Kinderbetreuung: Der sabotierte GAV

Nr. 21 –

Ein Rekurs dreier Betreiber legt die Verhandlungen über den richtungsweisenden Kita-Gesamtarbeitsvertrag in Zürich auf Eis – obwohl einer der Rekurrenten selbst daran beteiligt war.

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Logo der Fugu-Kinderkrippe
Benannt nach einem giftigen Kugelfisch: Fugu-Kinderkrippe in Zürich.

Die Verhandlungen haben weit über die Stadt hinaus Bedeutung: In Zürich versuchen Sozialpartner seit Monaten, sich auf den ersten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der Deutschschweiz für die Arbeit in Kitas zu einigen. Xenia Wassihun vom beteiligten VPOD spricht von einem möglichen «Impulsgeber für die gesamte Branche».

Voraussetzung dafür war ein üppiges, breit abgestütztes Massnahmenpaket, das der Vorsteher des städtischen Sozialdepartements, Raphael Golta (SP), in die Wege geleitet und der Gemeinderat letzten August verabschiedet hat: Die Stadt soll jegliche Mehrkosten tragen, die ein GAV mit sich bringen würde.

Jetzt stehen die Beteiligten vor einem Scherbenhaufen. Anfang Jahr wäre das Massnahmenpaket, das den sperrigen Titel «Teilrevision der Verordnung über die familienergänzende Kinderbetreuung» trägt, in Kraft getreten. Doch dann ging im Dezember, im letzten Moment, ein Rekurs gegen die Verordnungsrevision ein.

«Arglistig hintergangen»

Dieser Rekurs liegt der WOZ vor. Überraschend dabei: Gezeichnet ist er auch von Christian Geier, einem Mitglied des GAV-Komitees von Kibesuisse, dem nationalen Branchenverband. Gewissermassen von der Seitenlinie aus geht er nun also juristisch gegen seine eigene Verhandlung vor. Ohne Massnahmenpaket wird Kibesuisse mit grosser Wahrscheinlichkeit nie einen GAV abschliessen.

Überrascht waren sie alle. Der Branchenverband Kibesuisse hat nach Eingang des Rekurses in einer Medienmitteilung sein «Bedauern» ausgedrückt: Man wolle am Ziel festzuhalten, einen GAV abzuschliessen. Auf Anfrage schreibt der Verband, man habe im Vorfeld nicht davon gewusst, dass Christian Geier rekurrieren wolle.

Seine Verhandlungspartnerin, die Gewerkschaft VPOD, zeigt sich gegenüber der WOZ diplomatisch – man wolle künftige Verhandlungen nicht gefährden. Deutlicher wird Frédéric Baudin, Gründer der Kitagruppe Pop e Poppa mit über sechzig Betreuungseinrichtungen und ebenfalls Mitglied des GAV-Komitees von Kibesuisse. «Wir fühlten uns von diesem Vertrauensmissbrauch arglistig hintergegangen», sagt Baudin.

Christian Geier betreibt mit seiner Fugu Kinderkrippen GmbH achtzehn Kitas, fünf davon in der Stadt Zürich. Das macht das Unternehmen zu einem wichtigen Player. Geier war denn auch von 2023 an als Mitglied des Stadtzürcher Branchenverbands regelmässiger Gesprächspartner des Sozialdepartements zu Kitafragen. Ende letztes Jahr trat er allerdings aus diesem «Kita-Dialog» aus – über die Gründe will sich niemand äussern. Im GAV-Komitee von Kibesuisse sitzt Geier immer noch. Das Reglement sieht keine Abwahlmöglichkeit vor. Und an der letzten GAV-Versammlung im März habe er bekräftigt, keinen Anlass zum Rücktritt zu sehen, schreibt Kibesuisse der WOZ. Geiers Amtszeit geht im August zu Ende. Teil der GAV-Delegation, die vom Komitee bestimmt wird, ist er seit Dezember nicht mehr.

Viele verlassen den Beruf rasch

Das Massnahmenpaket der Stadt hätte nicht nur einen GAV ermöglichen sollen. Es sieht auch eine Anpassung des Betreuungsschlüssels für Kleinkinder, einen Teuerungsausgleich, gedacht für alle Kitamitarbeiter:innen, und die Erhöhung des sogenannten Normkostensatzes um 4.05 Franken vor. Dieser liefert die Grundlage für die Berechnung staatlicher Subventionen – als eine Art Standardpreis pro Betreuungstag und Kind.

All diese Massnahmen sind nun sistiert. Frédéric Baudin hofft, dass die Stadt den Teuerungsausgleich und den höheren Normkostensatz dereinst rückwirkend trotzdem noch auszahlen wird. «Die Budgets für 2025 waren schon gemacht, als wir vom Rekurs erfahren haben», sagt Baudin. «Jetzt sind unsere Einnahmen plötzlich tiefer, das ist auch ein finanzielles Problem.»

