Berichte aus Gaza: Die siebzehnte Flucht
Israel erteilt jeglicher Diplomatie eine Absage und rückt seit letzter Woche auch mit Panzern ins Zentrum von Gaza-Stadt vor. Den Bewohner:innen bleibt nur die erneute Flucht, doch sicher ist es nirgends mehr.
Eman al-Adschla will nicht erneut fliehen. «Ich befürchte, dass wir nie zurückkommen», sagt die 21-jährige freie Journalistin am Sonntag am Telefon aus Tel al-Hawa, einem Quartier im Süden von Gaza-Stadt. Dort lebt die sechsköpfige Familie, vier Geschwister und die Eltern, in einem teils zerstörten Zimmer in einer Hausruine. Die israelische Armee lasse ihnen aber keine Wahl. Mit Flugblättern und automatischen Telefonansagen fordere sie die Menschen auf, den Norden des Küstenstreifens zu verlassen. Seit Anfang September zerstört das Militär mit Luftangriffen bewohnte Hochhäuser in der Stadt. Nachts liessen Bombenangriffe und von Drohnen abgeworfene Sprengsätze das Gebäude beben, in dem die Familie lebt. «Ich fürchte bei jeder Explosion in der Nähe, dass unser Haus einstürzt», sagt Adschla. Sie habe kaum geschlafen, ständig erhelle Leuchtmunition den Nachthimmel. Seit vergangener Woche rücken auch Panzer ins Stadtzentrum vor. Israel hat die vollständige Einnahme der Stadt angekündigt.
«Gaza brennt»
Bleiben ist lebensgefährlich. Zwei Jahre israelische Angriffe haben gezeigt: Wo die Armee wie nun für Gaza-Stadt eine Evakuierungszone ausgerufen hat, geht sie anschliessend mit äusserster Brutalität vor. Über 65 000 Menschen wurden laut dem von der Hamas geleiteten Gesundheitsministerium im Gazastreifen in zwei Jahren getötet. Mehrere unabhängige Recherchen, unter anderem solche des «Guardian», kommen mittlerweile zum Schluss: Die überwiegende Mehrheit waren Zivilist:innen.
Eine vom Uno-Menschenrechtsrat eingesetzte Untersuchungskommission veröffentlichte vergangene Woche, kurz nach Beginn der Bodenoffensive, einen Bericht, in dem sie Israels Vorgehen im Gazastreifen als Völkermord bezeichnet. Das dreiköpfige Gremium sieht vier von fünf Tatbeständen der Uno-Völkermordkonvention erfüllt. Aussagen der israelischen Führung sowie das Vorgehen der Armee würden zudem das entscheidende Kriterium der Absicht untermauern. Israel wies den Bericht zurück, die Verfasser seien «Stellvertreter der Hamas».
Wie um den Bericht zu unterstreichen, schrieb Israels Verteidigungsminister Israel Katz am selben Tag auf X triumphierend: «Gaza brennt.» Dazu versprach er: Die Stadt werde zerstört wie zuvor Rafah und Beit Hanun, wenn die Hamas nicht aufgebe. Auch Regierungschef Benjamin Netanjahu fordert nichts weniger als die bedingungslose Kapitulation oder die Zerstörung der radikalislamischen Gruppe, die Israel am 7. Oktober 2023 überfallen und mehr als 1100 Menschen getötet hat. Selbst die Freilassung der zwanzig noch immer lebenden Geiseln würde daran laut seinen jüngsten Aussagen nichts ändern.
Kaum jemand ausserhalb von Netanjahus rechtsextremer Regierung hält die Offensive auf Gaza-Stadt für ein taugliches Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, nicht einmal der von ihm selbst berufene Armeechef Ejal Zamir. Einst militärisch organisiert, hat sich die Hamas heute in eine Guerillatruppe verwandelt, die mit Hinterhalten und Sprengfallen gegen Israels militärische Übermacht agiert. Laut der Armee starben seit Januar mehr als siebzig Soldaten bei solchen Angriffen.
Ein langer Tross Lastwagen
Einer diplomatischen Lösung und einem von der Hamas angenommenen Abkommen über die Freilassung von zehn noch lebenden Geiseln für eine mehrwöchige Kampfpause hat Israel am 9. September mit einem völkerrechtswidrigen Luftangriff auf deren Auslandsführung in Katar eine Absage erteilt.
Die Mehrheit der Israelis ist Umfragen zufolge mittlerweile gegen den Krieg. Noch immer aber melden sich trotz eines Rückgangs ausreichend Reservisten auf die Einberufungsbefehle. Der israelische Kurs führt indes immer weiter in die Isolation: Anfang Woche anerkannten etwa Frankreich, Grossbritannien und Kanada im Vorfeld der Uno-Generaldebatte Palästina als Staat. Jüngst drohte die EU Israel mit weitreichenden wirtschaftlichen Sanktionen. Die israelische Führung scheint davon unbeeindruckt, solange US-Präsident Donald Trump ihr in Gaza weiter freie Hand lässt.
