Lobby gegen SexarbeitDie Frauenzentrale Zürich gibt sich progressiv, ist in den letzten Jahren jedoch zur wichtigsten Kämpferin für ein Sexkaufverbot geworden – und spannt dafür mit Evangelikalen zusammen.

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Eindringlich schauen eine Handvoll Schwedinnen und Schweden in die Kamera, das Fernsehpublikum sprechen sie direkt an. Oder besser gesagt: Sie lesen den Schweizer:innen die Leviten: «Ihr lebt immer noch im Mittelalter!», «Mit Frauen als Sexsöldnerinnen!», «Achtzig Prozent aller Prostituierten würden gerne aufhören – wenn sie könnten!» Und zum Schluss ein Kind: «Tut etwas!»

Mit dem Video startete die Zürcher Frauenzentrale 2018 ihre Kampagne für ein Sexkaufverbot nach schwedischem Vorbild: «Für eine Schweiz ohne Freier. Stopp Prostitution» lautete der Slogan des Dachverbands von Frauenorganisationen im Kanton Zürich. Man habe damit eine Debatte angestossen, schrieb die Frauenzentrale in ihrem damaligen Jahresbericht. Wie viel das Produzieren und Verbreiten des moralisierenden Videos, das Sexarbeit mit Ausbeutung gleichsetzt, gekostet hat, weiss die damalige Präsidentin Andrea Gisler nicht mehr, die Werbeagentur Publicis habe aber nicht alles verrechnet.

Andrea Gisler hat das Präsidium des Dachverbands im Jahr darauf aufgegeben. Die Anwältin engagiert sich als GLP-Kantonsrätin aber weiterhin für ein Sexkaufverbot. Die Frauenzentrale wiederum wird inzwischen von Olivia Frei geleitet; sie ist auch Stiftungsrätin bei Interfeminas, einer Stiftung, die Publikationen zu Genderforschung oder Gleichstellung finanziell unterstützt.

Frei engagiert sich mit mindestens so viel Herzblut wie ihre Vorgängerin für ein Verbot des Sexkaufs: Die Frauenzentrale organisiert Anlässe, die das sogenannte nordische Modell propagieren, und initiierte mit anderen Organisationen die Kampagnenplattform Porta Alliance. Zudem hat sie, wie Frei am Telefon erzählt, eine Arbeitsgruppe mit Politikerinnen aus etwa zehn Kantonen gegründet, um in kantonalen Parlamenten «Verbesserungen bei der Prostitution» zu erwirken. Es gehe um Sensibilisierung, Prävention und auch um «Ausstiegshilfen». Dabei arbeitet die Frauenzentrale insbesondere mit den Mitte-Frauen zusammen. Man könnte auch sagen: Die Frauenzentrale Zürich treibt schweizweit die Politik vor sich her, hartnäckig und ausdauernd – mit dem Ziel, zu kriminalisieren, wovon sexarbeitende Frauen leben.

«Die allerhässlichste Fratze»

Die 1914 von bürgerlichen Frauen gegründete Zürcher Frauenzentrale und diejenige in St. Gallen waren die ersten in der Schweiz, später wurden weitere derartige Frauenverbände gegründet. Nach 1945 schlossen sich in Zürich die Sozialdemokratinnen an. Heute ist der Dachverband politisch breit abgestützt. Zu den rund 130 Kollektivmitgliedern zählen etwa die Mitte-Frauen sowie der Evangelische Frauenbund, Kantonalparteien der EVP, der Grünen, der GLP und der FDP-Frauen, aber auch ländliche Frauenvereine, Juristinnen oder der Katholische Frauenbund – sowie zahlreiche soziale und kulturelle Organisationen.

