Zweiter Weltkrieg: Blinde Flecken der Bündner Geschichte
Ein Nazidenkmal schreckte vor zwei Jahren die Bündner Politik auf. Jetzt ortet ein Bericht Forschungslücken zur Geschichte vor und während des Zweiten Weltkriegs. Doch richtig angehen will sie der Kanton nicht.
Sogar die britische BBC reiste vor zwei Jahren nach Chur, um über das vermooste Monument mit markanter Frakturschrift zu berichten. Anfang 2023 machte SRF publik, dass auf dem Friedhof Daleu in Chur ein Nazidenkmal steht.* Der tonnenschwere Granitklotz mit der Aufschrift «Hier ruhen deutsche Soldaten» war 1938 als Teil eines nationalsozialistischen Totenkults errichtet worden, der Soldaten des Ersten Weltkriegs als Helden des Dritten Reichs inszenierte. Der Auftraggeber sass in Deutschland: der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, eine damals stramm nationalsozialistische Organisation. Zur Churer Ortsgruppe gehörten bekannte NSDAP-Mitglieder, an Feiertagen schmückten Grabkränze mit Hakenkreuzen den Stein.
Die politische Reaktion auf die Recherche folgte prompt. Einstimmig überwies das Bündner Parlament einen Vorstoss für ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus in Graubünden. Dabei sollten in einem ersten Schritt der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet und Forschungslücken identifiziert werden. Dabei sollte es aber nicht bleiben: «Darauf aufbauend wird die Regierung konkrete Forschungsprojekte in Auftrag geben und finanzieren.»
Dann wurde es still um dieses unrühmliche Kapitel der Bündner Geschichte.
Ende Februar kündigte die «Südostschweiz» in einer Randspalte «Neues zum Churer ‹Nazi-Stein›» an: Die beiden Historiker Christian Ruch und Andrea Tognina würden den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Faschismus präsentieren, Staatsarchivar Reto Weiss dann die weiteren Schritte des Kantons skizzieren.
Selten dürfte eine Veranstaltung der Historischen Gesellschaft Graubünden so gut besucht gewesen sein. Vor vollem Saal mit 160 Personen erklärte zuerst Historiker Andrea Tognina die blinden Flecken in der Geschichte des italienischen Faschismus. So habe es Sektionen der faschistischen Partei in Chur, Davos und in verschiedenen Orten in Südbünden gegeben. Doch der bisher umfassendste Bericht dazu sei fast achtzig Jahre alt: «Was wir zu den faschistischen Organisationen wissen, steht im Bericht der Bündner Regierung von 1946.» Togninas Abklärungen förderten zutage, dass auch Schweizer Kinder aus dem Puschlav an Sommerkolonien der Faschist:innen am Meer teilnahmen. «Das hat mich sehr erstaunt, weil die Kinder der Propaganda ausgesetzt waren.» Der Forschungsbedarf sei gross: «Der italienische Faschismus wird bis heute unterschätzt.»
Historiker Christian Ruch, zuständig für den Teil zum deutschen Nationalsozialismus, war es wichtig zu betonen, dass vieles bekannt sei: «Der Nationalsozialismus in Davos ist zum Beispiel sehr gut erforscht.» Doch auch er führte im Bericht zahlreiche Forschungslücken auf. Bezüglich der Bündner Flüchtlingspolitik etwa sei unklar, wie der Kanton ab März 1938 mit den Geflüchteten aus Österreich umgegangen sei. «Dringend untersuchen» müsse man auch die Tätigkeit der nationalsozialistischen Organisationen in Graubünden ausserhalb von Davos.
Was war los in der Höhenklinik?
Auf der Grundlage des historischen Berichts hat die Bündner Regierung beschlossen, zwei Projekte voranzutreiben. Dabei sind die von den beiden Historikern Tognina und Ruch aufgezeigten Forschungslücken beim italienischen Faschismus und bei den nationalsozialistischen Organisationen allerdings kein Thema.
Einerseits will der Kanton das Archiv der heutigen Hochgebirgsklinik Davos erschliessen und für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Seit fünf Jahren lagern die umfangreichen Akten der früheren «Deutschen Heilstätte Davos» im Bündner Staatsarchiv. Die deutschen Sanatorien in Davos fungierten laut dem deutschen Medizinhistoriker Andreas Jüttemann als «nationalsozialistische Auslandsstützpunkte».
