Churer Nazi-Stein: Gegen das grausige Schweigen

Nr. 19 –

Ein Denkmal der Nazis beschäftigt Graubünden: Während der Churer Stadtrat relativiert, will die Bündner Regierung die Geschichte im Zweiten Weltkrieg umfassend aufarbeiten.

Denkmal auf dem Churer Friedhof Daleu mit der Inschrift «Hier ruhen deutsche Soldaten.»
Wie subtil kann NS-Propaganda sein? Der Stein des Anstosses auf dem Churer Friedhof Daleu. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

Hier ruhen die von Plantas und die von Salis. Ihre stolzen Familiengräber künden von der Macht der Bündner Adelsgeschlechter. Der Eisenbahningenieur und Bundesrat Simeon Bavier liegt hier begraben, der religiöse Sozialist Leonhard Ragaz oder die frühe Frauenrechtlerin Meta von Salis-Marschlins. Der Churer Friedhof Daleu erzählt viel über die Geschichte Graubündens. Auch über die Zeit des Zweiten Weltkriegs: In einer Ecke des Friedhofs steht ein Denkmal, das in Aufbau und Gestaltung an ein antikes Mausoleum angelehnt ist. Auf dem moosüberwachsenen, verwitterten Stein lautet die Inschrift: «Hier ruhen deutsche Soldaten.»

Stefanie Hablützel hat an diesem regnerischen Frühlingstag zum Denkmal geführt. Die Journalistin erklärt die in den Stein gemeisselten Namen: «Sie erinnern an deutsche Gefallene, die in Graubünden gewohnt hatten und von hier in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, wie auch an deutsche Internierte, die während des Krieges in der Schweiz verstorben sind.» Hablützel hat in einer SRF-Recherche im Januar gezeigt, dass das Denkmal nicht nur mit dem Ersten Weltkrieg, sondern vor allem mit dem Zweiten zu tun hat: «Der Nazi-Stein» hiess ihr Bericht.

«Ich hätte nicht gedacht, dass die Recherche so viel auslöst», erzählt sie. Im Churer Stadt- und im Bündner Kantonsparlament gingen Vorstösse der SP und der Mitte-Partei für eine vertiefte Aufarbeitung der Bündner Geschichte ein. Der Bericht sorgte international für Aufsehen: Sogar die britische BBC berichtete über das «Nazi Monument at Swiss Cemetery».

Ins rechte Licht gerückt

Zwar wurde das Denkmal schon früher untersucht, zuletzt in einer Broschüre über Churer Grabmäler. Darin ist von einem «deutschen Kriegerdenkmal» die Rede. Am Rand ist erwähnt, dass einer der beteiligten Bildhauer ein führendes NS-Mitglied in Chur war. Hablützel konnte nun aber belegen, dass das Denkmal 1934 von den Nazis selbst in Auftrag gegeben worden war, genauer vom gleichgeschalteten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Die Journalistin rückt damit das Denkmal ins rechte Licht: den Leuchtstrahl der NS-Propaganda.

Der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge war nach dem Versailler Abkommen zur Pflege deutscher Soldatengräber im Ausland gegründet worden. Nationalistisch-revanchistische Kreise instrumentalisierten die Gefallenen, um einen nächsten Krieg zu rechtfertigen. Nach ihrer Machtergreifung liessen die Nazis Denkmäler und Totenburgen errichten, führten auf Anregung des Volksbunds einen Heldengedenktag ein. Das Denkmal in Chur wurde 1938 errichtet. «Toleriert von den Behörden, obwohl sich kurz zuvor die Reichspogromnacht ereignet hatte», sagt Hablützel.

Andernorts gab es gegen eine Gedenkstätte Proteste: Die St. Galler Bevölkerung wehrte sich gegen den Plan einer Totenburg auf einer Anhöhe. Daraufhin transportierten die Nazis in einer nächtlichen Fackelprozession Gebeine aus der Schweiz über den Bodensee und setzten sie in Meersburg bei. Andere Denkmäler, die es in der Schweiz zum Ersten Weltkrieg gibt, waren im Gegensatz zum Churer Grabstein vor der Machtergreifung der Nazis errichtet worden. Das macht dieses einmalig und rechtfertigt den Ausdruck «Nazi-Stein».

Trotzdem stiess Hablützels Recherche nicht nur auf Zustimmung: «Benötigt man wirklich gebührenbezahlte Investigativ-Journalisten, um etwas aufzudecken, was hinlänglich bekannt ist?», kritisierte Stefan Bühler, Verleger des auflagenstarken «Churer Magazins». Der Ilanzer Theologe Jan-Andrea Bernhard, Titularprofessor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich, stellte die Recherche in einem Schreiben an die Bündner Behörden rundweg infrage: «Für mich ist das ‹populistische› Mediensprache und keine Geschichtsforschung», sagt er auf Anfrage. Auf dem Denkmal befänden sich kein Hakenkreuz oder andere NS-Insignien – also könne man es nicht als Nazi-Stein bezeichnen. Den Boden für das Denkmal habe ein deutscher Hilfsverein beantragt, nicht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Hablützel kann jedoch mit Akten zeigen: Dieser Hilfsverein arbeitete im Auftrag des Volksbunds. In der Kritik an der Recherche klingt das alte Mantra zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg an: Haben wir doch alles schon gewusst!