Die Frauenzentrale gibt sich betont progressiv und engagiert sich in wichtigen feministischen Themen, etwa für gendergerechte Medizin. Aber Sexarbeiterinnen definieren Olivia Frei und ihr Team konsequent als Ausgebeutete und verwenden dabei den stigmatisierenden Begriff «Prostitution». Die Allianz, mit der sie «Opfer» «befreien» will, reicht von der politischen Mitte bis weit ins evangelikale Spektrum. Diesen März lud die Frauenzentrale zur Vernissage eines Buchs des schwedischen Polizisten und Sexkaufverbotsaktivisten Simon Häggström, es ist auf Deutsch in einem christlichen Verlag erschienen.

Auf die Frage, weshalb sie 2018 die Kampagne gegen die Sexarbeit lancierte, antwortet die damalige Präsidentin Gisler, die als Juristin eine renommierte Gleichstellungsexpertin ist, am Telefon: «Wenn man zulässt und es okay findet, dass Frauen wie Ware gekauft werden können, werden wir nie Gleichstellung haben. Prostitution ist die allerhässlichste Fratze des Kapitalismus.» Und Olivia Frei, seit 2022 alleinige Geschäftsführerin der Frauenzentrale, sagt, sie habe gewusst, dass die Kampagne ein wichtiger Teil ihrer Arbeit sein werde: «Ich stehe zu hundert Prozent dahinter. Für mich ist ein Sexkaufverbot konsequent feministisch gedacht.» Sie argumentiert, die Rechte von Sexarbeiterinnen würden so gestärkt. Auf den Einwand, dass es doch die Rechte der Frauen einschränke, wenn ihre Dienstleistung nicht mehr legal gekauft werden dürfte, verweist sie auf Schweden, wo seit über 25 Jahren ein Sexkaufverbot gilt: «Wer weiter in der Prostitution tätig sein will, kann das ja. Die Kundschaft wird einfach weniger.» Und die Frauen erhielten mehr Hilfe zum ‹Ausstieg›.

«An dunkelste Orte, zu den schrägsten Leuten»

Als die Geschäftsstelle der Frauenzentrale 2018 zum Grossangriff auf die Sexarbeit blies, war das ein Affront gegen jene Mitglieder, die sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Sexarbeiterinnen engagieren, allen voran die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Dort rieb man sich die Augen ob der Kampagne der Frauenzentrale. FIZ-Leiterin Lelia Hunziker erinnert sich, wie es 2018 anfing, sie war damals neu in ihrer Funktion: «Uns war klar, dass die Frauenzentrale fortan unsere Arbeit und unsere Ziele hintertreiben würde. Also entschieden wir, aus dem Verband auszutreten.» An der Generalversammlung 2019 wollte Hunziker den Austritt begründen – und damit die Gelegenheit ergreifen, die Frage in den Raum zu werfen: «Warum verbeisst sich unsere Dachorganisation in ein Sachthema – und dann noch mit der diametral anderen Position als der der eigenen, darin kompetenten Mitglieder?» Als sie nach einer langen GV endlich an der Reihe war, sei ihr die Präsidentin immer wieder ins Wort gefallen. Gisler sagt auf Nachfrage, Hunziker habe einen langen Text vorgelesen: «Ich bat sie, zu einem Ende zu kommen.»

Auch das Zürcher Frauenhaus schied seither aus dem Dachverband aus. Dafür traten neue Organisationen bei, etliche aus dem Wellnessbereich. Ferner die ultrarechte «Zürcher Volkspartei – Frauen für Freiheit und Sicherheit» – und: Heartwings. Mit dieser Organisation arbeitet die Frauenzentrale im Kampf gegen die Sexarbeit schon länger eng zusammen. Der 2008 vom Ehepaar Peter und Dorothée Widmer gegründete Verein verfolgt die Mission, Sexarbeiter:innen zum «Ausstieg» zu bewegen. Wobei «Mission» wörtlich gemeint ist: Peter Widmer ist Pastor. Sein Theologiestudium absolvierte er beim Institut für gemeindeorientierte Weiterbildung (IGW), das mit der Chrischona-Freikirche zusammenarbeitet.

