Geschichte: Erdgebunden und frei
Der Historiker Milo Probst untersucht in seinem neuen Buch, wie Theorie und Praxis des Anarchismus die gesellschaftlichen Naturverhältnisse umwälzen wollten.

Kommunismus, das sei «Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes», meinte einst Lenin. Heute wirkt die Idee, die soziale Revolution an eine Industrialisierung mit der Brechstange zu koppeln, offenkundig anachronistisch. Stattdessen haben die Bemühungen etwa von Jason W. Moore, Andreas Malm oder Kohei Saito, die ökologischen Aspekte des Marxismus herauszuarbeiten, zuletzt viel Interesse erfahren. Hier geht es nicht mehr um Produktivkraftentwicklung im Dienste des Aufbaus der klassenlosen Gesellschaft, sondern um eine Reparatur des durch den Kapitalismus gestörten «Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur» oder den «Degrowth-Kommunismus».
Milo Probst knüpft dagegen in «Anarchistische Ökologien» dezidiert an eine andere linke Traditionslinie an. Der Basler Historiker fragt in seinem neuen Buch nach Ansätzen im Anarchismus, die das Ziel, Herrschaftsverhältnisse umzuwälzen, mit der Absicht verknüpften, die Mensch-Natur-Beziehung neu zu organisieren. Das Buch trägt dabei nicht nur zur Geschichtsschreibung des Anarchismus bei, sondern wirbt auch dafür, nicht zu übersehen, was etwa Michail Bakunin oder Pjotr Kropotkin (sowie weitere weniger prominente Anarchist:innen) zur heutigen klimapolitischen Diskussion beitragen können.
Umgekehrt fallen mitunter zeitgenössische Denker:innen hinter bereits Erkanntes zurück. Probst zitiert etwa den britischen Archäologen David Wengrow und den US-Anthropologen David Graeber, die in ihrem Bestseller «Anfänge» von 2021 die Menschen als «Projekte kollektiver Selbsterschaffung» begreifen. Damit würden sie ausblenden, so Probst, «dass die menschliche ‹Fähigkeit, mit verschiedenen Formen sozialer Organisation zu experimentieren›, stets auf Nicht- oder Mehr-als-Menschliches angewiesen ist». Gerade heute müsse «das Denken der Emanzipation über den Kreis der Menschen hinauswachsen», eben deren Umwelt mitthematisieren.
Im Fahrwasser der Moderne
In Probsts Streifzug durch den Anarchismus von der zweiten Hälfte des 19. bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts treten nacheinander verschiedene Aspekte in den Vordergrund, etwa die Frage, wie Anarchist:innen den Bodenbesitz neu organisieren wollten, wie sie zu technischer Innovation standen oder welche Bildungskonzepte sie entwickelten. Es ist eine von Ambivalenzen gekennzeichnete Geschichte. So sei offensichtlich, schreibt der Historiker, dass auch viele Anarchist:innen «im Fahrwasser einer wissenschaftsgläubigen und -begeisterten Moderne schwammen».
Interessant wird es aber dort, wo sie mit dem Zeitgeist brachen. Bakunin beispielsweise schwebte ausdrücklich die Befreiung des Menschen vom Joch der Natur vor – hier klingt das moderne Programm der Naturunterwerfung an. Zugleich schrieb der russische Anarchist aber auch, dass der Mensch nicht «ungestraft die Materie verachten» könne, also nicht seine Naturhaftigkeit verleugnen dürfe.
Im ersten Kapitel fokussiert Probst auf die Debatten darüber, wie es mit dem Eigentum am Boden zu halten ist. In diesem sahen die Anhänger:innen Pierre-Joseph Proudhons «die Bedingung für Freiheit und individuelle Autonomie der Bauern». Diese Position geriet aber bald in die Defensive, 1869 beschloss der Basler Kongress der Internationale, dass der Boden vergesellschaftet gehöre. Für Probst wurde hierbei im Kern verhandelt, «ob es Dinge gab, die niemandem vollumfänglich gehören durften, selbst den Körperschaften der Arbeitenden nicht». Anders als noch bei den Proudhonist:innen durfte den kollektivistischen Anarchist:innen zufolge «die Erde als menschenungemachter Grund des kreativen Schaffens nur im Interesse aller gebraucht werden». Nutzniessen statt kaputtbesitzen sei ihre Devise gewesen.
Diese Vision eines behutsamen Umgangs mit der Natur anstelle ihrer durch Eigentumsrechte abgesicherten Vernutzung ist ein Leitmotiv des Buches. So arbeitet Probst auch für die anarchistischen Ansätze in der Pädagogik heraus, dass hier Emanzipation als «Resultat nutzniesserischer Beziehungen zum eigenen Körper und zu den Umwelten» konzipiert wurde. Damit scheint also ein Gegenentwurf zum «autonomen» Einzelnen auf, der im liberalen Besitzindividualismus über seine natürlichen Lebensbedingungen souverän verfügend vorgestellt wird.
«Natur» triggert
Wenn nun aber die Anarchist:innen gerade die natürliche Seite des Menschen herausstrichen, droht dann nicht eine naturalistische Festschreibung dessen, was der Mensch sein kann? Heute argumentiert ja etwa der Queerfeminismus entschieden antinaturalistisch, um angeblich «natürliche» Geschlechteridentitäten aufzulösen. Für Probst mündet aber ein Naturbezug nicht zwangsläufig in einen Essenzialismus, der den Raum des Möglichen abschliesst: «Bei den Anarchist:innen um 1900 erfüllten ‹Natur› sowie verwandte Kategorien wie ‹Leben›, ‹Materie› oder ‹Organismus› nämlich die genau umgekehrte Funktion: Sie sollten eine verknöcherte Gesellschaft in Bewegung setzen.»
Man darf also nicht meinen, Autor:innen hätten einem nichts mehr zu sagen, nur weil sie bestimmte Reizwörter gebrauchten. Probst jedenfalls vermag auch in über ein Jahrhundert alten Texten Impulse für ein «erdgebundenes» Emanzipationsprojekt zu entdecken.
