Gazastreifen: «Wir hatten ein Leben»

Nr. 13 –

Die israelische Armee hat ihre Angriffe wieder aufgenommen. Es droht eine monatelange Besatzung und die dauerhafte Vertreibung der Bevölkerung.

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Islam Salem mit ihren beiden Söhnen
Ihre Tochter und ihr Mann sind vor wenigen Tagen bei Angriffen der israelischen Armee getötet worden: Islam Salem mit ihren beiden Söhnen in Gaza-Stadt.

Islam Salem hält einen Ohrring in der Hand, den sie ihrer Tochter Heba zum Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan gekauft hat. Tragen wird das siebenjährige Mädchen ihn nicht mehr. Nachdem die Familie achtzehn Monate Krieg und sieben Vertreibungen überlebt hatte, wurden Heba und ihr Vater Eiad am Samstag bei einem israelischen Bombardement in Beit Lahia im Norden Gazas getötet.

«Zwei Tage nach der Rückkehr zum Krieg warfen die Israelis Flugblätter mit Evakuierungsbefehlen über unserer Nachbarschaft ab», sagt die 31-Jährige. Sie sitzt auf einem Sofa in Gaza-Stadt und hält ihre zwei verbliebenen Söhne im Arm. Heba habe ihrem Vater helfen wollen, die wenigen Habseligkeiten und das Zelt der Familie zum achten Mal aus der Gefahrenzone zu bringen. «Ich wollte es ihr verbieten, doch sie hat darauf bestanden.» Sie habe Heba einen leeren Kanister gegeben, den die Familie für die tägliche Suche nach Trinkwasser verwendet hat.

Heba und ihr Vater gingen vor, Salem wollte ihnen kurz darauf folgen, als sie Artilleriefeuer hörte. Sie sei ihnen hinterhergerannt, doch das Geschoss habe die beiden direkt getroffen. «Seine Leiche brannte noch, die Hände und Füsse waren abgerissen.» Den Körper ihrer Tochter habe sie unter dem Wasserkanister gefunden. «Als ich sie aufhob, sah ich, dass ihr Hinterkopf zertrümmert war», sagt Salem.

Die Waffenruhe habe ihr Hoffnung gegeben, die Familie sei in den Norden zu ihrem zerstörten Haus zurückgekehrt. «Jetzt ist Heba gegangen und mit ihr all mein Glück.»

Gestärkte Extremisten

Nach dem Bruch der Waffenruhe in der vergangenen Woche scheint die israelische Armee mit ihren Luftangriffen und der Bodenoffensive noch härter vorzugehen als zuvor. Mehr als 400 Menschen sollen allein in der ersten Angriffsnacht getötet worden sein, davon laut Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums 183 Kinder.

Im teilweise noch funktionierenden Indonesischen Spital nördlich von Gaza-Stadt kümmert sich der Arzt Raed Saleh um die Opfer der Angriffe. «Seit letzter Woche werden täglich Dutzende Tote und Verwundete zu uns gebracht», sagt der 51-Jährige am Telefon. Zwei Drittel davon seien Kinder und Frauen. Weil Israel seit einem Monat keine Hilfsgüter mehr nach Gaza lässt, fehle es an Medikamenten, Amputationen fänden teils ohne Narkose statt. Zudem arbeite das Spital nur mit etwa dreissig Prozent seines Personals. «Die anderen Ärzte und Pfleger sind entweder noch im Süden oder in Gefangenschaft in Israel.»

Die Vereinten Nationen haben angekündigt, ein Drittel ihrer internationalen Angestellten abzuziehen, nachdem vergangene Woche ein bulgarischer Mitarbeiter getötet worden war. Die Uno macht dafür den Beschuss durch einen israelischen Panzer verantwortlich, Israel bestreitet das. Zudem wurde das grösste Spital in Südgaza bombardiert. Dabei starb ein politischer Kader der Hamas, der dort laut der Gruppe behandelt wurde. Währenddessen gilt die israelische Blockade seit Anfang März neben allen anderen Hilfsgütern auch für Nahrungsmittel. Hunger breitet sich aus. All das sind Verstösse gegen das Völkerrecht.