Heartwings hat seine Büros an der Zürcher Langstrasse, im ersten Stock eines unauffälligen Gebäudes. Das Gründerpaar ist offiziell nicht mehr operativ tätig, aber am Eingang immer noch namentlich erwähnt. Die beiden engagieren sich weiterhin für die Vermarktung des Vereins. In einem Video der Reihe «IGW Talks» erzählen sie ihre Geschichten. Es sind Berichte von Missbrauch im Kindesalter, von viel Leid – und dem Wendepunkt. Peter Widmer durchlief die IGW-Ausbildung und fand eine Stelle als Pfarrer in einer kleinen «Family Church». Dann habe das Paar gemerkt, dass es sie näher zu den Menschen ziehe: «Wir wollten nicht länger warten, bis die Leute in die Kirche kommen, sondern sie dort abholen, wo sie leben. Von der Kanzel zum Rotlichtviertel.» Wie Jesus, der «Freund der Sünder», gingen auch sie «in die Bordelle, an dunkelste Orte, zu den schrägsten Leuten». Diese würden sie auch begleiten, «aus dem Milieu raus, bis sie eine eigene Arbeit haben […]». Dritter Arbeitsbereich: «Dass wir eine Stimme sind, in den Schulen, in den Kirchen, aber auch in den Medien. Wo sich Türen aufgetan haben. Wo wir offen über Menschenhandel und Sexsklaverei reden. Und auch Politiker:innen die Augen öffnen.»

Dass Sexarbeiterinnen «aussteigen», ist primäres Ziel der Organisation mit unter zehn Mitarbeiterinnen, sagt die operative Leiterin Jael Schwendimann am Telefon. Man sei aufsuchend unterwegs. Für «Erstkontakte» betreibt Heartwings ein Nagelstudio, wo Frauen auch gratis Kleidung mitnehmen können. Wenn eine Frau sage, sie wolle aussteigen, erhalte sie bei Heartwings oder einer Partnerfirma einen Job, meist in der Reinigung, sowie einen Ort zum Wohnen. «Dass jede Frau, die am Programm teilnimmt, gut verdient, ist uns megawichtig», sagt Schwendimann, «denn die wirtschaftliche Lage ist ja der Grund, weshalb viele überhaupt in die Prostitution gingen.»

Nach dem konkreten Lohn gefragt, antwortet die operative Leiterin: «Wir orientieren uns am Mindestlohn, den die Stadt Zürich einführen will. Und jede arbeitet hundert Prozent.» Der von der Stadt vorgeschlagene Mindestlohn soll 23.90 Franken die Stunde betragen. Das macht bei einer Hundertprozentstelle rund 4000 Franken im Monat, so steht es auch im Vertrag, den Schwendimann als Beleg schickt. Sie führt aus: Trotz vollem Lohn arbeiteten die Frauen effektiv nur fünfzig bis sechzig Prozent – die restliche Zeit sei für Behördengänge, Therapie, Beratung, Fahrstunden oder Weiterbildungen reserviert.

Der WOZ liegt noch ein anderer Heartwings-«Ausstiegshilfe»-Arbeitsvertrag vor. Zum Schutz der Frauen einzig diese Information: Arbeitspensum und Lohn liegen deutlich unter hundert Prozent, aber unregelmässige Arbeitszeiten verunmöglichen es, anderweitig dazuzuverdienen. Von bezahlter Beratung, Therapie und Weiterbildung steht im Vertrag nichts. Schwendimann beharrt auf ihrer Darstellung: Sie könne sich nicht vorstellen, was das für ein Vertrag sei. Auf die Frage, wie hoch der Lohn bei den Partnerbetrieben von Heartwings ist, antwortet sie: «Wir schauen, dass er dort nicht signifikant tiefer ist, als wenn sie bei uns angestellt sind.» Konkrete Zahlen nennt sie nicht, auch nicht die Namen der Partnerfirmen.

