Ein Jahr Proteste in Serbien: «Sie wollen das ganze Land zu Fall bringen!»

Nr. 44 –

Noch immer unterstützt ein beachtlicher Teil der serbischen Bevölkerung den Präsidenten Aleksandar Vučić. Warum ist das so?

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Snežana und Dragan Jeremić
«Wie können wir wissen, wer hinter den Studierenden steht?»: Snežana und Dragan Jeremić.

Hinter einem Schreibtisch mit zwei alten Kabeltelefonen und einem aufgeklappten Laptop sitzt der 35-jährige Beamte Stefan Đurić aus der Kleinstadt Ljig und sagt: «Lehrer und Professoren, die noch nie so gut bezahlt waren wie heute, bringen den Kindern das Protestieren bei – das ist Manipulation.» In einem Garten, zwischen Weinreben und Rosen, hat sich die 72-jährige Snežana Jeremić mit ihren roten Gelnägeln in einem Plastikstuhl zurechtgerückt und sagt: «Sie wollen nicht die Regierung stürzen – sie wollen das ganze Land zu Fall bringen!» Auf einem Feld, das nicht seines ist, neben einem Traktor, der ihm nicht gehört, steht der Bauer Dragan Vrhovac. Er sagt: «Würden die ausländischen Staaten nicht so viel Druck auf unseren Präsidenten ausüben, würde er das Land zum Guten wandeln.»

Auf den ersten Blick haben sie wenig gemeinsam, doch verbindet die drei eines: Sie alle unterstützen Präsident Aleksandar Vučić – und sie alle lehnen die Protestbewegung in Serbien ab.

Die Propaganda

Begonnen hat alles, nachdem in Novi Sad das Vordach des Bahnhofsgebäudes eingestürzt war. Hunderttausende sind seither im ganzen Land auf die Strassen gegangen. Seit Monaten fordern die Student:innen, die die Bewegung anführen, Neuwahlen – bislang ohne Erfolg. Sollte es doch Wahlen geben, hätten sie Chancen, zu gewinnen. Laut der jüngsten Umfrage des unabhängigen Recherche- und Transparenzzentrums CRTA würden 44 Prozent der Befragten eine mögliche Studierendenliste unterstützen, 32 Prozent den Vučić-Block.

Wer sind die Menschen, die Vučić auch nach Monaten des Protests und trotz brutaler staatlicher Gewalt weiterhin die Treue halten? Und warum? Um das herauszufinden, ist die WOZ durchs Land gefahren – an Orte jenseits der Grossstädte, die in den vergangenen Monaten zu Hochburgen des Protests geworden sind. In den Norden Serbiens, in die Vojvodina – und nach Ljig im Süden von Belgrad.

Ljig ist eine ganz normale serbische Kleinstadt. Es gibt einen Marktplatz, der mehr Tristesse als Leben ausstrahlt, und eine Handvoll Beizen. «Hier hat es bis heute keinen grossen Protest gegeben», sagt Stefan Đurić und klingt stolz dabei. Đurić ist Direktor für öffentliche Infrastruktur in Ljig, sein Büro liegt im Rathaus. 2012 habe er sich Vučićs Fortschrittspartei SNS angeschlossen – nicht aus finanziellen, sondern aus ideologischen Gründen. «Ich habe gesehen, die wollen etwas vorwärtsbringen.» Seither seien in der Region hundert Kilometer Strassen gebaut, Kindergärten eröffnet und Gesundheitszentren modernisiert worden.

Stefan Đurić
«Glauben Sie, das Bahnhofsdach ist einfach so eingestürzt?»: Stefan Đurić, Beamter in Ljig.
 

