Kost und Logis: Was tun?
Ruth Wysseier über sechs vergessene Jungs

Eine wichtige Geschichte, die in diesen Zeiten erzählt werden muss, ist diejenige von den sechs schiffbrüchigen Jungs aus Tonga, die 1965 auf einer unbewohnten Insel fünfzehn Monate lang überlebten, bis sie von einem Schiff gefunden wurden. Wie war das möglich? Sie hatten Regeln für ihr Zusammenleben und den Umgang mit Streitigkeiten aufgestellt, einen Gemüsegarten angelegt, einen Sportplatz eingerichtet und es geschafft, rund um die Uhr ein Feuer in Gang zu halten.
Ich weiss nicht, wie viele WOZ-Leser:innen von dieser wahren Geschichte gehört haben. Ich bin jedoch sicher, dass sehr viele mehr «Lord of the Flies» (Herr der Fliegen) von William Golding kennen, eine fiktionale Geschichte über eine Gruppe von Buben, die nach einem Flugzeugabsturz auf einer Insel stranden. Über diesen dystopischen Roman, den Golding unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs schrieb und 1954 veröffentlichte, verfasste ich einst eine Seminararbeit. Die Geschichte hatte mich beeindruckt und entsetzt. Sie zeigt, dass der Mensch unter einer dünnen Schicht Zivilisation barbarisch ist, dass Ansätze zu demokratischen Regeln und Kooperation bald einmal chancenlos sind und sich das Recht des Stärkeren unausweichlich durchsetzt. Am Ende herrscht Chaos, es kommt zu Gewalt und Mord.
«Lord oft the Flies» wurde zweimal verfilmt und in alle wichtigen Sprachen übersetzt; allein auf Englisch wurden 25 Millionen Exemplare verkauft. Von den Jugendlichen aus Tonga hatte ich nie gehört, ich erfuhr ihre Geschichte durch den Historiker Rutger Bregman, er erzählt sie in seinem Buch «Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit». Er schreibt darin sehr überzeugend gegen die pessimistische Sicht auf die menschliche Natur an.
Warum wurden die Jungs aus Tonga nicht weltberühmt? Warum wurde ihre Geschichte nicht immer wieder von neuem erzählt, als Beispiel, das Hoffnung macht? Medien bevorzugen das Negative, machen es grösser, als es ist. Doch wenn wir in den Nachrichten unablässig erfahren, was schiefläuft, werden wir zynisch und depressiv. Was tun also? Ganz klar, wir müssen uns gegen die negativen Entwicklungen wehren. Aber um handeln zu können, brauchen wir die Hoffnung, dass Veränderung möglich ist. Ich versuche mir vorzustellen, wie eine WOZ aussehen könnte, die diesem Bedürfnis Rechnung trägt: Nehmen wir an, die Hälfte der Texte würde über Positives berichten – zum Beispiel über den Rückgang der Kindersterblichkeit, über den Aufbau einer erfolgreichen Nachbarschaftshilfe, über die Rückkehr der Kiebitze ins Grosse Moos dank einer neuen Biodiversitätsfläche, und ja, auch mal über gelungene Widerstandsaktionen gegen die aktuelle US-Regierung. Würde die WOZ damit ihre Aufgabe als vierte Gewalt, die unablässig den Mächtigen auf die Finger schaut, verraten? Wäre eine solche Zeitung noch relevant, oder würde sie belächelt? Fänden wir sie zum Gähnen? Ich wäre gespannt auf das Experiment.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie versucht, nur jeden zweiten Tag Nachrichten über die US-Regierung zu lesen.