Lernendenbewegung: Stifte im Klassenkampf

Nr. 12 –

Alle reden über Fachkräftemangel, aber kaum jemand über die Arbeitsbedingungen für Lernende. Die Gruppe Scorpio in Basel versucht jetzt, die Lehrlingsbewegung neu zu lancieren.

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Scorpio-Mitglieder mit Plakaten für die Demo am 22. März
«Von unten aus etwas aufzubauen, davon habe ich viel gelernt»: Scorpio-Mitglieder bereiten die Demo vom 22. März vor.

Jetzt also ein Werbetram: So will der Gewerbeverband Basel-Stadt seit rund zwei Wochen Jugendliche dafür motivieren, einen Handwerksberuf zu lernen. «Wir brauchen kein Werbetram», entgegnet die Gruppe Scorpio online und auf zwei Transparenten in der Stadt, «sondern bessere Arbeitsbedingungen!» Und artikuliert damit eine weiter reichende Problemanalyse als so mancher weinerliche Zeitungsbeitrag zum Fachkräftemangel.

Seit rund zwei Jahren kämpft Scorpio in Basel für bessere Bedingungen in der Berufslehre. Die Gruppe ist einzigartig in der Schweiz – obwohl gemäss Bundesamt für Statistik derzeit rund 200 000 Lernende eine berufliche Grundbildung absolvieren. Ihre spezifischen Interessen finden kaum Eingang in den öffentlichen Diskurs, auch in den linken nicht. «In der Linken, auch in den Gewerkschaften, wird wenig gemacht für junge Arbeiter:innen», sagt Sarah Steiner (20). Sie heisst eigentlich anders, «aber es geht meinen Lehrbetrieb nichts an, wie ich organisiert bin».

Geschichten der Ermächtigung

Organisiert ist Steiner schon seit dem ersten Lehrjahr; nun steht sie kurz vor ihrem Abschluss als Schreinerin. «Die Vernetzung hat mich bestärkt», sagt sie. «Nur schon, um zu merken, dass das, was mir passiert, nicht einfach an mir liegt; dass ich nicht zu wenig gut oder stark bin, sondern andere ähnliche Erfahrungen machen.» Steiner macht prägnante Aussagen und erzählt von haarsträubenden Erfahrungen in der Lehre. «Anfangs wurde ich richtig durch den Dreck gezogen: Die alten Männer haben mir gesagt, dass ich die Lehre eh nicht schaffe. Mein Chef hat mich gedrängt, ihm Essen zu kochen und seine Kinder abzuholen.» Als sie ihn darauf angesprochen habe, habe er bloss «väterlich» geantwortet, sie solle doch froh um ihre Ausbildung sein.

An den Sitzungen von Scorpio übersetzen sich solche individuellen Erfahrungen in Politik: «Du bist noch so jung, wenn du deine Lehre antrittst, und dann wirst du zum Fussabtreter des Chefs», sagt Billi Muse (23). «Das ist doch nicht fair!» Muse, der ebenfalls anders heisst, sitzt im Qusol, einem selbstverwalteten Quartierzentrum im Kleinbasel, wo die Gruppe jeweils zusammenkommt. Eine Art Sitzungszimmer, ein paar Transparente an der Wand, eher versifft, selbstverwaltet eben.

Muse hat auch unter der Woche Zeit. Seine Lehre zum Chemietechnologen hat er mittlerweile abgeschlossen, aber für Scorpio engagiert er sich weiterhin. Seine Ausbildung sei nicht schlecht gewesen, sagt er. Trotzdem habe es ihm viel gebracht, sich zu organisieren: «Von unten aus etwas aufzubauen, gemeinsam mit anderen jungen Leuten, davon habe ich viel gelernt. Und wir sprechen ja nicht nur über die Lehre miteinander.»

So wie Sarah Steiner erzählt auch Muse Geschichten der Selbstermächtigung. Einer seiner Mitstreiter:innen habe in der Ausbildung etwa immer wieder Rassismus erfahren. «Wir sind dann gemeinsam zum Betrieb und haben dagegen protestiert.» Letztlich seien solche Aktionen aber eine Begleiterscheinung. Scorpio ist zwar eher ein loser Zusammenschluss, will aber nicht bloss Aktionsgruppe sein, sondern kommt gewerkschaftlich daher – und will eine grundlegende politische Verbesserung erreichen.

