Widerstand auf dem Balkan: «EU-Fahnen sind keine zu sehen»
Gleich in mehreren Ländern Südosteuropas gibt es derzeit grössere Protestbewegungen. Gerade die Linke im westlichen Europa könne viel von ihnen lernen – und nicht umgekehrt, sagt die serbische Anthropologin Tanja Petrović.

WOZ: Frau Petrović, in diesen Tagen ist mancherorts wieder von einem «Balkanfrühling» zu lesen, der angeblich gerade aufkomme. Was halten Sie von dem Begriff?
Tanja Petrović: Ich bin damit nicht sehr glücklich. Der Ausdruck lehnt sich an den «Arabischen Frühling» der frühen zehner Jahre an, und schon damals wurden darunter komplexe politische und soziale Ereignisse viel zu vereinfacht zusammengefasst.
WOZ: Kann es trotzdem sinnvoll sein, die vielen Proteste, die es in Südosteuropa, von Ungarn bis in die Türkei, zuletzt gab, in einen Zusammenhang zu bringen?
Tanja Petrović: Es wäre zwar irreführend zu behaupten, die Proteste – oder auch die autoritären Regimes, gegen die sie sich richten – würden allesamt einem bestimmten historischen Vermächtnis entwachsen, das die ganze Region geprägt habe. Dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten. Sie haben im Wesentlichen mit der Art der Politik in Europa und weltweit zu tun.
WOZ: Welche Parallelen sehen Sie?
Tanja Petrović: Die Proteste wurden meist von jungen Menschen angestossen, die ihre Zukunftsperspektiven zurückgewinnen wollen. Sie suchen nach Alternativen zur jeweils etablierten Politik, der sie die Fähigkeit absprechen, zur Lösung ihrer existenziellen Probleme beizutragen. Auch sind Studierende aus etlichen Ländern untereinander vernetzt.
Tanja Petrović: Eine Gemeinsamkeit findet sich teils auch in der Korruption, die bekämpft wird; Korruption gibt es überall auf der Welt, aber mancherorts verunmöglicht sie ein normales Leben. In Serbien etwa hat sie ein tödliches Ausmass angenommen. So war es der Einsturz eines Bahnhofvordachs in Novi Sad, bei dem sechzehn Menschen starben, der am Ursprung der aktuellen Proteste stand. Der Einsturz war auf Korruption in Zusammenhang mit einem Umbau zurückzuführen.
Die Erinnerungsforscherin
Tanja Petrović (50) ist Anthropologin und Sprachwissenschaftlerin. Während des Studiums in Belgrad war sie ab 1996 bei den Protesten gegen die Regierung aktiv. 2000, kurz nach dem Sturz von Präsident Slobodan Milošević, zog sie ins slowenische Ljubljana, wo sie heute noch lebt.
Petrović leitet das Institut für Kultur- und Erinnerungsstudien an der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Sie forscht zum exjugoslawischen Postsozialismus sowie zu Geschlechter- und Arbeitsgeschichte. 2015 erschien ihr Buch «Yuropa», das der postjugoslawischen Erinnerungskultur nachgeht, auf Deutsch.

WOZ: Ähnlich wie in Nordmazedonien, wo jüngst Tausende protestierten, nachdem in Kočani 59 Menschen beim Brand eines seit Jahren illegal betriebenen Nachtclubs ums Leben gekommen waren.
Tanja Petrović: Das stimmt, aber andernorts waren andere Sachen ausschlaggebend. In Ungarn wurde wegen eines Begnadigungs- und Justizskandals sowie wegen des Pride-Verbots gegen die Regierung protestiert. In Griechenland gab es zuletzt gigantische Demonstrationen und einen Generalstreik wegen des Tembi-Zugunglücks vor zwei Jahren, für das niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. In der Türkei gehen die Menschen nach der Verhaftung von Präsidentschaftskandidat Ekrem İmamoğlu auf die Strasse. Es gibt also unterschiedliche Auslöser. Aber was all diese Gemeinschaften eint, ist ihre periphere Position innerhalb Europas. Sie prägt die Region seit Jahrhunderten, hat mit der EU aber eine neue Dimension angenommen.
WOZ: Gilt das auch für Griechenland und Ungarn, beides EU-Mitglieder?
Tanja Petrović: Ja, innerhalb der EU gibt es genauso eine Peripherie. Das mussten die Griech:innen merken, als ihnen 2010 ein brutales Austeritätsprogramm aufgezwungen wurde.
WOZ: Daneben gibt es von Bosnien bis zur Türkei eine ganze Reihe von Staaten, die sich in unterschiedlichen Stadien des EU-Beitrittsprozesses befinden – zumindest formal. Hat das einen verbindenden Effekt?
Tanja Petrović: Vielleicht nicht gerade in einem identitätsstiftenden Sinn. Aber es verbindet die Menschen, dass sie einen anderen Blick auf den eigenen Kontinent haben als jene in Kerneuropa. Und sie erkennen auch, dass die EU eine Art Legitimitätskrise durchmacht, allen kämpferischen Parolen gegenüber Putins Russland und Trumps USA zum Trotz. Es sagt viel aus, dass in Serbien auf der Strasse derzeit keine EU-Fahnen zu sehen sind.
