Flucht: Elend hinter weissen Wänden

Nr. 43 –

Auf der griechischen Insel Lesbos leben weiterhin Tausende Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen. Eine persönliche Erinnerung an ihr Schicksal.

«Woher kommst du?», fragt er. «Wie heisst du?» Er kommt aus Afghanistan, spricht gebrochen Englisch. «Besuch mich in meinem Haus im Camp, Nummer 119. Ich möchte dir meine Gastfreundschaft zeigen.» Ich versuche zu erklären, dass ich nicht kommen kann, weil ich nicht ins Camp darf. Er versteht mich vielleicht, vielleicht nicht. Einige kleine NGOs haben Zugang zum neuen Camp, viele nicht. Kara Tepe heisst das Camp, das nach dem Brand von Moria 2020 schnell vom Militär aufgebaut wurde – eine zynische Namensgebung: Kara Tepe (türkisch für «Schwarzer Hügel») war der Name der Unterkunft für Familien und allein reisende Frauen zur Zeit von Moria, deutlich menschenwürdiger eingerichtet als das übrige Lager, mit festen Häusern.

Das aktuelle Camp dagegen gilt den meisten NGOs als die üblere Version von Moria. So hat sich Médecins sans frontières (MSF) zurückgezogen, weil das Hilfswerk unter dem neuen Regime der griechischen Regierung, die das Camp übernommen hat, nicht mitmachen will. Bei einem grossen Player mag dies politisches Gewicht haben – viele kleine NGOs fanden sich vor der Frage, ob besser sie wenigstens ein paar Menschen einige Stunden Auszeit vom Lagerleben anbieten oder die Geflüchteten ganz dem Militär überlassen.

Moria war eine brüllend heisse Hölle, ausgelegt für 2000 Geflüchtete, aber mindestens 20 000 Menschen waren dort tatsächlich untergebracht. Sie lebten zwischen Müll und Fäkalien und waren ständig von Gewalt durch andere Geflüchtete oder Rechtsextreme bedroht. Im September 2020 war ich mit einer Freundin dort, um Freiwillige in psychologischer Erster Hilfe und Selbstfürsorge zu trainieren. Die Trainings fanden in Gartenrestaurants statt, weil die Gebäude der NGO One Happy Family (OHF), für die wir arbeiteten, zuvor einer Brandstiftung zum Opfer gefallen waren.

Wir kamen einen Tag vor dem grossen Brand von Moria an.

Starke Motive

Im allgemeinen Chaos mussten sich die NGOs erst einmal selbst neu organisieren; drei lange Tage konnten wir nichts tun. Dann konnte ich Trainings durchführen – jeweils angepasst an die engen Zeitfenster und an die konkreten Fragen der Freiwilligen: Wie gehe ich angemessen mit traumatisierten Menschen um? Die Kurzfassung: «Tu alles, was im Überlebensmodus hilfreich ist, aber ohne jemanden anzufassen, da du nie wissen kannst, welcher Schrecken im Körper wo gespeichert ist. Gib etwas Heisses, Süsses zu trinken. Gib Essen, eine warme Decke.» Okay – und abgesehen von dieser Ersten Hilfe? «Lass die andere Person wählen, gib ihr möglichst viel Kontrolle. Sprich herzlich, rede von Sicherheit und Freundlichkeit, die Sprache spielt keine Rolle – dass die Botschaft freundlich ist, wird ankommen.» Also sind alle Geflüchteten traumatisiert? «Keineswegs alle Menschen, die Schreckliches erlebt haben, sind traumatisiert. Der Mensch ist kein Kaffeeautomat. Es besteht kein linearer Zusammenhang zwischen dem, was erlebt wurde, und der Reaktion.» Wie unterbreche ich eine Panikattacke? «Geh nicht weg. Atme zusammen mit der Person …»

