Neue Karten: Den Atlas in Rente schicken

Nr. 11 –

In den Niederlanden ist Henk van Houtum als «Grenzprofessor» bekannt. Eine Kritik des europäischen Migrationsregimes beginnt für ihn mit einer Kartografie, die Menschen und ihre Beziehungen in den Mittelpunkt rückt.

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Gezeichnete Fluchtroute von Aleppo, Syrien über die Türkei, Griechenland, Mazedonien nach Serbien
Eine sprechende Karte: Gezeichnete Fluchtroute aus einem von Henk van Houtums Einführungskursen. © nai010 publishers

«Die Kartografie ist tot, es lebe die Kartografie!», ruft Henk van Houtum – und 800 Geografielehrer:innen brechen in Applaus aus. Der grosse Saal im Veranstaltungszentrum «1931» in Den Bosch ist an diesem Vormittag bis auf den letzten Platz besetzt. Warmes, gedämpftes Licht fliesst über den dunkelblauen Teppich. Die Königlich-Niederländische Geografische Gesellschaft hat zu ihrer jährlichen Unterrichtstagung geladen, ein Branchentreffen mit einigem Renommee. «Hier zu sprechen, ist schon eine Hausnummer», wird van Houtum später sagen.

Zu verdanken hat der 55-Jährige, der Politische Geografie und Geopolitik an der Radboud-Universität in Nijmegen lehrt, diesen Ritterschlag seinem letztes Jahr erschienenen Buch «Free the Map». Es ist ein Plädoyer für eine neue Kartografie: eine, die ihren Gegenstand vom rein nationalstaatlich geprägten Denken befreit. Ihr zugrunde liegt ein gänzlich anderes Verständnis von Grenzen – mit den Menschen und ihren Beziehungen im Mittelpunkt. Dieses Verständnis wiederum führt zu einem Blick auf Migration, der sich vom derzeit vorherrschenden stark unterscheidet.

Sein soeben beendeter Vortrag, während dessen van Houtum von seinem Stehpult aus mal gestikulierend, mal mit federnden, raumgreifenden Schritten die grosse Bühne vermass, ist ein Geflecht aus Anekdoten, Bildern und Karten. Darin zeigt er, wie Letztere die Welt formen – und sie verzerren. Zwei Motive ragen dabei heraus: eine Darstellung der mythologischen Figur des Atlas, schwer leidend unter dem Gewicht der Weltkugel auf seinen Schultern. Und René Magrittes bekanntes Gemälde «La trahison des images», das eine Pfeife zeigt und dazu die Unterschrift «Ceci n’est pas une pipe», dies ist keine Pfeife.

«Bei Magritte sehen wir keine Pfeife, sondern nur die Abbildung davon. So ist es auch mit der Weltkarte: Sie zeigt nur eine Abbildung der Welt, einen Vorschlag für eine Perspektive, sie darzustellen», erklärt van Houtum. Dass eine zweidimensionale Karte die Wirklichkeit vereinfacht wiedergebe, sei an sich kein Problem. Nur: «Es wird so getan, als sei die Weltkarte, die wir kennen, objektiv. Das ist natürlich unmöglich. Hinter jeder Karte stecken subjektive Entscheidungen – angefangen mit der Frage, welche Daten man sammelt und ihr zugrunde legt. Warum also gibt es nur diese eine Weltkarte statt 1001 unterschiedlicher?»

Wer begrenzt wen?

Das Grundmodell der Weltabbildung, wie wir es kennen, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Angefertigt hat es der flämische Kartograf Gerardus Mercator, der auch die Bezeichnung «Atlas» für eine Kartensammlung prägte. Es handelte sich dabei um eine Navigations- und Entdeckungskarte, die der kolonialen Seefahrt als Grundlage diente. «Diese koloniale Komposition und die Frage, welche Staatsmacht wo regiert, sind zu unserem dominanten Weltbild geworden, das wir von klein auf überall sehen. Mit dieser nationalistischen Karte werden wir täglich konfrontiert: in der Politik, beim Wetter, in der Werbung. Aber das ist nicht die Welt: Ceci n’est pas le monde», meint der Wissenschaftler.