Das Vorgehen wird von der US-Regierung uneingeschränkt unterstützt, Donald Trump verzichtet auf die zögerlichen Mahnungen seines Vorgängers Joe Biden. Stattdessen übertrifft er mit Rufen nach einem härteren Vorgehen und Plänen für eine «Riviera des Nahen Ostens» inklusive Vertreibung der Palästinenser:innen die kühnsten Fantasien der israelischen Siedler:innenbewegung. Die deutliche Schwächung der Hisbollah im Libanon, der Sturz des Diktators Baschar al-Assad in Syrien sowie Schläge gegen den Iran haben dafür gesorgt, dass derzeit kaum jemand in der Region Israel militärisch etwas entgegensetzen kann.

Mehrere Personalwechsel haben zudem den Einfluss der Extremisten in der israelischen Führung weiter gestärkt. Zu nennen sind hier vor allem der seit November amtierende Verteidigungsminister Israel Katz sowie der Anfang März angetretene neue Armeechef Ejal Zamir. Anders als ihre Vorgänger sind sie enge Vertraute von Benjamin Netanjahu und setzen wesentlich weniger auf Verhandlungen zur Befreiung der noch immer 59 Geiseln in Gaza.

Unter diesen Vorzeichen hat die israelische Führung vergangene Woche eine zweimonatige Waffenruhe beendet, die trotz zahlreicher Verstösse beider Seiten im Grossen und Ganzen funktioniert hat. Binnen sechs Wochen kamen wie vereinbart 38 Geiseln im Austausch gegen rund 1900 palästinensische Gefangene frei. Doch in der israelischen Führung scheint man sich vom Krieg mehr zu versprechen.

Auch wenn sich die USA und Israel bemühen, die Schuld am Scheitern der Verhandlungen der Hamas zu geben: Wochenlang hat die israelische Regierung die Verhandlungen über ein endgültiges Ende des Krieges verweigert. Am Montag erklärte sich die Hamas laut Medienberichten nach einem Vorschlag Ägyptens zur Freilassung von fünf lebenden Geiseln bereit, ähnlich wie von US-Unterhändler Steve Witkoff gefordert. Israel verlangt nun aber einem Bericht der Zeitung «Haaretz» zufolge elf Geiseln für eine Verlängerung der Waffenruhe. Und: «Fortan werden Verhandlungen nur noch unter Beschuss stattfinden», hatte Netanjahu nach dem Bruch der Waffenruhe gedroht. Wenn er damit etwas erreicht hat, dann, dass neben seinen ständig wechselnden Forderungen die Terrortruppe beinahe wie ein seriöser Gesprächspartner wirkt. Gleichzeitig protestieren immer mehr Palästinenser:innen im Gazastreifen gegen die Hamas.

Angedrohte Annexion

Derweil will die israelische Regierung die Hamas offenbar durch noch stärkeren militärischen Druck zur Freilassung der Geiseln und zur Aufgabe bewegen – oder andernfalls militärisch und politisch zerstören. Die israelische Führung erwägt laut einem Bericht der «Washington Post» eine Militärbesatzung für Monate oder länger sowie die militärische Kontrolle der humanitären Hilfe. Verteidigungsminister Katz drohte jüngst offen mit einer Annexion von Teilen des Gazastreifens. Bereits jetzt soll die bisher etwa einen Kilometer breite sogenannte Pufferzone entlang der Grenze zu Israel ausgedehnt werden.

Die rund 2,3 Millionen Bewohner:innen im weitgehend zerstörten Gazastreifen könnten unter diesen Umständen für Monate oder sogar Jahre zu einem Leben in Zelten gezwungen sein und je nach den Vorgaben der Armee immer wieder umgesiedelt werden. Wer das Gebiet verlassen möchte, soll von einer von der israelischen Regierung eingerichteten Behörde Hilfe bei der «freiwilligen» Ausreise in Drittstaaten erhalten. Wohin, ist bisher unklar, doch ein Recht auf Rückkehr soll es laut Regierungsmitgliedern nicht geben.

Mit diesen Plänen haben sich die Rechtsextremen in Israels Führung durchgesetzt, die dieses Vorgehen schon lange fordern. Damit droht neben dem Westjordanland auch Gaza eine erneute Militärbesatzung, wie sie bis zum einseitigen Abzug im Jahr 2005 bereits Jahrzehnte existiert hat. Anschläge, Razzien und weitere Kriege dürften dann zum Dauerzustand werden.