Die Belastung der Jugendlichen ist riesig: anspruchsvolle Arbeit, Schule an den übrigen Tagen, Vollzeitarbeit während der Schulferien, Hausaufgaben an den Wochenenden und Prüfungsstress vor dem Einschlafen. Und das für ein Taschengeld – obwohl die Lernenden in vielen Betrieben unverzichtbar sind. «Viele machen die gleiche Arbeit wie die anderen Mitarbeiter:innen, verdienen aber praktisch nichts», sagt Muse. Die wichtigste Forderung der Gruppe betrifft denn auch den Lohn: Mindestens 1000 Franken im ersten Lehrjahr, mindestens 2000 im dritten (statt bloss gut 500 Franken im ersten und etwa 1000 im dritten wie in einigen Branchen). Scorpio fordert ausserdem etwa gratis ÖV-Tickets, sieben Wochen Ferien und Zugang zur Berufsbildung für abgewiesene Asylsuchende.

Der nächste Aufbruch

Es sind gar nicht so andere Forderungen, alssie schon Dieter Bäumli gestellt hat. Der heute 75-Jährige war einst Mitglied der Progressiven Lehrlinge Basel, einem Teil der Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch), die sich im Kontext der 68er-Proteste gegründet hatten. «Das war natürlich eine ganz andere Zeit», sagt Bäumli. «Es war Aufbruchstimmung, es war geil, links zu sein.» Die Bewegung publizierte eine eigene Zeitung und intervenierte, so wie Scorpio heute, in Betrieben. «Schon damals galt: Im ersten Lehrjahr wirst du für Drecksarbeit missbraucht, im dritten als vollwertige Arbeitskraft.» Einen Grosserfolg erzielte die damalige Bewegung an der Urne: Ihre Initiative für vier Wochen Ferien in der Lehre wurde angenommen.

Die Geschichte der Lehrlingsbewegung, einst in mehreren Städten präsent, ist heute weitgehend vergessen. Auch die Geschichtsforschung beschäftigt sich nur wenig mit ihr, wie die Erziehungswissenschaftler Philipp Eigenmann und Michael Geiss in einem Aufsatz von 2016 schreiben. Sie sprechen von «Unterrepräsentation», die wohl auch dem Umstand geschuldet sei, dass Akademiker:innen zum Kampf der Lernenden kaum einen persönlichen Bezug hätten – anders als zu Student:innenprotesten.

Scorpio interessiert sich für diese Geschichte. Am vergangenen Wochenende war Dieter Bäumli zu einer Veranstaltung eingeladen, um von seinen Erfahrungen zu erzählen. «Sie haben für vier Wochen gekämpft, wir heute für sieben», sagt Sarah Steiner. «Sie haben eine Zeitung gedruckt, wir schreiben Social-Media-Texte – diese Kontinuität macht uns Mut.» Wobei sie der grossen Lücke zwischen damals und heute nachtrauert: «All diese Jahrzehnte, in denen Lernende kaum organisiert waren – wieso eigentlich?»

Dass es schwierig ist, eine Lernendenbewegung über lange Zeit hinweg aufzubauen, liegt nahe. Die Progressiven Lehrlinge hätten sich nach etwa sechs Jahren aufgelöst, erzählt Bäumli. «Wenn die Leute mal in der Bewegung drin sind, sind sie in der Regel schon kurz vor dem Abschluss. Und drei Jahre später sind sie weg vom Thema.» Entscheidend sei deshalb, sich möglichst breit aufzustellen – Hunderte Lernende zu organisieren statt nur Dutzende.

Am kommenden Wochenende findet in Basel eine erste grosse Demonstration für bessere Bedingungen in der Lehre statt, beteiligt ist auch die FAJ, die Jugendorganisation der Basisgewerkschaft FAU. Die Mobilisierung nimmt Fahrt auf. Auch andere politische Organisationen wie die Unia, die Juso oder die Interprofessionelle Gewerkschaft der Arbeiter:innen (IGA) rufen zur Teilnahme auf. «Wir wollen Teil der linken Bewegung sein, aber selbstorganisiert bleiben», sagt Sarah Steiner. Auf Solidarität seien sie aber angewiesen: Für die politische Arbeit bleibe im Lehrlingsalltag kaum Luft, sagt sie. Oder in ihren Worten: «Wir sind ja immer am Arbeiten, immer am Arsch.»