Zürcher Geschichtsstreit: Bührle wird beschönigt

Nr. 34 –

Stadt und Kanton Zürich wollten die Geschichte von Naziwaffenhändler und Kunstsammler Emil Georg Bührle unabhängig aufarbeiten lassen. Dann entdeckte ein Forscher Verharmlosungen im Text. Ein Geschichtskrimi um Antisemitismus, Standortmarketing und die Wissenschaftsfreiheit.

Lieferte Waffen an die Nazis und kaufte Meisterwerke des Impressionismus: Emil Georg Bührle kurz vor seinem Tod 1956. Foto: Dmitri Kessel, Getty

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Der Auftrag, den Corine Mauch und Jacqueline Fehr am 16. August 2017 vergaben, war eine Ode an die Forschungsfreiheit. «Die Projektbeteiligten haben die Chance, ein international vorbildhaftes Projekt zum Umgang mit einer politisch ‹belasteten› Kunstsammlung zu präsentieren.» Bei der Untersuchung dürfe es «keine Tabus» geben, vielmehr werde ein «Geist der selbstbewussten Offenheit» herrschen. Die Aufarbeitung erfolge unabhängig, basierend auf dem neusten Forschungsstand.

Die Kunstsammlung, deren Entstehung so schonungslos untersucht werden sollte, ist diejenige des Waffenfabrikanten Emil Georg Bührle (1890–1956). Sie gilt als politisch belastet, weil Bührle sein Vermögen mit dem Verkauf von Waffen verdiente, insbesondere mit der Aufrüstung des nationalsozialistischen Deutschland. Ab Ende 2021 ist die Sammlung, die sich im Besitz der Stiftung Bührle befindet, in einem Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses zu sehen.

Die Meisterwerke des Impressionismus, darunter ein Seerosenteich von Claude Monet und ein Selbstbildnis von Vincent van Gogh, sollen weit über die Stadt hinausstrahlen – und so zum Standortmarketing beitragen. Stadt, Kanton und private DonatorInnen lassen sich den Neubau des Stararchitekten David Chipperfield 206 Millionen Franken kosten. Die Betriebskosten von jährlich 17 Millionen wird die Stadt übernehmen. Der mächtige Kasten am Zürcher Heimplatz ist bereits hochgezogen. Fehlt nur noch die historische Aufarbeitung, damit einer Eröffnung ohne Zwischenrufe nichts mehr im Weg steht.

Die Untersuchung sollte diesen September abgeschlossen sein, und tatsächlich könnte sie für internationales Aufsehen sorgen. Allerdings nicht als Vorbild, sondern als Negativbeispiel. Recherchen der WOZ zeigen, dass hinter den Kulissen eine heftige Auseinandersetzung um den Bericht tobt: Die Kulturdirektion der Stadt Zürich und die Bührle-Stiftung brachten zahlreiche Änderungsvorschläge für die Studie ein. Matthieu Leimgruber, der Projektleiter der historischen Untersuchung, hat einige der Vorschläge übernommen. Sie beschönigen das Bild von Emil Georg Bührle an heiklen Stellen. Die Verantwortlichen bestreiten alle Zensurvorwürfe.

Corine Mauch, Stadtpräsidentin; Jacqueline Fehr, Regierungsrätin; Peter Haerle, Kulturdirektor; Lukas Gloor, Stiftung Bührle.

Aufmerksam auf die Änderungen machte Erich Keller, der zweite an der Studie beteiligte Historiker. In einem Brief zieht er seinen Namen zurück: «Ich kann und will nicht mit meinem Namen für eine Studie stehen, die nicht Ergebnis einer freien und offenen Forschung ist und die meine Rechte als Autor grundlegend missachtet.»

Was ist los in Zürich? Wer dieser Frage nachgeht, landet in einem Geschichtskrimi um Kunst, Macht und Prestige. Um Zwangsarbeit, Antisemitismus und nationalistische Freikorps. Letztlich geht es um die Frage, ob die Behörden zwanzig Jahre nach dem wegweisenden Bericht der unabhängigen ExpertInnenkommission (UEK) zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg eine Aufklärung behindern oder die Wahrheitssuche befördern.