Diesem Mantra widerspricht Historiker Jakob Tanner, der Mitglied der Unabhängigen Expert:innenkommission zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg war: Es sei nur folgerichtig, dass die Geschichte des Denkmals neu geschrieben werde. «Die NS-Organisationen in der Schweiz rückten nach ersten Untersuchungen in den sechziger Jahren in letzter Zeit wieder in den Fokus der Forschung.» So etwa in einer Studie von Martin Bucher aus dem Jahr 2021 zur Hitlerjugend. Während des Zweiten Weltkriegs lebten 80 000 Reichsdeutsche in der Schweiz, die Hälfte organisiert in drei Dutzend Nazi-Organisationen mit ausgeprägter Spionagetätigkeit. Nach der Ermordung von Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in Davos durch den jüdischen Studenten David Frankfurter wurden sie von der deutschen Botschaft gelenkt. «Der Bundesrat liess die NS-Organisationen weitgehend gewähren», sagt Tanner.

So tolerant die offizielle Politik gegenüber den Umtrieben der Nazis war, so heftig distanzierte sie sich gegen Ende des Krieges. Ab November 1942 wurden 33 Todesurteile wegen NS-Aktivitäten gefällt. Sie betrafen Mitläufer oder waren wie im Fall des St. Gallers Ernst S. ein Beispiel für Klassenjustiz. Die sogenannten Säuberungen, also die Ausbürgerungen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, dienten auch der Externalisierung der eigenen Schuld. «Die Behörden gingen auf maximale Distanz zum NS-­­Regime und konnten so von den eigenen Verstrickungen ablenken», erklärt Tanner.

Diesen Vorgang hatten schon Zeit­­genoss:innen kritisiert. So sprach der Publizist Ernst von Schenck 1945 am Radio von einem «grausigen Schweigen» bezüglich der eigenen Rolle im Krieg. Das Churer Denkmal, dessen Bedeutung jahrzehntelang vergessen ging, steht beispielhaft für diese Geschichte von Verschweigen und Weitermachen.

Kompass für die Gegenwart

Anfang dieser Woche haben der Churer Stadtrat und der Bündner Regierungsrat ihre Antworten auf die eingereichten politischen Vorstösse veröffentlicht. Sie fallen ziemlich unterschiedlich aus. Der Churer Stadtrat schreibt, die Geschichte des Denkmals sei bereits «umfassend aufgearbeitet» gewesen, die SRF-Recherche habe bloss neue Details geliefert. Wobei der Stadtrat als Beleg ein Inventar von Schweizer Denkmälern zitiert, das erst nach Hablützels Bericht mit Angaben zur Bedeutung des Denkmals aktualisiert wurde. Ohne Beleg behauptet der Stadtrat weiter, die Nazis hätten das Denkmal bewusst schlicht gehalten, damit die NS-Ideologie nicht auffalle.

«Statt sich mit den neuen Erkenntnissen zu beschäftigen, will der Stadtrat das Thema offenkundig möglichst schnell abschliessen. Das ist der falsche Ansatz», meint Gemeinderat Tino Schneider von der Mitte-Partei. Auch die Relativierung der NS-Propaganda bezüglich der Gestaltung des Denkmals irritierte ihn. «Die Propaganda ist oftmals subtil erfolgt.»

Im Gegensatz zum Stadtrat will die Kantonsregierung eine umfassende Aufarbeitung der Bündner Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus während und nach dem Zweiten Weltkrieg finanzieren. SP-Grossrätin Silvia Hofmann zeigt sich von der Antwort «angenehm überrascht». Sie hatte mit einer defensiveren Antwort gerechnet. «Mich interessiert besonders der wirtschaftliche Aufschwung unseres armen Kantons nach dem Zweiten Weltkrieg», sagt Hofmann. Dabei verweist sie auf das Buch «Nylon und Napalm», in dem die Historikerin Regula Bochsler kürzlich zeigte, wie die Ems-Chemie nach dem Krieg mit Nazi-Chemikern kollaborierte. «Ein Forschungsmandat der Regierung könnte dazu beitragen, dass die Blochers ihre Archive auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg öffnen.»

Für Tino Schneider, der nicht nur im Gemeinde-, sondern auch im Kantonsparlament politisiert, sind weitere Fragen offen: «An der langen Grenze zum NS-Reich und zum faschistischen Italien gibt es viele Geschichten von Anpassung und Widerstand, die noch nicht erzählt sind.» Schliesslich sei die Aufarbeitung der Geschichte wichtig als Kompass für das Handeln in der Gegenwart. «Das zeigt der Blick nach Italien, wo die Geschichte im Gegensatz zu Deutschland zu wenig aufgearbeitet wurde – mit der Folge, dass heute eine postfaschistische Partei regieren kann.»