Sehr viel gefragter als die Trainings waren nach dem Feuer die Einzelgespräche mit jungen Freiwilligen aus der ganzen Welt, viele selbst mit Fluchthintergrund; manche hatten auch in Moria gelebt. Jetzt fanden sich diese Freiwilligen mitten in einem kriegsähnlichen Szenario wieder: zum Beispiel die Dreissigjährige, deren Kontakt zu ihrer NGO abgebrochen war, als sie unbegleitete Minderjährige evakuierte, während Rechtsextreme auf Motorrädern über die Hügel kamen, um die Leute zu hindern, das brennende Camp zu verlassen. Eine 21-jährige Italienerin, nennen wir sie Lea, habe ich zweimal getroffen, weil sie eine akute Belastungsreaktion zeigte, nachdem sie während des Feuers von Geflüchteten massiv bedroht worden war.

Alle Freiwilligen konnten psychisch den Weg zurücklegen von Schrecken, Wut oder Gefühlen der Ohnmacht hin zum Motiv, weshalb sie auf die Insel gekommen waren: Sie waren hier, um einen Beitrag gegen das unerträgliche Unrecht Moria zu leisten. Wegen dieses starken Motivs verliess niemand das Einzelgespräch mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben.

Dann gab es noch Said, der eigentlich anders heisst, dessen Interview für seinen Asylantrag erneut um drei Monate auf Dezember verschoben worden war. Er konnte die neue Warteschleife nicht noch einmal geduldig ertragen, sondern stand morgens nicht mehr vom Bett auf, weil er den Glauben an den Sinn seiner jahrelangen Anstrengungen verloren hatte. Ich traf ihn im Park, denn in unserem Hotel war eine tschechische Frontex-Einheit untergebracht. Er erzählte mir von einer wahllosen Erschiessung in einem Supermarkt, die er im Herkunftsland erlebt hatte – ich unterbrach ihn: «Ich kann diese Geschichte nicht mit dir anschauen, weil ich in zwei Wochen wieder weg bin. Aber ich kann mit dir zusammen etwas Wirksames herausfinden, sodass du bis Dezember überlebst. Sind wir uns einig, dass das jetzt dein Job ist – die nächsten drei Monate zu überleben?» Wir waren uns einig.

Ein Raum zum Reden

2021 wäre ein solches Treffen nicht möglich. Zwei bis drei Stunden pro Woche dürfen Geflüchtete das Camp verlassen – oder auch nicht. Der Ausgang wird vom Campmanagement willkürlich bestimmt. Im neuen Lager leben heute 3000 Menschen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es auf einem ehemaligen Schiessplatz steht, wo sich noch Munition finden lässt und der Boden bleiverseucht ist. Kinder sind besonders gefährdet, wenn sie zu hohen Bleimengen ausgesetzt sind. Es greift ihr Nervensystem an, kann bleibende Hirnschäden verursachen.

Wie es heisst, hat die Gewalt im Lager abgenommen. Die Geflüchteten werden häufig durchsucht, das Camp wirkt von aussen klinisch. Geflüchtete dürfen nichts selbst machen wie in Moria, wo sie eine Coiffeurecke und Teeküchen betrieben. Es heisst, der Ausgang werde in Zukunft weiter eingeschränkt. Hinter den weissen Wänden verelenden die zur Untätigkeit gezwungenen Leute still in der unabsehbaren Warteschleife bis zu ihrem Asylverfahren. War Moria eine heisse Hölle, so ist Moria 2.0 (Kara Tepe) eine gefrorene.

Während unseres Aufenthalts führten wir verschiedene Trainings auf dem Gelände von One Happy Family durch. Wir, das sind 2021 zwei Freundinnen aus der Schweiz und mein Kollege aus Barcelona, der wie ich für das Team von OHF als Psychologe tätig ist. Wir versuchen, ein möglichst einfaches und grundlegendes Programm für die Auseinandersetzung mit Rassismus und Sexismus anzubieten, das auch ohne uns weiterlaufen kann. Wir begleiten Gruppen von Freiwilligen beim Austausch über eigene Erfahrungen als Betroffene von Diskriminierung sowie als Urheber:innen von Diskriminierung.