Zürich in einem Zimmer

Müsste man einige der mächtigen Milieus von Zürich in einem Sitzungszimmer versammeln, der Steuerungsausschuss des Bührle-Forschungsprojekts würde diese Vorgabe ziemlich gut erfüllen. Da sind zum einen die VertreterInnen der Sozialdemokratie, Stadtpräsidentin Corine Mauch und Regierungsrätin Jacqueline Fehr. Da ist aber auch der Wirtschaftsfreisinn mit Kunsthaus-Präsident Walter B. Kielholz, lange für die Grossbank Credit Suisse tätig, heute VR-Präsident der Rückversicherung Swiss Re. Und schliesslich ist da noch der Nachkomme jener Familie, die lange Jahrzehnte im Stadtquartier Oerlikon mehr oder weniger ungestört Waffen fabrizieren durfte, Christian Bührle. Was die wenigsten wissen: Die Familie ist immer noch im Waffengeschäft aktiv, sie hält über die eigene Privatbank IHAG einen massgeblichen Anteil an den Pilatus-Flugzeugwerken in Stans.

Der Steuerungsausschuss trägt die Verantwortung, dass das Forschungsprojekt «in der geforderten Qualität innerhalb des Budgets und des Zeitrahmens» abgeschlossen wird. Eine beratende Funktion haben darin die Kulturbeauftragten von Stadt und Kanton Zürich, Peter Haerle und Madeleine Herzog, Kunsthaus-Direktor Christoph Becker und Lukas Gloor, Direktor der Bührle-Sammlung. Als die Grünen 2018 im Stadtparlament wissen wollten, ob da nicht allenfalls etwas viele Bührle-Vertreter im Ausschuss sitzen – Kunsthaus-Direktor Becker ist auch Bührle-Stiftungsrat –, betonte der Stadtrat wieder die Unabhängigkeit der Forschung: «Die Wahl von unabhängigen Historikerinnen und Historikern soll sicherstellen, dass von keiner Seite Einfluss auf die Ausrichtung der Forschungsarbeiten genommen wird.»

Gemessen an den hohen Kosten für den Neubau und am Wert der Sammlung nimmt sich das Budget für das Forschungsprojekt reichlich bescheiden aus: Zu Beginn beträgt es 150 000 Franken, später werden weitere 30 000 bewilligt. Die Wahl des unabhängigen Experten fällt 2017 auf Matthieu Leimgruber, der kurz zuvor als Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an die Universität Zürich berufen wurde. Als Mitarbeiterin beschäftigt er zuerst die Historikerin Lea Haller, bis diese in die Redaktion von «NZZ Geschichte» wechselt. Auf sie folgt der Historiker Erich Keller, der sich in seiner Forschung mit Erinnerungspolitik beschäftigt hat. Keller schreibt auch für Publikumsmedien wie die WOZ oder «NZZ Geschichte» historische Beiträge, in dieser Zeitung auch schon zu Bührle.

Die Änderungen

Angesichts der viel beschworenen Unabhängigkeit der Forschung ist irritierend, was im Frühling dieses Jahres passiert. Matthieu Leimgruber gibt den Mitgliedern des Steuerungsausschusses eine Zwischenfassung des Berichts zu lesen, die von Keller und ihm verfasst ist. Bührle-Stiftungsdirektor Lukas Gloor und der städtische Kulturdirektor Peter Haerle bringen darauf zahlreiche Änderungsvorschläge an. Teils sind die Änderungen stilistischer, teils aber auch inhaltlicher Art.

Erich Keller, Historiker; Matthieu Leimgruber, Projektverantwortlicher Foto: Virginie Otth (Foto unten)

«Freikorps» ist das erste Wort, das Gloor nicht lesen möchte. Nach seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg war Bührle mit einem der Freikorps unterwegs, die in deutschen Städten Demonstrationen und Aufstände von KommunistInnen niederschlugen. «Freikorps ist, wie Sie wissen, ein zutiefst belasteter Begriff», schreibt der Bührle-Direktor an Historiker Leimgruber. Er rücke den jungen Bührle in die Nähe der äussersten Rechten. Gloor fordert ihn auf, den Begriff wegzulassen – wohl wissend, dass er dabei eine Grenze überschreitet: «Bitte verzeihen Sie, wenn ich mich mit meinen Äusserungen in Ihre Arbeit ungebührlich einzumischen scheine.»