Portraitfoto von Henk van Houtum
Henk van Houtum, Kartograf

Genau darum will Henk van Houtum, der in den Niederlanden unter dem Spitznamen «Grenzprofessor» bekannt ist, den Atlas als kartografisches Modell in Rente schicken. Die nationalstaatliche Perspektive, erklärt er, vernachlässige den Blick auf Menschen, ihre Beziehungen und Verbindungen untereinander, auch über Grenzen hinweg. Überhaupt Grenzen: Anders als auf der Weltkarte dargestellt, seien diese keine festen Linien und auch nicht einfach da, sondern würden gemacht. Das jedoch verkenne das Atlasmodell. «Border map trap», nennt van Houtum das, die Falle der Grenzkarte.

Deshalb spricht er selbst auch lieber von «bordering» statt von «border». Das Verb soll ausdrücken, dass Grenzen eben nicht statisch seien, sondern ein Prozess, der fortwährend Aktivitäten und Akteur:innen benötige, um instand gehalten zu werden. «Grenzen sind offen für manche Aktivitäten und geschlossen für andere. Bestimmte Akteur:innen dürfen sie passieren, andere dagegen nicht. Das bedeutet, dass wir uns fragen müssen: Wer begrenzt eigentlich wen, warum und mit welchen Konsequenzen?»

Menschen als Invasion

Aus diesem Verständnis leitet sich der zweite wesentliche Vorwurf ab, den van Houtum der konventionellen Kartografie macht: die «migration map trap», wie er sie nennt. Fürs geografische Fachpublikum in Den Bosch illustriert er diese mithilfe einer Frontex-Karte, auf der sich dicke, rote Pfeile bedrohlich von Süden und Osten auf die EU zubewegen. «Hauptnationalitäten illegaler Grenzübertritte», steht daneben. «Die Botschaft ist: Wir werden von Massenmigration bedroht», erläutert van Houtum. «Menschen auf der Flucht werden oft wie auf einer militärischen Karte als feindliche Invasion visualisiert, als Risiko. Dabei verlaufen Fluchtrouten alles andere als geradlinig. Wer heute Migration so darstellt, verbreitet die Auffassung, dass sich die EU verteidigen müsse – egal mit welchen Mitteln! Und das sehen wir: Die EU-Aussengrenze ist die tödlichste Grenze der Welt.»

Als der Applaus verklungen ist, wirdvan Houtum von zahlreiche Kolleg:innen und Bekannten umringt. Er ist viel unterwegs in diesen Wochen, hält Lesungen und Vorträge. Bei manchen steht das Akademische im Vordergrund, bei anderen die Politik, meist geht es um das europäische Grenzregime. Der Auftritt in Den Bosch ist nicht nur fachlich ein Meilenstein, sondern liegt ihm auch persönlich am Herzen: Bevor er auf die Bühne kam, begrüsste die Moderatorin seine Eltern im Publikum, die inzwischen über achtzig und nicht oft dabei sind, wenn ihr Sohn als Dozent in seinem Element ist.

«Free the Map» ist in jedem Fall ein deutliches Statement, das Gehör und ausführliche Rezensionen findet – zumal in einem Land, in dem im Jahr seines Erscheinens die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid erstmals an die Macht gelangte. Dass die PVV inzwischen die stärkste Partei in den Niederlanden ist, liegt vor allem daran, dass sie verspricht, die Migration zu begrenzen. Zugleich wird in der EU der Ruf nach migrationspolitischen Offshorelösungen immer mehr Konsens. Lager vor den Toren Europas, Pushbacks, die zwar illegal, doch seit Jahren geduldet sind, Forderungen, das Asylrecht auszusetzen: Das ist die Realität zehn Jahre nach dem «Flüchtlingssommer».

Wie entwickelt ein Wissenschaftler in diesem Kontext einen Ansatz mit explizit politischer Botschaft? So etwas bespricht sich leichter im akademischen Heimathafen Henk van Houtums: auf dem Campus der Radboud-Universität. Als Treffpunkt schlägt er das Cultuurcafé vor. «In einem Café sind die Leute gleichwertig, es ist weniger hierarchisch und statisch», begründet er die Ortswahl per Textnachricht. Dass er sich hier regelmässig mit Kolleginnen und Studenten bespricht, hat auch noch einen anderen Grund: «Das Gebäude, in dem ich arbeite, hat den Charme eines Versicherungskomplexes.»

