Durch den Monat mit Scorpio (Teil 1): Warum fühlten Sie sich nicht gehört?
Die Missstände in der Berufslehre seien gross, das öffentliche Bewusstsein dafür hingegen viel zu gering, sagt die 23-jährige Schreinerin Leoni Wolff. Darum engagiert sie sich auch nach Abschluss ihrer Ausbildung bei der Lernendenbewegung Scorpio.
WOZ: Leoni Wolff, was ist das Tollste daran, Schreinerin zu sein?
Leoni Wolff: Ich arbeite gern mit meinen Händen und will verstehen, wie etwas funktioniert, wie es konstruiert ist, aus welchem Material es ist, woher dieses kommt. Und es ist cool, beim Arbeiten viel Bewegung zu haben.
WOZ: Wollten Sie immer ein Handwerk lernen?
Leoni Wolff: Nein, ich habe nach der Sekundarschule einen gestalterischen Vorkurs gemacht. Danach war ich selber ein bisschen überrascht, dass Schreinerin der Beruf war, der mich am meisten interessierte. Ich habe ein Praktikum gemacht und mit achtzehn die vierjährige Lehre angefangen. Ich wusste gar nicht, was mich erwartet; auf einmal hatte ich Verpflichtungen in einem Betrieb und der Berufsschule. Ich war fasziniert, aber auch oft gestresst, überfordert oder habe mich nicht gehört gefühlt.
WOZ: Warum das?
Leoni Wolff: Im Vergleich mit Bekannten, die keine Berufslehre machten, hatte ich das Gefühl, darauf getrimmt zu werden, einfach zu funktionieren und nicht zu viel zu hinterfragen. Ich musste meine Bedürfnisse stark zurückstecken, um die Lehre überhaupt durchzuziehen. Nachdem ich letztes Jahr abgeschlossen hatte, genoss ich meine Freiheit und probierte vieles aus, auch um herauszufinden, was ich eigentlich will. Aber während es nach dem Gymnasium völlig normal ist, ein Zwischenjahr zu machen, traf ich auf wenig Verständnis dafür, aus dem Arbeitsalltag ausbrechen zu wollen.
WOZ: Warum engagieren Sie sich bei der Lernendenbewegung Scorpio, obwohl Sie Ihre Lehre bereits abgeschlossen haben?
Leoni Wolff: Mir geht es vor allem darum, den Lernenden Gehör zu verschaffen. Ich möchte auf strukturelle Missstände und Abhängigkeitsverhältnisse aufmerksam machen. So richtig realisiert habe ich diese erst, als ich schon fertig war. Oft fehlt während der Lehre auch einfach die Zeit, sich zu engagieren. Und es ist ja so: Im Parlament zum Beispiel, oder auch im Journalismus, sind die vielen Menschen, die eine Lehre gemacht haben, völlig unterrepräsentiert. Darum ist es so wichtig, dass sich Lernende, auch ehemalige, organisieren. So erhalten sie ein direktes Sprachrohr.
WOZ: Wo sehen Sie die gröbsten Missstände?
Leoni Wolff: Da Lernende oft nur als günstige Arbeitskräfte gesehen werden, lautet unser zentrales Motto: «Ausbildung statt Ausbeutung». Die Belastung in Betrieb, Schule und überbetrieblichen Kursen ist enorm. Für die Vorbereitung auf Prüfungen gibt es kaum Zeit, geschweige denn für persönliche Förderung. Zudem willst du dich in deinem Team einbringen, wo du in der Hierarchie oft weit unten bist. Auch Diskriminierung ist ein Riesenthema in der Lehre.
WOZ: Wie waren Sie davon betroffen?
Leoni Wolff: Ich habe oft Sexismus und übergriffige Situationen erlebt, am heftigsten ist mir aber ein Mitarbeitendengespräch eingefahren. Als ich Dinge ansprach, die ich nicht okay fand, erhielt ich zur Antwort: «Du bist hysterisch.» Das zeigt gleichzeitig auf, wie wenig auf meine Bedürfnisse als Lernende eingegangen wurde – und wie man mich als Frau behandelte.
WOZ: Wie sind Sie damit umgegangen?
Leoni Wolff: Zum Glück gibt es in Zürich, wo ich die Lehre gemacht habe, einen Handwerker:innenstammtisch. Dort tauschen wir uns aus und stärken uns. Über dieselben Verbindungen gings später dann mit Scorpio weiter.
WOZ: Scorpio gibt es seit Anfang 2023, den Ableger in Zürich seit letztem April. Wie kam es dazu?
Leoni Wolff: Nachdem Scorpio Basel im März eine Demo organisiert hatte, fand sich ein Grüppchen zusammen, das sagte: Hey, das ist grossartig, das wollen wir auch in Zürich! Kurz vor dem 1. Mai haben wir uns vernetzt und fragten einfach mal an, ob wir einen Ableger machen können. Sie fanden es cool und halfen mit, uns aufzubauen. Diesen Sommer organisierten wir ein Wochenende im Jura, zu dem Leute von Scorpio Basel und Zürich kamen, um sich auszutauschen: Was wollen wir, was sind wir?
WOZ: Und, was wollen Sie, was sind Sie?
Leoni Wolff: Wir sind basisdemokratisch organisiert, nicht hierarchisch. Wer mitmacht, kann mitreden. So merken alle: Meist liegt das Problem nicht bei dir, sondern hat strukturelle Ursachen – wenn etwa Betriebe ihren wirtschaftlichen Druck oder Lehrpersonen ihre eigene Überforderung auf die Lernenden abwälzen. Und daraus leiten wir Forderungen ab, unabhängig von Parteien oder Gewerkschaften.
WOZ: Wie geht es bei Ihnen beruflich weiter?
Leoni Wolff: Seit dem Abschluss arbeite ich temporär, um grössere Freiheiten zu haben. Irgendwann möchte ich vielleicht etwas Eigenes aufbauen, aber zunächst fange ich in Biel ein Holztechnikstudium an. Holz ist ein megaspannender Baustoff, drum möchte ich etwas mehr theoretisches Wissen dazu sammeln. Auch wenn ich denke, dass man sich beim praktischen Arbeiten genauso wertvolles Wissen aneignet.
WOZ: Das heisst also: An sich finden Sie die Berufslehre nach wie vor etwas Tolles?
Leoni Wolff: Ja, das muss man auf jeden Fall sagen. Man lernt extrem viel – und kann es auch gleich anwenden. Die Strukturen müssen einfach unbedingt besser werden.
Scorpio hat in diesem Sommer eine Petition des Gewerkschaftsbunds unterstützt, die für Lernende acht Wochen Ferien einfordert Mit grossem Erfolg: Dem Bundesrat konnten vorletzte Woche 176 447 Unterschriften überreicht werden.