Das nächste Wort, das stört, ist «Antisemitismus». Das Forschungsteam hat im Sozialarchiv einen Brief entdeckt, den Bührle an den «Nebelspalter» schreibt. Bei der Satirezeitschrift engagieren sich vor und während des Zweiten Weltkriegs viele jüdische KünstlerInnen gegen den Faschismus, darunter der bekannte Karikaturist Gregor Rabinovich. Bührle empört sich in seinem Brief, dass die Zeitschrift ihn wohlig schlafend zwischen Geldsäcken gezeichnet habe. Die Zeichnung stamme aus der «Rumpelkammer des Marxismus», schreibt Bührle, der «Nebelspalter» solle besser nach Oerlikon kommen: «Vielleicht vergeht Dir dann die fratzenhafte jüdische Vorstellung, die Du von einem Industriellen zu haben scheinst.» In der ersten Fassung der Bührle-Studie heisst es, die Verbindung von Marxismus und Judentum sei ein virulenter Topos der Zeit. Bührles Formulierung wird entsprechend als «antisemitischer Ausfall» bezeichnet. Gloor will die Einordnung gestrichen haben.

Etwas weniger direkt stellt auch Kulturdirektor Haerle inhaltliche Punkte infrage. Dabei geht es in einem Beispiel um Bührles Profite aus Zwangsarbeit. Von der deutschen Firma Ikaria hatte Bührle 870 000 Franken an Lizenzzahlungen für die Herstellung von Oerlikon-Bührle-Waffen erhalten. Frauen – Jüdinnen, Sinti und Romnija –, die ins KZ Ravensbrück deportiert worden waren, mussten diese produzieren. Eine Passage, in der diskutiert wird, was Bührle von dieser Zwangsarbeit gewusst haben könnte, wird von Haerle in einer Randbemerkung als «extrem spekulativ!» kritisiert. «Weglassen.»

Gemäss den Textversionen, die der WOZ vorliegen, übernimmt Leimgruber all diese Änderungen. Das Wort «Freikorps» fehlt in der zweiten Fassung, auch wenn Bührles Einsatz für die Truppen erwähnt ist, die Wertung als «antisemitischer Ausfall» fehlt ebenfalls, obwohl die Karikatur beschrieben ist. Die Passage zur Mitwissenschaft an der Zwangsarbeit ist kürzer gehalten. Die Anmerkungen und Forderungen, die sich Gloor und Haerle an entscheidenden Stellen herausnahmen, sind das eine. Die Dienstfertigkeit, mit der Leimgruber sie übernahm, ist das andere. Zensur? Selbstzensur? Im Zusammenspiel liegt der Skandal.

«Die Eingriffe durch Mitglieder des Steuerausschusses und die Projektleitung wollen historische Fakten zum Verschwinden bringen», kritisiert Erich Keller. Die Mitgliedschaft von Bührle in einer paramilitärischen Einheit, nämlich dem rechtsextremen und revanchistischen Freikorps Roeder, sei von der Forschung belegt. «Die Überarbeitungen zielen in ihrer Summe darauf, die Kunstsammlung Bührle dort von ihren Entstehungsbedingungen abzukoppeln, wo die Kontexte heikel werden. Welche Signale werden durch solche Äusserungen und das Verschweigen und Kleinreden dieser Verstrickungen gesendet?»

«Ein gängiges Verfahren»

Den Begriff «Freikorps» streichen, den «Antisemitismus» weglassen, bei der Passage um Zwangsarbeit kürzen – die Änderungen versuchen offenkundig, Reizwörter zu vermeiden, die Bührles Geschichte dort verorten, wo sie herkommt: in den mörderischen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Die Begriffe würden bei einer Präsentation des Berichts von den Medien bestimmt aufgegriffen, auch von der internationalen Presse. Geht das Standortmarketing für eine störungsfreie Eröffnung des Bührle-Neubaus über alles?

