Literatur: Wer ist hier falsch abgebogen?
Undercover in der Ökokommune: Die US-Autorin Rachel Kushner schickt in ihrem neuen Roman eine zynische Geheimagentin nach Frankreich.

Wenn ein Roman einerseits einen Spionageplot zu bieten hat und andererseits den Mailverkehr eines abgetauchten Ökophilosophen, dessen ausschweifende Erörterungen in indirekter Rede wiedergegeben werden: Welche dieser Ebenen wird wohl die aufregendere sein?
Als Motor funktioniert sie ganz okay, die Undercovermission in «See der Schöpfung», dem neuen Roman von Rachel Kushner. Die Ich-Erzählerin, eine aufreizende US-Agentin mit dem Decknamen Sadie Smith, soll in privatem Auftrag eine landwirtschaftliche Kommune in Südfrankreich infiltrieren, die im Verdacht steht, etwas mit Sabotageakten gegen ökologisch fragwürdige Grossprojekte in der Region zu tun zu haben.
Philosoph in der Erde
Doch dieser Plot wird von Anfang an überlagert und überwuchert von den anthropologischen Exkursen des Philosophen, der als geistiger Patron der Kommune gilt. Sadie trifft ihn nie, sie liest nur heimlich seine Mails mit, sucht darin nach Hinweisen, dass er seine Zöglinge zum gewaltsamen Protest anstiftet – und verliert sich dabei ihrerseits in den Echokammern seines Denkens.
Bruno Lacombe heisst dieser Zivilisationsgegner, und man liegt nicht falsch, wenn man hier gleich an Bruno Latour denkt, den Autor des «Terrestrischen Manifests». Die Verbundenheit mit der Erde jedoch, wie sie Latour predigte, nimmt der Bruno im Roman etwas zu ernst: Als Höhlenmensch spürt er im Untergrund den Frequenzen früherer Generationen nach – und seinem eigenen familiären Trauma. Doch wenn er seine Fragmente einer alternativen Menschheitsgeschichte entwirft und die verborgenen Sedimente unserer Gattung freilegt, entfalten die Mails dieses Sonderlings eine verführerische Kraft, der sich auch die abgebrühteste Spionin nicht entziehen kann.
Wann ist der Mensch falsch abgebogen? Das ist es, was Bruno verstehen will – bis er einsehen muss, dass er in seiner Mystifizierung der Vergangenheit wohl irgendwann selber falsch abgebogen ist. Aber Anstiftung zur Gewalt? Fehlanzeige. Bruno nutzt seine Botschaften an die Kommune lieber, um den Neandertaler zu rehabilitieren, als empfindsameren Vorläufer des hinterhältigen Nachzüglers namens Homo sapiens. Oder er erinnert an einen Aufstand der verfemten Cagots gegen den französischen Adel im Jahr 1594 und erklärt das Navigationsprinzip polynesischer Kulturen, das auf der Umkehrung der Bewegung beruhe: «Ziele kamen bei den Seefahrern an, statt dass Seefahrer auf sie zusteuerten.»
Die Kommune tendiert derweil zur Karikatur: Pariser Mittelschichtsboys, die stolz die kollektiv geführte Kinderkrippe auf dem Hof erklären – aber wenn es trotzdem gerade die Mütter sind, die ihre eigenen Kinder betreuen, ist das natürlich «Zufall». In der «London Review of Books» hat das ein Schriftstellerkollege der Autorin zum Vorwurf gemacht: Warum nur habe Kushner, statt Revolutionäre und ihre Ideale ernst zu nehmen, einen Roman über eine apolitische Spionin geschrieben, die für jene nur Verachtung übrighabe?
Vielleicht weil das, was zwischen Bruno und der nihilistischen Sadie passiert, eben interessanter ist und auch tiefer geht. Abgesehen davon, dass beide im Verborgenen wirken, könnten sie unterschiedlicher nicht sein, die zwei zentralen Figuren dieses Romans: hier der Mann des Wortes, der französische Denker in seiner Höhle, einst Weggefährte von Guy Debord, aber der Welt längst abhandengekommen; da die Frau der Tat, die amerikanische Femme fatale, mit dem Auftrag, die Kommune ins Messer laufen zu lassen – und die dabei zu einer besessenen Leserin wird als Empfängerin von Briefen, die gar nie an sie adressiert waren. «See der Schöpfung» entpuppt sich so als eine Art politischer Liebesroman, in dem geschieht, was die beste Literatur immer auch auszeichnet: eine platonische Verführung, zum Lesen nämlich.
Falsche Brüste, echter Slapstick
Diese Sadie («Sind meine Brüste echt? Spielt das eine Rolle?») ist sowieso eine Nummer für sich. Als Ich-Erzählerin ist sie ordinär, zynisch und in ihrem schnoddrigen Esprit unfassbar überheblich, was europäische Kultur angeht. Eine französische Terrine? «Katzenfutter». Spaghetti? Nur «Mehl und Wasser und schmecken immer gleich, egal wo sie herkommen». Die französische Sprache? «Was Nuancenreichtum und Ausdruckskraft angeht, ist Englisch unschlagbar.» Als sie irgendwo auf einem tristen Camionparkplatz einen billigen Slip entdeckt, der sich im Gebüsch verfangen hat, sieht Sadie darin den Inbegriff von Europa: Transport, Markt, Verkehr.
Zeitgeschichte ist bei Kushner seit jeher wichtiger als Zeitgeist, aber der Roman legt immer wieder auch Fährten zur Aktualität. Das Handbuch für den Aufstand, das die Kommune im Roman herausgegeben hat, erinnert natürlich an «Der kommende Aufstand», und im Showdown hat ein Houellebecq-Verschnitt einen Gastauftritt am Rand. Den Thriller, den sie anteasert, löst die Autorin auch ein – mit einem tragikomischen Slapstickfinale, das sie so brüsk abwickelt, dass es, kaum angefangen, schon vorbei ist. Aber wenn in einem Roman jemandem eine Schusswaffe ausgehändigt wird: Wer sagt denn, dass die dann auch wirklich abgefeuert werden muss, nur weil ein alter Russe das mal zu einer dramaturgischen Faustregel erklärt hat?

Rachel Kushner liest in Zürich, Kaufleuten, So, 4. Mai 2025, 20 Uhr.