Dorothee Wilhelm (1963–2025): Mut, Kraft, Liebe

Nr. 12 –

Nachruf auf die feministische Theologin, Psychotherapeutin und Autorin Dorothee Wilhelm.

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Portraitfoto von Dorothee Wilhelm
Dorothee Wilhelm Foto: Trix Niederau

Wer Dorothee Wilhelm begegnete, konnte mit Klarheit rechnen. Klar war sie immer, in ihren Gedanken, in dem, was sie sagte und was sie schrieb. Ihr scharfer Intellekt verband sich mit einem hinreissenden Humor; doch wenn es um etwas ihr wirklich Wichtiges ging, setzte sie auch klare Grenzen.

Dorothee wuchs im Saarland auf, und nachdem wir festgestellt hatten, dass uns die saarländische Herkunft verband, begrüsste sie mich gern mit «Hallo, Landsfrau!». In ihrem Lebenslauf verbindet sich so viel, dass er problemlos auf mehrere Leben verteilt werden könnte, und keines davon wäre langweilig.

Ein paar dürre Fakten: Nach dem Studium der katholischen Theologie (was sie schon nach drei Semestern aufgegeben hätte, wäre sie nicht der feministischen Theologie begegnet) und der Erziehungswissenschaften in Münster wanderte Dorothee für die Stelle als Leiterin der Zürcher Geschäftsstelle beim Hilfswerk Christlicher Friedensdienst CFD 1994 in die Schweiz aus. Mit fast fünfzig Jahren schloss sie 2012 ein Psychologiestudium an der Uni Zürich ab und machte sich als Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene selbstständig.

Doch die Fakten sagen wenig aus, wenn man sie nicht mit Dorothees Grundhaltung verknüpft. Sie war Feministin bis in die Tiefen ihrer Persönlichkeit, sie hatte einen untrüglichen Gerechtigkeitssinn, der sie bei all ihren Engagements leitete, und vor allem: Sie mochte Menschen und kam besonders mit Kindern und Jugendlichen warmherzig und schnell in Kontakt.

Den Widerspruch, katholisch und feministisch zu sein, löste sie auf, als der Papst Abtreibung öffentlich als Massenmord bezeichnete. «Es gab schon sehr lange bessere Gründe, aus der katholischen Kirche auszutreten, als es nicht zu tun», schrieb sie 2019 in der WOZ. «Mit einem Kirchenaustritt wird kein Druck aufgebaut, die Institution ist nicht demokratieanfällig. […] Aber jetzt möchte ich der Institution meinen Teil ihrer Mittel entziehen, ein bisschen Kirchensteuer. Ich trete aus.»

2020 reiste Dorothee im Auftrag der NGO One Happy Family mit einer Freundin ins griechische Flüchtlingslager Moria, «um Freiwillige in psychologischer Erster Hilfe und Selbstfürsorge zu trainieren». Am Tag nach ihrer Ankunft brannte Moria ab, ihr Bericht findet sich in der WOZ Nr. 43/21. Der schwierige Einsatz ist nur ein Beispiel für das vielfältige Engagement, mit dem Dorothee sich immer wieder für die Unterstützung geflüchteter Menschen einsetzte.

Welche Energie in all dem steckte, wird erst wirklich deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Dorothee ihr Leben im Rollstuhl bewältigte – die Folge eines in der Kindheit falsch behandelten Geburtsgebrechens.

Dorothee wollte sich nicht behindern lassen, sie unternahm weite Reisen, zum Beispiel nach Bolivien, um einen Freund zu besuchen. Darüber, wie sie auf einer Strasse in Cochabamba versuchte, den Autos auszuweichen, schrieb sie 2013 in der WOZ: «Ich muss mich nicht über mangelnden Respekt vor meinen Rechten ärgern, denn ich habe keine.» Dass es auch die Schweiz bis heute nicht schaffte, ihr 2004 in Kraft gesetztes Behindertengleichstellungsgesetz umzusetzen, war ihr ein grosses Ärgernis.

In letzter Zeit litt Dorothee häufig an schweren Infekten mit resistenten Keimen. Als sie erfuhr, dass weitere medizinisch-kurative Optionen für sie eine völlige Bettlägerigkeit bis ans Lebensende bedeutet hätten, entschied sie mit der ihr eigenen Klarheit, auf Essen und Trinken zu verzichten. Dorothee starb am 9. März, gut betreut und von engen Freund:innen begleitet, im Zürcher Lighthouse.