WOZ: Gab es eine Desillusionierung?
Tanja Petrović: Ja, aber die hat schon lange stattgefunden. Bereits vor rund zwanzig Jahren hatte der europäische Diskurs um die Osterweiterung einen sehr paternalistischen Charakter. Er wurde oft mit bestimmten Metaphern geführt: die EU als Haus, in das nicht jeder einfach so eintreten kann. Die EU als Familie, in der den Ländern Südosteuropas bestenfalls die Kinderrolle zukommt. Darin schwangen koloniale Denkweisen mit.
Tanja Petrović: Damals, in den nuller Jahren, herrschte in der Region trotzdem noch die Vorstellung vor, dass im EU-Beitritt die einzige logische und hoffnungsvolle Zukunft liege. Heute wissen die Leute, dass sie von den europäischen Institutionen keine echte Unterstützung erwarten können. In Serbien etwa verfolgt die EU knallhart ihre Eigeninteressen, zum Beispiel beim Zugang zu den Lithiumvorkommen. Bezeichnenderweise traf sich Marta Kos, die EU-Kommissarin für Erweiterung und Östliche Nachbarschaften, Mitte März mit Präsident Aleksandar Vučić – nur wenige Tage nachdem Hunderttausende in Belgrad gegen dessen Regierung demonstriert hatten.
WOZ: Die koloniale Denkweise ist also geblieben?
Tanja Petrović: Insofern, als die EU demokratische Werte proklamiert, die sie in der Peripherie aber wirtschaftlichen Interessen unterordnet. Der anhaltende Wartezustand macht die Menschen dort ausbeutbar: In manchen EU-Ländern sind unzählige Fabriken aus dem Boden geschossen, die darauf ausgerichtet sind, Menschen mit dreimonatiger Aufenthaltsgenehmigung einzustellen. So lange dürfen die Bürger:innen mehrerer Balkanstaaten visumfrei in die EU einreisen. Gleichzeitig subventionieren Politiker wie Vučić die Ansiedlung ausländischer Firmen, die in der Region günstig produzieren wollen, nicht nur aus Europa, sondern etwa auch aus Asien. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, den Menschen werden viele Rechte vorenthalten, etwa jenes auf gewerkschaftliche Organisation.
WOZ: Von wem können die Protestierenden denn Unterstützung erwarten?
Tanja Petrović: Von niemandem. Nicht nur die EU schweigt – Putin und Trump genauso. Die Leute wissen, dass sie allein und darum umso mehr aufeinander angewiesen sind. Sie behaupten auch nicht, zu wissen, wie die Zukunft auszusehen habe. Diese Offenheit macht gerade die serbische Bewegung umso beeindruckender: Die Beteiligten suchen nach neuen Organisationsformen, nach neuen Mustern der Kollektivität. Und sie haben es geschafft, entgegen allen Hass- und Desinformationskampagnen regierungsgesteuerter Medien in alle Landesteile und zu allen Bevölkerungsschichten durchzudringen. Das gibt viel Hoffnung. Auch über den Balkan hinaus, wie ich finde.
WOZ: Von der europäischen Linken ist bislang aber nicht allzu viel Interesse wahrnehmbar.
Tanja Petrović: Ich teile diesen Eindruck. Vielen fällt es offensichtlich schwer zu realisieren, dass sie von den Bewegungen in der Peripherie lernen sollten – und nicht umgekehrt. Dabei wäre das aktuell wichtiger denn je angesichts der Hilflosigkeit, mit der den weiter erstarkenden Rechtspopulist:innen in Europa begegnet wird. Gerade in den exjugoslawischen Staaten gibt es sehr viel Expertise aus der Vergangenheit, etwa was Formen der Selbstverwaltung, aber auch die Gefahren des Nationalismus betrifft.
WOZ: Die Jugoslawienkriege sind seit 25 Jahren vorbei. Hat seither nicht nur die EU, sondern auch der Nationalismus an Glanz verloren?
Tanja Petrović: Der Nationalismus ist noch immer stark verankert und wird auch politisch bedient. Was gerade passiert, deutet in meinen Augen aber darauf hin, dass viele Leute von der Idee abgekommen sind, dass sie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe vor irgendwas schützen oder retten würde.
Tanja Petrović: Ausserdem habe ich den Eindruck, dass den meisten Leuten weiterhin klar ist, dass es keine Alternative zu Europa gibt. Wir alle müssen an dieses Projekt glauben – und anerkennen, dass es eine neue Politik braucht, die nicht nur den Interessen der Mächtigen gehorcht. Das gilt weit über die Region hinaus: Überall in Europa gibt es Menschen, die sich ebenso erschöpft, ausgebeutet und ihrer Lebensgrundlagen beraubt fühlen. Auch wenn es nicht immer so sichtbar ist wie derzeit im Balkan.