Es wird ihre siebzehnte Flucht innerhalb von zwei Jahren sein, sagt Adschla, während im Hintergrund Kampfflugzeuge donnern. Doch der Weg in den Süden ist schwer. «Wir wollten vor zwei Tagen gehen, doch der Lastwagen ging kaputt.» Seither finde die Familie niemanden, der sie mitnehmen könne. Auf Fotos und Videos ist täglich ein langer Tross von voll beladenen Lkws und Eselskarren zu sehen, der sich die Küstenstrasse hinunterschiebt.
Noch immer befinden sich gemäss Angaben verschiedener offizieller Stellen rund eine halbe Million Menschen in Gaza-Stadt. «Um uns herum sind noch immer viele, die nicht in den Süden gegangen sind», sagt Adschla. Sie selbst habe nach einer ersten Flucht aus dem Norden mit allen Frauen der Familie ein Jahr lang in einem überfüllten Zeltlager im Süden gelebt, erst in Rafah, dann in Chan Junis. Sie erinnert sich an den täglichen Kampf um Wasser und Essen, an Infektionen und Durchfall.
Nachdem eine von Uno-Agenturen und verschiedenen NGOs getragene Initiative zur Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit (IPC-Initiative) Anfang August eine Hungersnot im Gazastreifen konstatiert hatte, lockerte Israel seine Blockade. Gleichzeitig aber nutzt Israel die humanitäre Versorgung über die wenigen Verteilstellen der von ihm eingesetzten Gaza Humanitarian Foundation, um die rund zwei Millionen Palästinenser:innen im Süden zu konzentrieren. Trotzdem will Adschla gehen. «Unser Leben ist wichtiger als alles andere», sagt sie. Sie erwarte nicht, nach Gaza zurückkehren zu können. «Sie werden die Stadt auslöschen.»
Seit dem israelischen Bruch der Waffenruhe im März geht die Armee deutlich zerstörerischer vor. Binnen Monaten wurden in verschiedenen Städten ganze Viertel systematisch abgerissen. Dabei kommen laut einer Recherche der israelischen Zeitung «Haaretz» private israelische Bauunternehmen und als Reservist:innen rekrutierte radikale Siedler:innen aus dem Westjordanland zum Einsatz.
Sicher sind die Geflüchteten auch im Süden nicht: Die ausgewiesenen Schutzzonen geraten regelmässig unter Beschuss. Zudem sollen sie bereits jetzt überfüllt sein. Von der «New York Times» analysierte Satellitenbilder zeigen Zeltstädte vom sandigen Küstenstreifen al-Mawasi bis etwa drei Kilometer ins Landesinnere. Selbst im israelischen Verteidigungsministerium hält man die «humanitäre Zone» für zu klein und rechnet mit chaotischen Zuständen, wie es in einem «Haaretz»-Bericht heisst.
Das ganze Leben blieb im Norden
Amir al-Siksik aus al-Tawam in Nordgaza ist die Flucht in Richtung Süden gelungen. Auch er wollte nicht gehen. «Dann hat die Armee Hochhäuser ganz in der Nähe unseres Zeltes am alten Hafen bombardiert.»
Seit vergangenem Dienstag lebt der 21-Jährige mit seiner Familie in der Stadt Deir al-Balah im zentralen Gazastreifen auf der Strasse. Die Grossmutter habe er auf der Flucht tragen müssen. Zu den dreissig Menschen, die mit einem einzigen Zelt gekommen sind, gehören neben seinen zwei Schwestern insgesamt neun Kinder von Verwandten, deren Eltern bei israelischen Angriffen ums Leben gekommen sind.
Die kurze Fahrt nach Deir al-Balah habe sie umgerechnet mehr als tausend Euro gekostet, erzählt Amir al-Siksik. Dort suchte die Familie vergeblich nach einer bezahlbaren Bleibe. Der Vater war vor dem Krieg Tischler, das wenige Ersparte haben sie längst aufgebraucht. «Heute haben wir Schulden bei vielen Verwandten.» Schliesslich schlugen sie ihr Zelt am Strand auf. Seit Samstagnacht der Wind die Wellen zwischen ihre Matratzen trieb, suchen sie erneut.
Ein paar Wasserkanister, Decken und einen Sack Kleider hätten sie mitnehmen können, sagt Siksik, zudem ein paar Töpfe und Teller, die für die grosse Familie nicht ausreichten. «Unser ganzes Leben ist im Norden geblieben.» Dafür aber seien die Explosionen jetzt ein Stück weiter weg. Das Donnern der Kampfflugzeuge sei aber auch hier im Süden ständig zu hören.
Die Flüchtlinge in Deir al-Balah und den anderen zentralen Gebieten müssen indes vielleicht bald erneut fliehen. Ein Sprecher der israelischen Armee sagte vergangene Woche, Gaza-Stadt sei die «wichtigste Hochburg der Hamas, aber nicht die letzte». Benjamin Netanjahu kündigte Anfang August eine vollständige Eroberung des Gazastreifens an. Siksik hält trotzdem an seiner Hoffnung fest: «Wir werden Gaza nicht vergessen, wie uns die Armee bei ihren Warnanrufen geheissen hat. Wir werden zurückkehren, auch wenn unsere Häuser nur noch Schutt sind.»