Historiker Erich Keller hat im Auftrag der Gemeinde Davos ein Konzept für ein Buchprojekt über Davos während des Nationalsozialismus erarbeitet. Dabei hat er sich auch mit den deutschen Sanatorien beschäftigt: «Meine Recherchen zeigen, dass die NS-Präsenz in Davos nicht nur in ihrem Umfang, sondern auch in ihrer Funktion enorm problematisch war.» Er sei deshalb irritiert über die Schlussfolgerung des kantonalen Berichts, dass die NS-Geschichte in Davos gut erforscht sei. Keller verweist auch auf einen Bericht zur Davoser Forschungslage des Historikers Stefan Keller: «Dieser zeigte die Mängel der bisherigen lokalhistorischen Arbeiten auf.»
Auch beim zweiten Projekt liegt der Fokus auf in Graubünden greifbaren Quellen. Die Bündner Regierung will mehrere Forschungsinstitutionen einladen, ein Konzept für ein Projekt zur «systematischen Auswertung der Bündner Medien bezüglich ihrer Berichterstattung zu Nationalsozialismus und Faschismus» einzureichen, das die Regierung mit bis zu 100 000 Franken finanzieren will.
Diesen Schwerpunkt hinterfragt Historiker Martin Bucher, der die Geschichte der Hitlerjugend in der Schweiz erforscht hat: «Der Fokus auf den medialen Diskurs und die öffentliche Meinung ist zu harmlos.» Die Recherche zum Nazidenkmal in Chur habe ein Schlaglicht darauf geworfen, wie die Behörden offenbar nationalsozialistische Organisationen gewähren liessen. Bucher fordert deshalb, dass die Bündner NS-Organisationen als Teil einer transnationalen Geschichte untersucht werden: «Im Blick müsste auch das Verhalten, das Fehlverhalten, das Handeln und Unterlassen der Behörden stehen.» Staatsarchivar Reto Weiss entgegnet, bei der Auswertung der Medien könnten auch die Einschätzungen des behördlichen Handelns thematisiert werden. Im übrigen wäre es Historiker:innen im Rahmen der regulären Forschung jederzeit möglich, das Behördenverhalten zu untersuchen.
Umstrittene Infotafel
Martin Bucher stört sich neben dem Fokus des Forschungsprojekts auch an den «schwammigen Formulierungen» des Berichts. Statt «klar zu benennen, was zu tun ist», stünden dort zu viele «wäre» und «sollte». Im Konjunktiv formuliert ist auch die Empfehlung zum Nazistein in Chur: Es wäre, schreibt Historiker Ruch im Bericht, «wünschenswert, zu wissen, warum die städtischen Behörden das Grabmal bewilligten», was in deutschen Archiven zum Denkmal vorhanden und wie das Monument punkto nationalsozialistischer Ästhetik und Ikonografie einzuordnen sei.
Der Kanton folgt dieser Empfehlung nicht, und auch das Interesse der Stadt Chur an ihrem einmaligen Denkmal ist klein. Bereits 2023 lehnten die Churer Stadtregierung und das Parlament weitere Abklärungen ab. Die Begründung des Stadtarchivs: «Die historische Aufarbeitung der Geschichte rund um das Denkmal ist umfassend erfolgt.» Auf Anfrage schreibt der Stadtpräsident Hans Martin Meuli (FDP), der Stadtrat sei zwar an den aufgeworfenen Fragen interessiert, doch er wolle dazu kein Forschungsprojekt lancieren. Es sei sinnvoller, wenn Forschende diese Themen «wissenschaftlich unabhängig aufarbeiten».
Eine geplante Informationstafel zum Nazistein, die auf den Abklärungen des Stadtarchivs beruht, war vor einem knappen Jahr auf Kritik gestossen. Die Tafel gehe kritischen Fragen aus dem Weg und spiele den Bezug zum Nationalsozialismus herunter, sagten Politikerinnen und Historiker damals. Weil der kantonale Bericht «keine neuen Inhalte» ergeben habe, will der Stadtrat die umstrittene Infotafel jetzt inhaltlich doch unverändert aufstellen lassen.
* Stefanie Hablützel hat für SRF die Geschichte des Nazisteins in Chur aufgedeckt. Sie arbeitet heute als freischaffende Journalistin.