Auf allen Kanälen: Die Zeitungsletter
In Grossbritannien erlebt der Lokaljournalismus ein Revival in E-Mail-Form.

Immer dieselbe Routine. Nach Feierabend in die U-Bahn-Station hetzen, dem Zeitungsständer den «Evening Standard» entnehmen, das Gratisblatt noch auf der Rolltreppe aufschlagen und sich kurz darauf fragen: Warum hat London keine gute Zeitung? Viele Jahre lang war der konservative, gewerkschaftsfeindliche, klatschige «Standard» das einzige Regionalblatt in der britischen Hauptstadt.
Aber seit einigen Monaten muss man sich nicht mehr so oft aufregen. Gleich zwei neue Publikationen sind auf den Markt gekommen, die eine heisst «The Londoner», die andere «London Centric». Es sind keine Printzeitungen, die Texte kommen direkt als E-Mail-Newsletter in die Inbox, mindestens einmal die Woche, meist häufiger. Bei beiden liegt der Schwerpunkt auf sorgfältiger Recherche und hintergründiger Berichterstattung, egal ob es um einen Korruptionsfall bei der Lokalbehörde geht oder um Hobbyarchäologen, die im Themseschlamm herumstochern.
Nicht allein in London
In den vergangenen Monaten konnten sich die Londoner:innen unter anderem schlaumachen über die Krise der schliessenden Primarschulen, über die Ökonomie der illegalen Glücksspiele auf der Westminster Bridge oder über eine Cyberattacke auf die Transportbehörde. Die meisten Texte sind unterhaltsam geschrieben und relevant – lokaler Qualitätsjournalismus. Dabei kommen die Publikationen ohne Werbung aus und gehören keinem milliardenschweren Medienkonzern: Sie finanzieren sich über Abonnent:innen. Während viele Texte gratis sind, gibts das volle Angebot von «London Centric» für rund neunzig Franken, bei «The Londoner» für rund hundert Franken pro Jahr.
London ist nicht allein: Eine Handvoll britische Städte erlebt derzeit eine Wiederbelebung des Lokaljournalismus, entgegen dem Trend der vergangenen zwei Jahrzehnte. Wie in vielen anderen Ländern – auch der Schweiz – hat die regionale und lokale Presse in Grossbritannien einen steilen Niedergang hinter sich. Grund dafür sind vor allem einbrechende Werbeeinnahmen. Zwischen 2009 und 2019 sind im ganzen Land 300 Lokalzeitungen eingegangen. Andere sind von grossen Konzernen aufgekauft worden, die jedoch vor allem auf Clickbait und das Abdrucken von Presseerklärungen setzen.
Inmitten dieser Nachrichtenwüste gründete Joshi Herrmann, ehemals beim «Evening Standard», 2020 «The Mill» für Manchester. Es fing als bescheidener Newsletter mit einem Fokus auf längere Texte über lokale Geschichten an. Das Interesse war gross, bald fing Herrmann an, für seinen Newsletter Geld zu verlangen. Zudem expandierte er in andere Städte. Heute gibt Mill Media neben der Manchester «Mill» die «Post» in Liverpool heraus, den «Dispatch» in Birmingham, die «Tribune» in Sheffield, die «Bell» in Glasgow – und in der Hauptstadt den «Londoner». Die sechs Redaktionen beschäftigen zusammen etwas mehr als zwanzig Journalist:innen.
Werbung bringts nicht
Heute hat Mill Media ungefähr 100 000 Abonnent:innen, mehr als 8000 davon zahlende. Die Manchester «Mill» ist bereits profitabel, Herrmann schätzt, dass auch die anderen Titel innerhalb von zwei Jahren schwarze Zahlen schreiben können.
Dass das Abomodell insbesondere im Lokaljournalismus funktioniert, habe einen einfachen Grund, sagte Herrmann kürzlich in einem Interview: Die Leser:innen seien bereit, für Texte zu bezahlen, sofern diese Qualität hätten und nirgendwo sonst zu finden seien. Das Publikum ist naturgemäss viel kleiner als jenes einer überregionalen Zeitung, darum sei die Finanzierung über Onlinewerbung – bei der die Einnahmen direkt von der Zahl der Clicks abhängt – die falsche Strategie. Wie gross das Interesse der lokalen Leser:innenschaft an der eigenen Stadt ist, zeigt auch der rege Austausch zwischen Redaktion und Abonnent:innen. Laut Herrmann basiert rund die Hälfte der Geschichten in den Mill-Publikationen auf Anregungen von Leser:innen.
Noch enger mit der Leser:innenschaft verbunden ist das «Bristol Cable», eine Art Veteran des neuen Lokaljournalismus. Die seit 2014 bestehende Publikation gehört zu hundert Prozent den über 2600 Genossenschafter:innen, die monatlich im Durchschnitt rund fünf Franken bezahlen. Derzeit tragen sie 35 Prozent zum Budget des «Cable» bei, das meiste Geld kommt von Spenden. Ziel ist die vollumfängliche Finanzierung durch Leser:innen. Letztes Jahr schaffte es das «Cable», die Einnahmen aus Abobeiträgen um fünfzig Prozent zu erhöhen.