Lukas Gloor nimmt auf zweifache Anfrage der WOZ keine Stellung zu seinen Eingriffen. Peter Haerle ist zu einem Gespräch bereit. Den Vorwurf, dass er sich ungebührlich eingemischt habe, weist er von sich: «Es war immer vorgesehen, dass Mitglieder des Steuerungsausschusses zu den Entwürfen des Berichts Rückmeldungen an die Auftraggeber machen.» Er habe bloss auf Textstellen hingewiesen, die er als zu wenig begründet wahrgenommen habe. «Je brisanter und heikler eine Feststellung ist, desto besser begründet muss sie sein», erklärt er. Das gelte auch für die Passage zu Bührles Mitwisserschaft über die Zwangsarbeit. Im Übrigen habe es sich bloss um Anregungen gehandelt. «Ob die Autorenschaft sie übernimmt oder nicht, bleibt immer ihr Entscheid.»

Stadtpräsidentin Corine Mauch stellt sich hinter ihren Kulturdirektor: «Dass die Auftraggebenden, die auch für die Finanzierung aufkommen, über den Fortschritt der Forschungsarbeiten informiert werden und auch Inputs zum aktuellen Stand geben, ist ein gängiges und keineswegs aussergewöhnliches Vorgehen. Von ‹Eingriffen› kann keine Rede sein.» Die Auftraggeber würden erwarten, dass die Universität Zürich einen Schlussbericht vorlege, für dessen Wissenschaftlichkeit sie mit Überzeugung einstehen könnten. Der Kanton mit Regierungsrätin Jacqueline Fehr als politisch Verantwortlicher verweist bezüglich einer Einschätzung an die Stadt, diese habe den Lead im Projekt.

Geschichtsprofessor Matthieu Leimgruber räumt ein, dass im Auftrag von 2017 nur von einem «Austausch» mit den Auftraggebern die Rede ist und kein Gegenlesen vereinbart worden sei. «Zu diesem Austausch haben aber auch Vorträge gehört, die wir vor dem Steuerungsausschuss hielten. Schon damals haben wir das Feedback berücksichtigt, wenn es uns gerechtfertigt erschien.» Es habe für ihn deshalb auf der Hand gelegen, sich mit den Auftraggebern über die Texte auszutauschen. «Sie konnten sich nicht als Einzige äussern. Ich war auch mit verschiedenen Historikerkollegen im Gespräch. Meiner Meinung nach ist das die Art, wie Wissenschaft funktioniert: als Diskussion.»

Applaus in Bern

Die Kritik an den Änderungen findet Leimgruber gesucht: Die Gewinne aus Zwangsarbeit seien schon bekannt gewesen und würden im Text auch erwähnt. Ob Bührles Äusserung an den «Nebelspalter» schon für sich antisemitisch sei, findet Leimgruber nicht eindeutig. Bührle könnte im Brief auch auf das verbreitete Vorurteil des jüdischen Industriellen hinweisen wollen. Er habe deshalb die Einordnung weggelassen.

Simon Teuscher, Vorsteher des Historischen Seminars, unterstützt seinen Kollegen. Er hält es grundsätzlich für richtig, dass die Auftraggeber die Forschungstexte gegenlesen konnten. «Meine Abklärungen bei mehreren Kollegen zur Auftragsforschung haben ergeben, dass dies mit den jeweiligen Stakeholdern systematisch gemacht wird.» Auch er sagt: Letztlich liege es an den einzelnen WissenschaftlerInnen, zu entscheiden, welche Einwände sie übernehmen wollten.