Wir wollen das gleiche Programm mit einem Antifa-Kollektiv durchführen, das entgegen den herrschenden Vorschriften in der Stadt Essen an Geflüchtete ohne Unterstützung, die ausserhalb des Camps leben, verteilt. Aber an diesem Abend geschieht Überraschendes: Ein junger afghanischer Mann beginnt, von sich zu sprechen, sehr persönlich. Miteinander sprechen lernen unter belastenden Bedingungen und hohem Arbeitsdruck, wirklich sprechen, vertrauensvoll, in geschütztem Rahmen – ich lerne erst jetzt, wie wichtig das ist. Das im engen Sinn traumatische Erleben eines Übersetzers, der einer Familie den Tod ihres Kindes mitteilt, hat hier ebenso Platz wie die grosse Einsamkeit und Leere eines jungen afghanischen Mannes.

Bis 2017 kam die Mehrheit der Leute, die auf Lesbos landeten, aus Syrien, inzwischen kommen vor allem Menschen aus Afghanistan. Ich sehe einige afghanische Frauen auf dem Gelände von OHF, viele mit Haarschleier, keine mit Gesichtsschleier. Meistens schauen sie mir lange ins Gesicht. Wenn sie mein Lächeln für echt befinden, lächeln sie zurück. Kontakt ohne Worte. Es würde sich lohnen, Farsi zu lernen, denke ich. Wie es aussieht, werden wir noch lange auf afghanische Menschen auf der Flucht treffen.

Eine Einzelne reicht

Freiwillige mit Fluchthintergrund bei OHF haben vor dem Brand bis zu 1000 Essen pro Tag zubereitet und verteilt, das Gelände war stets sehr gut besucht. Aktuell kommen wegen des neuen Lagerregimes etwa 200 Besucher:innen. Es landen auch immer weniger Geflüchtete auf der Insel an, denn die Migrationsverhinderung wird krasser, und der Rückgriff auf die Coronamassnahmen sucht allzu oft, doch nur scheinbar rational zu verschleiern, dass die Grenzzäune immer höher und die Pushbacks skrupelloser werden sowie Frontex und Küstenwachen immer massloser aufgerüstet werden. Lohnt es sich, die Infrastruktur von OHF aufrechtzuerhalten für so viel weniger Besucher:innen?

Die, die kommen, entspannen sich auf dem Gelände, kommen offensichtlich gern, lachen, spielen Basketball, trinken Orangensaft und Kaffee, laden ihre Handys auf. Während unseres Aufenthalts ist der Berliner Kinderzirkus Cabuwazi auf dem Platz. Die Kinder laufen auf Stelzen, stehen auf Bällen und suchen ihr Gleichgewicht, fangen gleichzeitig Ringe. Wie wertvoll dies für ihre psychische Balance ist – ich denke, das versteht man ohne Psychologiestudium.

Ich sehe Lea zufällig in der Stadt, sie sieht grossartig aus. Said hat inzwischen Asyl erhalten – er spricht mich an, ob ich ihn noch kenne. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt, so strahlend und aktiv.

Die pure Anwesenheit der NGOs und der Freiwilligen hilft, selbst wenn sie weniger tun können, als sie möchten. Dass sie da sind, zeigt, dass es nicht allen in Europa egal ist, was in Moria geschieht. Folgendes ist in der psychologischen Traumaforschung gut belegt: Wenn ein politischer Gefangener eine einzige Person sieht, die sagt: «Was man hier mit Ihnen macht, ist Unrecht», ist seine Chance, psychisch stabil zu bleiben, viel grösser als ohne diese Person.

«Chubi?» heisst «Gehts gut?» in umgangssprachlichem Farsi, die korrekte Formulierung kann ich nicht aussprechen oder schreiben. «Nein, nichts ist hier gut, wie es ist», möchte ich antworten, aber dafür reicht mein Farsi nicht. Weiterhin tun, was zu tun ist? Ja.

Dorothee Wilhelm (58) ist Psychotherapeutin und feministische Theologin. 2020 und 2021 führte sie jeweils psychologische Trainings für Freiwillige der Schweizer NGO One Happy Family durch.