Islam Salem erinnert sich an ihr Leben vor dem Krieg: «Wir hatten eine kleine Familie und ein Zuhause. Mein Mann arbeitete als Maler.» Sie seien arm gewesen, selbst gemessen an den Verhältnissen in Gaza. «Aber wir hatten ein Leben, meine Söhne gingen zur Schule, Heba in den Kindergarten.»

Für die Zukunft habe sie kaum Hoffnung: «Diesmal ist ihr Plan viel grösser», sagt sie. «Sie wollen uns vertreiben, aber das wird nicht passieren.» Niemand habe das Recht, über das Schicksal eines ganzen Volkes zu entscheiden. «Alles, was wir wollen, ist, in Frieden und Sicherheit in unserer Heimat zu leben.»

Israel: Angriff auf die Demokratie

Am 6. Oktober 2023 schien Israel gespalten wie nie: Soldat:innen erschienen nicht mehr zu Übungen, Woche für Woche blockierten Demonstrierende Strassen. Mit den Massakern der Hamas am nächsten Tag war der Streit vergessen. Bei der Armee meldeten sich mehr Reservist:innen, als einberufen wurden, unzählige Freiwillige halfen bei der Unterbringung von Vertriebenen, die vor der Hamas und der Hisbollah fliehen mussten.

Achtzehn Monate später ist der Schein der Einheit verflogen: Zum einen greift die Armee seit dem Bruch der Waffenruhe auch wieder Ziele im Gazastreifen an. Dabei würde die Mehrheit der Bevölkerung einem Kriegsende im Austausch gegen die noch immer in Gaza festgehaltenen 59 Geiseln zustimmen. Zum anderen ist diese Woche die wieder zunehmende innenpolitische Spaltung eskaliert: Die in Teilen rechtsextreme Koalition von Regierungschef Benjamin Netanjahu hat nicht nur ihre Angriffe auf die Justiz neu gestartet. Sie forciert auch die Absetzung von Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara und Inlandsgeheimdienstchef Ronen Bar und hat damit neue Massenproteste hervorgerufen. Beide überwachen in ihren Ämtern Ermittlungen gegen Netanjahu und seine Vertrauten und haben zahlreiche Regierungspläne in den vergangenen zwei Jahren eingehegt.

Netanjahus Unterstützer:innen sehen im Vorgehen der Regierung einen Weg, nicht direkt gewählte Beamtinnen und Vertreter der Justiz politisch auszuschalten. Seine Gegner:innen hingegen sehen im besten Fall einen Interessenkonflikt Netanjahus, der aktuell wegen Korruption vor Gericht steht. Zwei Drittel der Israelis fürchten um die Demokratie in ihrem Land.

Die Regierung prescht indes unbeirrt voran: Am Erscheinungstag dieser WOZ soll das Parlament über ein Gesetz entscheiden, das dem Kabinett mehr Mitsprache bei der Auswahl der höchsten Richter:innen gäbe. Da Israel weder über eine formale Verfassung noch über ein starkes Parlament verfügt, ist der Oberste Gerichtshof die wichtigste Stütze der Gewaltenteilung – und seit langem der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung und den Ultraorthodoxen in der Regierung ein Dorn im Auge.

Nun könnten die Entlassungen und der Streit um die Besetzung der Richter:innenposten selbst vor dem Obersten Gerichtshof landen. «Die Regierung muss stichhaltige Gründe vorbringen, etwa dass Ronen Bar seine Behörde nicht zuverlässig geleitet hat», sagt Aeyal Gross, Verfassungsrechtler an der Universität Tel Aviv. «Ein Mangel an persönlichem Vertrauen reicht dafür nicht. Der Geheimdienstchef ist nicht dem Regierungschef, sondern der Öffentlichkeit verpflichtet.»

Sollte sich der Gerichtshof gegen die Massnahmen stellen, kommt es zum Showdown: Setzt sich die Regierung über dessen Entscheidung hinweg, schlittert das Land in eine Verfassungskrise. «Was das bedeutet, lässt sich kaum absehen», sagt Gross. «Wem sollen der Geheimdienst, die Polizei oder wer auch immer folgen, wenn die Regierung das eine und das Gericht das andere sagt?»