Literatur: Bizeps statt Brustpumpe

Nr. 40 –

Verena Kesslers neuer Roman «Gym» ist ein düsterer, schamloser Trip in den feministischen Muskelwahn. Und das liest sich ziemlich heiter.

Diesen Artikel hören (6:08)
-15
+15
-15
/
+15
Symbolbild: eine Frau trainiert im Fitnesscenter
Das Gym als Schlachtfeld der Stereotype: Verena Kesslers bissiger Roman ist keine 
Empowermentfantasie mit Happy End.
Foto: Paula Berezo, Laif

Wie wird man unaufhaltsam? Grösser, stärker, kontrollierter? Das fragt sich die namenlose Ich-Erzählerin. Eigentlich wollte sie hinter dem Tresen im Fitnessstudio einen unaufgeregten Neuanfang hinlegen. Der neue Job ist für die Protagonistin – aus undurchsichtigen Gründen aus einer Unternehmensberatung geflogen – ein Abstieg. Beim Vorstellungsgespräch läuft alles gut, bis der Chef sich räuspert. Sein Team, inklusive Barpersonal, müsse diesen Ort, das «Mega-Gym», gewissermassen «verkörpern», sagt er mit Blick auf die Physis der sich Vorstellenden. Nicht seine Meinung, versteht sich, sondern nur Business. Die Protagonistin reagiert instinktiv: Sie lügt. Gerade entbunden, behauptet sie. Ein «After-Baby-Body». Und das resoniert beim selbsternannten Feministen.

Mit diesem ersten Kniff beginnt die Hamburger Autorin Verena Kessler in ihrem dritten Roman, eine perfide Körperlogik offenzulegen. Der Durchschnittskörper mit «Erdnussflipbauch» der Erzählerin ist als der einer fiktiven Neumutter gerade noch im akzeptierten «Wiederaufbau». So gliedert sich «Gym» in vier Sätze, sogenannte Trainingseinheiten, denen die Erzählerin nachgeht. Definierte Muskeln reichen aber bald nicht mehr, als Vick auftaucht: Bodybuilderin, Berge von Muskeln, jenseits jeder Norm. Aus anfänglicher Anziehung entwickelt sich eine krankhafte Obsession – und ein erbitterter Konkurrenzkampf.

Bodyhorror mit feministischem Spin

Die Nähe zum Film «Love Lies Bleeding» der britischen Regisseurin Rose Glass liegt bei «Gym» quasi auf der Hantelbank. Zwei Frauen, ein Muskelwahn, ein Begehren, das sich zur Gewaltspirale steigert. Und das alles im Kraftraum – männlicher konnotiert geht kaum. Verena Kessler wurde 2020 mit ihrem Debüt «Die Gespenster von Demmin» bekannt, das sich mit dem Massensuizid in der gleichnamigen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern am Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Auch wenn «Gym» weitaus satirischer angelegt ist, gibt es stilistische Parallelen: ein atmosphärisches Erzählen, hier mit unerbittlichem Tempo.

Den körperlichen und psychischen Zustand ihrer Protagonistin beschreibt die Autorin in kraftvollen, teils hypnotisch verzerrten Bildern, lässt sie Proteinpulver schlucken, Magerquark erbrechen, im Parkhaus Steroide einstecken. Man riecht den Harzer Käse in den Spinden, den künstlichen Basilikumduft auf dem sterilen Klo, spürt die nächtlichen Wadenkrämpfe, die Einstichstellen. Der überdrehte Technobeat gibt den Takt, in Versalien steht da auch mal nur: «BAM-BAM-BAM.»

Und während Kessler in ihrem zweiten Buch «Eva» Fragen rund ums Kinderkriegen in einer präapokalyptischen Gegenwart ergründet, dreht «Gym» das Konzept ins Absurde; mit einer Figur, die ihre erfundene Mutterschaft zunehmend nur schwer mit dem Alltag auf Anabolika in Einklang bringen kann. Lieber trainiert sie den Bizeps mit der Brustpresse, als ihre «Stillpause» mit Brustpumpe zu verbringen und heimlich Milchpulver anzurühren, das über fehlenden Milchfluss hinwegtäuschen soll. Sie fragt sich, wann ein unauffälliger Zeitpunkt zum Abstillen wäre. Die Erzählerin verliert die Kontrolle – über Körper, Leben, Lügen. Eine Eskalation ist unausweichlich.

Dass Kessler für ihren satirischen Bodyhorror ausgerechnet das Female Bodybuilding wählt, ist kein Zufall. Es sind die Aussenseiterinnen der Muckibude, die mit gängigen Weiblichkeitsvorstellungen brechen: Nicht Schwäche, sondern sichtbare Stärke macht sie «verdächtig»: ein Körper, der nicht gefallen, sondern dominieren will. «Hier ging es nicht um Schönheit, nicht um Sex, nicht darum, was irgendjemand von ihr dachte oder wollte. Auf einmal war es mir vollkommen klar. Was Vick da machte, war, sich selbst zu erschaffen», erkennt die Erzählerin.

Brüchige Versprechen

«Gym» zeigt aber auch, wie brüchig das Versprechen körperlicher Selbstermächtigung bleibt. Selbst im Female Bodybuilding reproduzieren sich Machtverhältnisse, denen frau eigentlich entkommen will. Binäre Kategorien wie männlich und weiblich vermögen sich nicht annähernd aufzulösen, sondern werden zementiert – das liest sich im Buch beschämend, etwa wenn die Pumper Vicks Körper kommentieren: «Bin ich jetzt schwul, wenn ich’s auch ein bisschen geil finde?»

In Kesslers Roman reihen sich überspitzte Szenen aneinander, das «Mega-Gym» wird zum Schlachtfeld der Stereotype. Einerseits bestätigt das Buch die Vorurteile jener, die dem individuellen Kraftsport etwas Ordinäres unterstellen. Andererseits entfalten die Eskapaden der notorischen Lügnerin und grössenwahnsinnigen Hauptfigur eine eigentümliche Anziehung, der man sich nicht entziehen mag. Ihr Alltag ist durchzogen von sexuellem Begehren, wütendem Masturbieren und Gewaltfantasien: «Da stellte ich mir vor, wie es wäre. Wenn ich jetzt aufstünde. Mich neben ihn stellte. […] Und meinen Fuss mit voller Wucht. In seinen unteren Rücken rammen würde.»

Die infernalische Freude, die aus den Seiten von «Gym» sickert, wirkt enthemmt, ansteckend, heiter. Keine Heldinnengeschichte und keine Empowermentfantasie mit Happy End. Aber ein grotesker, bissiger, rauschhafter 192-Seiten-Ritt, der so schnell vorbei ist wie eine Trainingseinheit auf Steroiden.

Buchcover von «Gym»
Verena Kessler: «Gym». Roman. Hanser Berlin Verlag. Berlin 2025. 192 Seiten.