Das passt zur Kommunikation der Organisation: Die Teammitglieder sind auf der Website nur mit Vornamen aufgeführt, auch die Vorstandspräsidentin unterzeichnet im Jahresbericht 2022 mit ihrem Vornamen: Stephanie. Die Namen der Vorstandsmitglieder sucht man auf der Website und im Jahresbericht 2024 vergeblich. Nur 2023 sind sie mit vollständigen Namen erwähnt: Als Präsidentin fungiert Stephanie Keller, als Vizepräsident Thomas Zindel, Buchhalter ist ein Kurt Meier, Aktuar ein Markus Schenk.

Unterstützung vom Kanton

Stephanie Keller leitet mit ihrem Mann die christliche Stiftung Schleife, zu der auch ein Verlag gehört, der laut der Sektenfachstelle Relinfo Werke «auch von amerikanischen Autoren, meist mit pfingstlichem oder neocharismatischem Hintergrund, publiziert». Thomas Zindel gehört zum «Campus für Christus». Auf der Website der Organisation lässt er sich zitieren: «Gott hat sein ganzes Potenzial seinem Leib, der Kirche, anvertraut. Seit 32 Jahren helfe ich innerhalb von Campus mit, dieses Netzwerk zu stärken, um Teil der kommenden Erweckung zu sein.» Anders als es Verein und Frauenzentrale darstellen, ist Heartwings also weiterhin evangelikal ausgerichtet. Dennoch wird der Verein von der öffentlichen Hand unterstützt: 2022 erhielt die NGO, die derzeit gemäss eigenen Angaben acht Frauen in ihrem «Ausstiegsprogramm» betreut, 50 000 Franken vom Kanton. 2025 seien es nach einer Pause 40 000 Franken, sagt Schwendimann.

Heartwings ist nicht die einzige evangelikale Organisation, mit der die Frauenzentrale zusammenspannt. Das zeigt sich bei der 2024 von der Frauenzentrale gegründeten Kampagnenplattform Porta Alliance, mit der sie das Thema Sexkaufverbot weiter pushen will. Partnerinnen sind dabei die äusserst diskrete «Non-Profit-Organisation» End Demand Switzerland sowie die Westschweizer Organisation Perla, die eindeutig freikirchliche Bezüge hat. Perla ist so etwas wie das Pendant zu Heartwings in der Westschweiz. Darüber hinaus werden die Forderungen von Porta Alliance von weiteren freikirchlichen Organisationen unterstützt, die auf der Website aufgelistet sind: Bloved, ein christlicher Verein, der in Luzern Frauen aus der Sexarbeit zu befreien sucht; From my heart to yours in Biel; und Heartwings. Auch die EVP und die Mitte-Frauen sind gelistet.

Bemerkenswert: Selbst im christlich-konservativen Netzwerk, in das sich die Frauenzentrale verstrickt hat, ist die Forderung nach einem Sexkaufverbot nicht unumstritten. Emmylou Ziehli, Koleitern von Perla und SVP-Politikerin, jedenfalls sagt, ihre Organisation sei zwar Porta Alliance beigetreten, hinterfrage inzwischen aber, ob ein Sexkaufverbot richtig sei: «Wir teilen die Haltung, dass man Prostitution nicht verharmlosen darf, wollen aber noch einmal diskutieren, ob es nicht andere, auf die Schweiz angepasste Lösungen braucht.»

Politisch ist die Forderung nach einem Sexkaufverbot bislang nicht mehrheitsfähig: 2022 lehnte der Nationalrat einen Vorstoss von EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller deutlich ab. Auf kantonaler Ebene lancierten die Mitte-Frauen darum koordinierte Vorstösse für mehr «Ausstiegshilfe». Auch in den Medien findet die Lobbyarbeit Widerhall. So erscheinen etwa im «Tages-Anzeiger» regelmässig Artikel, die ein Sexkaufverbot fordern.

Was die Frauenzentrale dazu veranlasst, mit einem evangelikalen Prediger und mit weiteren verwandten Organisationen zu paktieren, bleibt ein Rätsel.