«Natürlich sehen das die verwöhnten Leute in der Stadt nicht.» Für ihn ist der Protest der vergangenen Monate einer der städtischen Elite gegen die «normalen Bürger» auf dem Land – und zugleich einer, der von aussen gesteuert wird. «Oder glauben Sie, das Bahnhofsdach ist einfach so eingestürzt?» Wer dahinterstecke? Đurić zuckt mit den Schultern. Da solle sich jeder seine eigenen Gedanken machen. Aber spätestens seit dem Sturz von Slobodan Milošević unter Mithilfe aus dem Ausland wisse man, was möglich sei.

Đurić ist nicht der Einzige, der eine ausländische Verschwörung hinter den Protesten wittert. Solche Erzählungen werden in regierungsnahen Medien regelmässig verbreitet. Vor allem auf dem Land, wo viele Menschen Kabelfernsehen schauen und so fast ausschliesslich regierungsnahe Sender sehen, spielt das eine grosse Rolle.

Wirtschaft und Stabilität

Ein paar Strassen vom Rathaus in Ljig entfernt jätet ein Mann in Arztkleidung den Garten vor seinem Haus. Natürlich wähle er Vučić, sagt der pensionierte Orthopäde, aber reden solle man lieber mit seiner Frau. Sie hält die Student:innen für Gewalttäter:innen. «Was erwarten diese ‹blokaderi›, wenn sie die Polizei angreifen? Natürlich muss sich der Staat verteidigen!», sagt Snežana Jeremić (72), die vor ihrer Pension als Richterin gearbeitet hat. «Ich habe damals gegen Milošević protestiert – und was haben wir danach erhalten? Chaos.» Die Opposition habe das Land gedemütigt, indem sie Kriegsverbrecher – von vielen in Serbien als Helden verehrt – nach Den Haag ausgeliefert habe. Dennoch hätten viele grosse Hoffnungen auf Demokratie und gesellschaftlichen Wandel geteilt, seien aber enttäuscht worden. Mit den Privatisierungen sei das soziale Netz des sozialistischen Jugoslawien zerfallen, und besonders eskaliert sei die Situation, als während der Wirtschaftskrise ab 2008 Zehntausende ihre Jobs verloren hätten.

Unter einem Kastanienbaum in einem Dorf in der Vojvodina im Norden Serbiens sitzen zwei alte Männer, Miloš und Slavko, die beide nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchten. «Wo waren die Studenten, als sie 2006 meine Firma geschlossen und mich auf die Strasse gesetzt haben?», fragt Slavko. «Jetzt wollen diejenigen, die dafür verantwortlich waren, mithilfe der Studenten wieder an die Macht kommen – aufknüpfen sollte man sie», sagt Miloš. Erst mit der SNS, so finden beide, sei Stabilität in Serbien eingekehrt: Arbeitsplätze seien entstanden, Pensionen gestiegen, Strassen gebaut worden. Solche Geschichten hört man überall – in Ljig wie in der Vojvodina.

«Auf dem Papier», sagt der Politikwissenschaftler Dušan Spasojević, «hat sich der Lebensstandard in Serbien in den letzten dreizehn Jahren deutlich verbessert.» Doch längst nicht so stark, wie Vučić es darstelle. Zu Beginn seiner Amtszeit seien die Renten stark gekürzt worden, erst später seien sie wieder langsam angestiegen. «Für Menschen in Belgrad sind hundert Euro mehr oder weniger kaum spürbar – auf dem Land dagegen schon.» Es sei daher kein Wunder, dass Vučić aus keinem Teil der Bevölkerung so viel Zuspruch erfahre wie von Rentner:innen, die etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung Serbiens ausmachen.

Vučić habe es zudem geschafft, durch geschicktes Lavieren zwischen Ost und West ausländische Direktinvestitionen aus China, Russland, den Golfstaaten und der EU ins Land zu holen – und damit Arbeitsplätze zu schaffen, sagt der Soziologe Vladimir Simović, Programmkoordinator für Arbeitsrechte am Zentrum für Politik der Emanzipation in Belgrad. «Was ist schlimmer, als ausgebeutet zu werden? Nicht ausgebeutet zu werden.»

