Kost und Logis: Utopia im Bunker
Ruth Wysseier über das schwierige Zusammenleben
Gibt es in der Schweiz noch Ecken, die niemandem gehören, wo man mit Gleichgesinnten hinziehen und etwas ganz Eigenes machen könnte? Vier Privatleute meinten offenbar, im Berner Oberland gebe es herrenloses Land, das sie einfach zu ihrem Eigentum erklären könnten. Doch das Gebiet, so beschied ihnen nun die Behörde, gehört den Bergschaften von Grindelwald, einer korporativen Gemeinschaft zur Alpbewirtschaftung. Weshalb wir nun nicht erfahren werden, ob die Gruppe dort ein Réduit für Reichsbürger:innen gründen oder Geissen hütend der Welt entsagen wollte.
Mit Geld lässt sich eher etwas auf die Beine stellen: Sein spezielles Utopia realisierte letztes Jahr der junge Grenchner Millionär Elias Vogt. Er kaufte das Hotel auf dem Chasseral und erklärte die Gegend zur windräderfreien Zone. Opulenter vermags Herr Zuckerberg: Auf 566 Hektaren lässt er sich auf der hawaiianischen Insel Maui ein autarkes Zuhause bauen. Dass es dort auch einen Bunker geben wird, sagt viel über die jämmerliche Utopie des Bauherrn aus – und über unsere Zeit.
In meinen WG-Jahren, während wir um Regeln des Zusammenlebens rangen, träumte ich davon, auf der St. Petersinsel eine Kommune zu gründen. Hotel, Gutshaus, ein paar Reben und Felder, nur mit dem Schiff erreichbar, ein begrenztes Reich für ein soziales Experiment. Andere schwärmten von den besetzten Häusern an der Hamburger Hafenstrasse, doch mich schreckte ihr Dauerkampf gegen Polizei und Behörden ab. Eher reizte mich die Hippiefreistadt Christiania in Kopenhagen, wo trotz vieler Probleme bis heute rund tausend Menschen in einer staatlich geduldeten autonomen Gemeinde leben.
In der Realität verflog die Euphorie in unserer Gross-WG schon bald. Fröhliche Politaktionen wurden verdrängt durch mühselige Diskussionen: Wer bekommt weshalb das grösste Zimmer? Müssen wir die Beiträge in die Gemeinschaftskasse erhöhen oder beim Essen sparen? Wie bringen wir die Männer dazu, das WC zu putzen, auch wenn es in ihren Augen noch lang nicht zu dreckig ist?
Offensichtlich waren unsere Probleme weit entfernt von den Entwicklungen in William Goldings «Herr der Fliegen», das mich damals faszinierte. In dem Roman strandet eine Gruppe von Jungs auf einer Insel und scheitert beim Versuch, ihr Zusammenleben zu organisieren, brutal am Recht des Stärkeren. Wir dagegen konnten ausziehen, suchten uns eine neue WG oder wohnten allein.
Eine Gesellschaft zu organisieren, ist Schwerstarbeit. Dass heute Politik so erfolgreich mit der Abrissbirne betrieben wird, lässt mich verzweifeln. Den «Ausländer raus!»-Parteien möchte ich mit Friedrich August III., dem letzten sächsischen König, zurufen: «Macht doch euren Dreck alleene!» Ich gäbe ihnen ein kleines Reich für sie allein, alles made by SVP. Herr Aeschi am Presslufthammer, Frau Martullo putzt Büros, Herr Glarner beim Spargelstechen; danach würden sie vielleicht anders reden.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie ist stolz darauf, zwei alte Partisanen gekannt zu haben, die beim Aufbau der freien Republik Ossola (10. September bis 19. Oktober 1944) dabei waren. In den 44 Tagen, die sie bestand, wurde das öffentliche Leben reorganisiert; es wurden Parlamente eingerichtet und Dorfräte eingesetzt, Briefmarken herausgegeben und sogar eine eigene Zeitung.