Was aus dem Forschungsbericht hätte werden können, zeigte sich letzten November im Berner Kulturzentrum Progr. An einer Tagung des Wissenschaftsportals «Infoclio» halten Leimgruber und Keller einen Vortrag (siehe WOZ Nr. 47/2019 ). Der innovative Ansatz, den die beiden Historiker gewählt haben, stösst beim 150-köpfigen Publikum auf Interesse: Sie erzählen nicht bloss eine Firmengeschichte, sondern belegen, dass Bührles Kunstkäufe untrennbar mit seinem Waffenhandel verknüpft sind. Zum einen haben die Geschäfte mit den Nazis und später im Koreakrieg Bührle das Kapital verschafft, in seine Kunstsammlung zu investieren. Zum anderen gibt es den modernen Kunstmarkt, von dem Bührles Sammlung profitierte, überhaupt erst, weil im Zweiten Weltkrieg, den Bührle mit seinen Kanonen befeuerte, ungezählte Gemälde ihre BesitzerInnen wechselten, sei es durch Raub oder durch Verkäufe aus Zwang oder Not.

Die Aktivitäten des Kunstsammlers Bührle seien nicht von jenen des Waffenhändlers zu trennen, sagt Leimgruber am Vortrag: «Wenn Bührle nach Washington reiste, um neue Raketen zu verkaufen, besuchte er vor der Rückreise in die Schweiz jeweils die Galerien in New York, um neue Gemälde zu erwerben.» Keller wiederum zeigt, wie Bührle auch die Entwicklung des Kunsthauses geprägt hat, unter anderem mit einem ersten Erweiterungsbau in den fünfziger Jahren. «Das Kunsthaus Zürich selbst ist durch die Finanz- und Kunstkapitalströme eng eingeflochten in diese Geschichte.»

Diesen Überlegungen folgte auch das Konzept der beiden Historiker für ihre Studie. In einem ersten Teil sollte sie die Geschäftstätigkeit Bührles, in einem zweiten seine Netzwerke und in einem dritten die Verflechtung des Kunsthauses und ihre bisherige Provenienzforschung thematisieren. Die Erforschung der Geschichte sollte also tief in die Institution Kunstmuseum und den geplanten Ausbau eingeschrieben werden. Die reiche Stadt Zürich hätte sich einer ziemlich unbequemen Frage zu stellen: Worauf genau baut ihr Kunsthaus? Im August 2019 bestätigte der Steuerungsausschuss dieses Konzept.

Ein Zerwürfnis

So erfolgreich die gemeinsame Präsentation des Konzepts im Steuerungsausschuss war, so lautstark der Applaus beim Vortrag an der Berner HistorikerInnentagung, gänzlich reibungsfrei verlief die Zusammenarbeit zwischen Matthieu Leimgruber und Erich Keller nicht. Zunehmend entwickelte sich daraus ein Konflikt. Mit ihren Schwerpunkten auf die Wirtschafts- beziehungsweise die Kulturgeschichte pflegen die beiden grundsätzlich unterschiedliche historische Zugänge. Was sich im besseren Fall ergänzt, kann im schlechteren zu Missverständnissen führen.

Zum einen habe sich die Auseinandersetzung um inhaltliche Fragen gedreht, sagt Keller: «Welche Themen sind für den Forschungsbericht, der sich an ein breites Publikum richten sollte, relevant?» Hinzu seien Diskussionen über die Autorenrechte und die in seinen Augen unhaltbaren Arbeitsbedingungen gekommen. Wenige Tage vor dem Abschluss einer Vertragsverlängerung im Januar dieses Jahres verliess Keller deshalb das Bührle-Projekt. Gemäss Leimgruber ging es bei der Auseinandersetzung vor allem um die Autorenrechte: «Obwohl der Forschungsauftrag an mich ging, wollte Keller der Hauptautor der Studie sein. Das habe ich zugebilligt.» Auch die Zusammenarbeit habe für Konflikte gesorgt, so etwa das Einhalten des Zeitplans. Kellers abrupter Abgang aus dem Projekt habe für ihn eine grosse Mehrarbeit bedeutet.