Es stimme, dass die Arbeitslosigkeit durch neu geschaffene Jobs deutlich gesunken sei – doch seien das meist einfache, schlecht bezahlte Tätigkeiten. «Serbien produziert billige Autoteile oder Kleidung, ohne eigene Wertschöpfungsketten aufzubauen.» Prestigeträchtige Infrastrukturprojekte würden auf Pump finanziert, während nachhaltige Industrien fehlten. «Ein ökonomisches Kartenhaus, das zusammenbricht, sobald Investoren billigere Standorte finden.»

Auch die Landwirtschaft kämpft mit dem Druck. «Unser Leben ist hart», sagt der Bauer Dragan Vrhovac. Er arbeitet gerade auf einem Feld, das er für einen anderen Bauern bestellt. «Wegen billiger Konkurrenzprodukte aus der EU werden wir gezwungen, Milch und Fleisch auch immer billiger zu produzieren.» Gleichzeitig steigen die Preise für Futter und Treibstoff – bald wohl noch stärker, denn die USA haben im vergangenen Monat Sanktionen gegen die serbische Ölgesellschaft NIS verhängt, die mehrheitlich dem russischen Konzern Gazprom Neft gehört. Für Vrhovac ist das nur ein weiterer Beweis, dass aus dem Ausland versucht werde, Präsident Vučić zu stürzen.

Dragan Vrhovac
Dragan Vrhovac glaubt, dass aus dem Ausland versucht werde, Präsident Vučić zu stürzen.

Der Klientelismus

Doch es sind nicht nur Fortschritt und Propaganda, die erklären, warum die SNS und ihr Präsident Aleksandar Vučić weiterhin fest im Sattel zu sitzen scheinen. In einer Beiz in Ljig sitzen zwei Männer in Arbeitskleidung. Sie rauchen, trinken Bier. «Um die Stelle anzutreten, musste ich Mitglied der Partei werden», sagt ein Mitarbeiter eines Energieversorgers, der anonym bleiben will. So wie ihm gehe es vielen Arbeitssuchenden bei staatlichen oder teilstaatlichen Konzernen in Serbien.

Über Jahre sei ein Geflecht des Klientelismus entstanden, meint dazu Soziologe Simović. «Die Logik ist einfach: Wer der Regierungspartei beitritt oder sie unterstützt, bekommt eher einen Job, medizinische Behandlung oder Hilfe bei Behördengängen.» In einem armen Land sei der Klientelismus für viele schlicht eine Überlebensstrategie. Wo das Sozialsystem versagt, ersetzt die Partei dieses Netz. Dusan Spasojević sagt dazu: «Dieses Denken – ‹Ich wähle die Partei, weil sich sowieso nichts ändert› – hat sich in den Köpfen festgesetzt. Jetzt aber, da erstmals wieder ein Machtwechsel denkbar scheint, könnten einige die Seite wechseln.»

Der Arbeiter aus Ljig hat sein Parteibuch inzwischen abgegeben, wie er erzählt. Und auch sonst scheint es so, als habe die Student:innenbewegung ihr Potenzial noch nicht vollends ausgeschöpft. Seit Monaten beherrschen Berichte über eine mögliche «Studierendenliste» die Medien. Eine Wahlliste, auf der von Studierenden nominierte Vertreter:innen aus dem gesamten politischen Spektrum stehen sollen, deren Namen bislang aber noch nicht bekannt sind.

Das sorgt bei vielen für Misstrauen. Snežana Jeremić etwa fragt: «Wie können wir so wissen, wer hinter den Studierenden steht?» Könnte sich der Bauer Dragan Vrhovac jemals vorstellen, die Student:innen zu wählen? «Wenn ich den Eindruck hätte, dass sich die Menschen auf der Liste tatsächlich für Leute wie mich interessieren – wieso nicht?»

Mitarbeit: Ana Milosavljević.