stimmen muss, ja dass Selbstfindung insgesamt ein Ergeben an schicksalhafte Mächte bedeutet; dass wir Diversity- und feministische Themen behandeln, während zugleich eine Bande von Bros beim Dating «auf Angriff» geht. Diese Widersprüche sind gesellschaftliche – und wie sie in der Massenkultur verarbeitet werden, daran lässt sich auch ein gesellschaftlicher Zustand ablesen.

Datingmarathon im Refugium

Besonders aufschlussreich ist gegenwärtig die weltweit erfolgreiche Realityshow «Love Is Blind». Jüngst ging die achte Staffel des US-Originals zu Ende, das während der Coronalockdowns 2020 zum Streaminghit aufstieg. Mittlerweile gibt es zehn internationale Ableger, etwa in Deutschland, Grossbritannien, Japan oder gar den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das Prinzip ist überall dasselbe: Von Social-Media-Selbstdarstellungen ermüdete Singles werden in einem Refugium für einen Datingmarathon zusammengebracht und nähern sich einander in sogenannten Pods an: In kleinen Kabinen sitzen sie auf Sofas und machen sich Notizen, ihr jeweiliges Gegenüber können sie dabei hören, aber nicht sehen. Auch Aussagen über das eigene Aussehen sind tabu.

Wenn es den Paaren nach einigen Dates gelungen ist, eine «tiefe emotionale Bindung» aufzubauen, können sie sich verloben und sind dann nur noch vier Wochen, einen Pärchenurlaub und eine Testphase in einer geteilten Wohnung von der Traumhochzeit entfernt. Bei dieser müssen sie beweisen, «dass Liebe wirklich blind ist», also dass sie unabhängig von «Aussehen, Alter, Finanzlage und all den oberflächlichen Dingen der Welt» den «heiligen Bund» der Ehe eingehen.

Immer wieder wird betont, wie einzigartig diese Erfahrung sei, wie stark die Gefühle und wie gross die Liebe. Faktisch aber sind sie auf simple Kennzeichen wie «Familienmensch» oder «Kinderwunsch» zurückgeworfen oder darauf, dass jemand treu, religiös, unternehmungslustig oder eben nicht ist. So versichern sich die Beteiligten, dass sie in den Pods wirklich über alles miteinander gesprochen hätten. Doch dann provozierte in der letzten US-Staffel der blosse Versuch, etwa über Konservatismus und Abtreibungen zu sprechen, die irritierte Gegenfrage eines Teilnehmers, warum «die starke Connection» durch solche Konflikte gefährdet werden solle.

Der Wunsch, die Augen vor der Welt zu verschliessen und gerade dadurch die Erfüllung zu finden – es ist nicht schwer, darin die Suche nach Trost angesichts der drohenden Verheerungen zu identifizieren. Von allem Konkreten zu abstrahieren, um dadurch zu einer Art Essenz wahrer Liebe zu gelangen, ist ein alter Hut bürgerlicher Ideologie. Sollte nicht die bürgerliche Rechtsordnung genauso blind für konkrete Unterschiede der Einzelnen sein wie Justitia, die antike Göttin der Gerechtigkeit? Unter den Bedingungen des drohenden Zivilisationsverlusts durch Krieg und Klimakatastrophe wird daraus, dass man Lebenspartnerschaft und das eigene Glück einer höheren Macht anvertraut, der man blind folgt.

Der sichere Hafen der Ehe revisited

So überschütten sich die Kandidat:innen in Endlosschleife mit Liebesbekundungen, was für «amazing persons» sie seien und dass sie noch nie solche Gefühle gehabt hätten, während sie dabei in Mimik und defensiver Körpersprache versteinern. Fast so, als ahnten sie, dass diese Charaktere, die einander in den Kapseln der Realitätsflucht begegnen und darin für etwas anderes halten, als sie «draussen» hätten finden können, ihre gesellschaftlichen Beschädigungen unweigerlich mitbringen. Die Liebe, die gegenüber der Realität blind sein will, bringt nicht die Erfüllung eines Traums, sondern ist die Vorwegnahme des Albtraums, vor dem man draussen weglief. Daher ist die Projektionsfläche der Liebe hier ihre biederste Form, die Ehe. Alle Ansprüche auf Befreiung, ein anderes Leben, Vielfalt und Selbstbestimmung wurden für den vermeintlich sicheren Hafen aufgegeben, aus dem zugleich eine Art Todessehnsucht spricht, es möge für «immer und ewig», also zu Ende sein.

Natürlich wäre es selbst wieder naiv, den Botschaften des Reality TV Glauben zu schenken, als würde es hier wirklich um Liebe und Menschen gehen. Bei mageren Gagen und prekären Bedingungen am Set, die sogar schon zu so etwas wie Arbeitskämpfen geführt haben, ist die Verheissung lediglich, dass sich die Teilnahme später mit einer gewachsenen Social-Media-Reichweite monetarisieren lasse. Genau diese instrumentelle Beziehung zur Liebe ist wiederum Teil jener gesellschaftlichen Demütigung, die hier in Form der romantischen Versöhnung nicht aufgehoben, sondern zementiert wird. Die blinde Liebe derjenigen, die sich von der Welt abwenden, gleicht damit der blinden Wut derer, die sie brennen sehen wollen.