In Nijmegen lehrt er nicht nur ‹Geopolitics of Bordering›, ‹Borders and Identities in Europe› oder gibt eine Einführung in die Kartografie. Ende der neunziger Jahre gründete van Houtum das Nijmegen Centre for Border Research mit, das er bis heute koordiniert. Seit Jahren finden auch Wissenschaftler:innen von ausserhalb Europas ihren Weg hierhin. Der Spitzname «Grenzprofessor» geht freilich auf ein Symposium zurück, auf dem van Houtum einmal so angekündigt wurde.

Einer der zentralen Punkte in «Free the Map», aber auch in van Houtums Vorträgen, ist das, was er die «Visumgrenze» nennt. Der Blick auf Grenzen, erläutert er, sei bestimmt durch Zäune und Mauern. «Wir zoomen eigentlich immer auf Grenzen, die zu einem Spektakel gemacht werden, etwa wenn Donald Trump eine ‹big, fat, beautiful wall› ankündigt. Natürlich ist das vor allem eine Botschaft an die eigenen Wähler:innen: ‹Alles kommt in Ordnung, wir schützen euch!› Die Visumgrenze ist dagegen nicht sichtbar und wird auch auf der Weltkarte nicht dargestellt, ist dafür aber umso fühlbarer. Sie existiert eigentlich nur auf dem Papier oder in Computern, ist aber am schwersten zu überwinden.»

Rational ist dieser Kontrast nicht erklärbar: Die einen werden, wie van Houtum das nennt, mit einem «goldenen Löffel» im Mund geboren – einem Pass, etwa dem niederländischen, der ihnen Zugang zu über 180 Ländern verschafft. Vor den anderen erhebt sich die tödlichste Grenze der Welt. Die europäischen Verfassungen verbieten Diskriminierung nach Herkunft, in der Grenzpolitik gehört sie allerdings zum Standard. «Im Prinzip ist das der Ursprung der sogenannten Flüchtlingskrise. Hier beginnt eigentlich die undokumentierte Reise, hier beginnen Schmuggel, Chaos und Heimlichkeit. Die Panik davor ist also selbst verursacht.»

Argwohn und Angst

Henk van Houtum ist überzeugt davon, dass auch Wissenschaftler:innen nicht apolitisch auf die Welt blicken. Politik, sagt er, liege «nicht ausserhalb von, sondern in uns», weil Werte und Normen dem menschlichen Blick immer eigen seien. Insofern haben die Ereignisse seit 2015 seinen Fokus auf die europäische Grenzpolitik noch einmal geschärft. «Ich bin nicht naiv, ich sehe, was geschieht», sagt er mit Nachdruck. «Und das erfüllt mich mit sehr viel …» – er hält inne und denkt nach – «Argwohn dagegen, aber auch Angst davor, wohin die Welt sich bewegt.» Was seine Antwort darauf sei? «Noch mehr Leidenschaft», kommt es jetzt ohne Zögern, denn genau das sei Dozieren für ihn. «Eine fantastische Aufgabe – meine Art, auf die Strasse zu gehen und die Dinge zu verändern.»

Am Beginn der Veränderung liegt, aus dieser Perspektive betrachtet, eine andere Art der Kartografie. In seinen Einführungskursen in Nijmegen beschäftigt sich van Houtum ausführlich mit dem «countermapping», und auch sein jüngstes Buch enthält viele entsprechende Beispiele. Manche sind sehr persönlich, etwa wenn Migrant:innen ihre Reiseerfahrungen skizzieren, andere von Künstlern, Designerinnen und Kartografen aufwendig gestaltet. Es sind Karten, die, wie van Houtum es ausdrückt, «die Welt nicht teilen, sondern verbinden, die Kartografie wieder lebendig machen können: Gegenentwürfe, um die jahrhundertelange Dominanz des Atlas infrage zu stellen».

Buchcover von «Free the Map. From Atlas to Hermes. A New Cartography of Borders and Migration»
Henk van Houtum: «Free the Map. From Atlas to Hermes. A New Cartography of Borders and Migration». nai010 publishers. Rotterdam 2024. 200 Seiten.