Keller kritisiert neben den Änderungen auch, dass der dritte Teil in seiner ursprünglich geplanten Form nicht realisiert wurde. «Man kann die Sammlungsgeschichte nur verstehen, wenn man auf eine bemerkenswerte Zirkularität hinweist: dass nämlich die Gelder, die in ihr stecken, aus Kriegen stammen – und dass viele dieser Gemälde nur durch den Zweiten Weltkrieg überhaupt erst auf dem Kunstmarkt gelandet sind.» Nun verspreche sich das Kunsthaus mit dem Erweiterungsbau einen Quantensprung in seiner internationalen Bedeutung. «Die Geschichte der Sammlung Bührle», sagt Keller, «ist eine Geschichte unserer Gegenwart.»

Leimgruber betont, dass er den dritten Teil auf sich allein gestellt habe verfassen müssen. Dieser behandle den Aufbau von Bührles Sammlung und damit auch die Gleichzeitigkeit von Waffenverkäufen und Kunstkäufen. «Der Bericht ist zu 95 Prozent fertig, und ich kann versichern, dass er einige neue Erkenntnisse bringt.»

Untersuchung läuft

Die Universität Zürich hat mittlerweile auf Kellers Kritik reagiert. Wie sie auf Anfrage bestätigt, wurde eine Untersuchung eingeleitet, um die Qualität des Bührle-Forschungsprojekts zu überprüfen. Als ExpertInnen wurden der emeritierte Geschichtsprofessor Jakob Tanner und Esther Tisa Francini ernannt, Leiterin der Provenienzforschung am Zürcher Museum Rietberg. Beide haben bereits beim UEK-Bericht zum Zweiten Weltkrieg mitgewirkt. Ihre Untersuchung dürfte eine Einschätzung bringen, ob die Forschungsfreiheit verletzt worden ist und ob die Auftraggeber beziehungsweise Leimgruber tatsächlich nach gängigen Standards gehandelt haben.

Diese Frage ist auch wichtig, weil die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg immer gegen Widerstände geschrieben werden musste. Es waren nicht die offiziellen Behörden, die ihr Handeln hinterfragten, sondern die Opfer und ihre Nachkommen, die für eine kritische Aufarbeitung kämpften. Und es waren auch nicht die Universitäten, die sie angingen, sondern häufig JournalistInnen: angefangen bei Alfred A. Häslers «Das Boot ist voll» (1984) zur Flüchtlingspolitik oder Niklaus Meienbergs «Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» (1976). Erst in den neunziger Jahren, als der internationale Druck wegen der nachrichtenlosen Vermögen auf Schweizer Bankkonten stark wurde und nach den Grabenkämpfen des Kalten Kriegs eine Phase der gesellschaftlichen Öffnung einsetzte, wurde die Geschichte von der UEK umfassend aufgearbeitet.

Neben den konkreten Vorwürfen stellen sich auch politische Fragen. Die Zürcher Politik und die Kultur haben die Tragweite der Geschichte von Bührle über die Jahre offenkundig massiv unterschätzt und gingen bei der Aufarbeitung provinziell vor. Rund um die Abstimmung für den Neubau 2012 beispielsweise war der historische Schatten der Sammlung Bührle kaum ein Thema.

Will man fair sein zu allen Beteiligten, dann drängt sich der Schluss auf, dass sich das Projekt schon von Anfang an in Schieflage befand. Hier ein Steuerungsausschuss voller Interessenvertreter, dort ein finanziell eher bescheiden dotierter Forschungsauftrag, der knapp für zwei Historiker reichte. Dass sich die beiden dann auch noch zerstritten, mag mit unterschiedlichen Forschungsinteressen und Charakteren zu tun haben. Vor dem Hintergrund der Komplexität der Fragestellung kann es letztlich nicht überraschen. Das entschuldigt die eingefügten Verharmlosungen im Text aber nicht.

Die Geschichte von Bührle, diese Weltgeschichte einer unmoralischen Bereicherung, ist vielleicht einfach etwas zu gross für Zürich. Oder steht sie gar, darum auch der wiederholte Streit, für die Geschichte von Zürich selbst?

Siehe auch «Sammlung Emil G. Bührle: Durchs Höllentor ins Kunsthaus».

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