Und viele Betreuer:innen sind konsterniert. «Wir verurteilen diesen Rekurs aufs Schärfste», schreibt die Gruppe Trotzphase, in der manche von ihnen organisiert sind und die mit dem VPOD zusammenarbeitet. Die GAV-Verhandlungen würden ihnen «erstmals die Möglichkeiten bieten, Einfluss auf unsere Arbeitsbedingungen zu nehmen». Was dringend nötig wäre: Fachpersonen verlassen jedes Jahr in Scharen den Beruf. Laut jüngstem Monitoring des Kantons Zürich von 2022 muss jede zweite ausgebildete Betreuungsfachperson im Kanton nach nur zwei Jahren ersetzt werden.

Neben Christian Geier haben auch die Geschäftsleiter der Kitaketten Joey Group und der Krippen Kinderparadies den Rekurs unterzeichnet. Gegenüber der WOZ betont Geier im Namen aller drei, dass sich der Rekurs «nicht grundsätzlich gegen bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Qualität» richte. Allerdings, so sagt er weiter, «enthielt die Umsetzung der Verordnung gravierende Schwachstellen, die letztlich genau das Gegenteil bewirkt hätten».

Geier spricht von einer «Sogwirkung der staatlich finanzierten Massnahmen in der Stadt». Dadurch würden Kitas in angrenzenden Gemeinden bedroht, also auch die meisten Fugu-Filialen. In anderen Worten: Weil der Lohn dort tiefer wäre, würden Betreuer:innen eher in Kitas in der Stadt arbeiten wollen. Geier schreibt aber: «Unser Ziel ist, dass die kantonale Politik tragfähige Lösungen entwickelt.»

Das zweite Argument der Rekurrenten ist komplexer: Sie kritisieren die Systematik zur Berechnung von Mehrkosten. Konkret: Wenn eine Kita mehr Personal einstellen muss, wird die Stadt sie voraussichtlich auf Basis des Medianlohns entschädigen. Einer Kita, die schon heute mehr bezahlt und dies auch weiterhin tun will, entstünden also Mehrkosten – die zusätzlichen Lohnkosten wären nicht vollständig gedeckt. Genau umgekehrt wäre es für Kitas, die weniger als den Medianlohn bezahlen.

Allerdings wird der Medianlohn durch die Löhne bei den Kitagenossenschaften und den zehn städtischen Kitas angehoben (vgl. «Löhne in Zürcher Kitas»). Und die Stadt sieht vor, dass grundsätzlich der zuständige Stadtrat die erhöhten Lohnkosten regeln soll, wie es im Anhang zur Revision heisst. Anpassungen sind also denkbar – wenn man denn in Dialog treten will.

Löhne in Zürcher Kitas

Im Hinblick auf die GAV-Verhandlungen hat das Forschungsbüro Ecoplan eine Erhebung über die Kitalöhne in der Stadt Zürich durchgeführt. Ein Drittel aller Beschäftigten sind demnach entweder Praktikant:innen oder Lernende und verdienen im Schnitt weniger als 15 000 Franken pro Jahr – obwohl auch sie zum Betreuungsschlüssel dazugezählt werden.

Der Medianlohn von ausgebildeten Betreuungsfachpersonen in privaten Kitas beträgt 63 700 Franken, wobei der tiefste erfasste Lohn bei rund 45 000 Franken liegt. Zum Vergleich: Im Mittel verdient ein:e Zürcher:in jährlich 97 524 Franken. Betreuer:innen, die in einer der zehn städtischen Kitas arbeiten, verdienen im Schnitt rund 25 Prozent mehr als solche, die für eine gewinnorientierte Krippe arbeiten.

Es kann noch Jahre dauern

Wer die zwanzig Seiten des Rekurses liest, erhält allerdings ohnehin den Eindruck, dass es den Rekurrenten nicht nur um technische, sondern auch um ideologische Fragen geht – um die «Wirtschaftsfreiheit». Die Löhne seien nicht tief genug, um staatliche Eingriffe zu rechtfertigen, heisst es im Rekurstext.

Angesichts der Tatsache, dass 95 Prozent der Kitas in der Stadt Zürich subventionierte Plätze anbieten, wirkt das Argument der Wirtschaftsfreiheit seltsam: Ohne öffentliche Hand würde das Kitasystem zusammenbrechen. Märkte mögen in manchen Wirtschaftsbereichen sinnvoll sein, zum Beispiel für Gemüse, für die Organisation der Kinderbetreuung sind sie es offensichtlich nicht. Wieso muss die Stadt gewinnorientierten Unternehmen derart stark unter die Arme greifen, statt die Betreuung einfach selbst zu übernehmen? Schliesslich betreibt die öffentliche Hand auch die meisten Kindergärten, Horte und Schulen. Schon seit Jahren fordern der VPOD und die Gruppe Trotzphase deshalb die Anerkennung der Kinderbetreuung als Service public und damit als Aufgabe staatlicher Akteure.

Wie es jetzt weitergeht, ist noch unklar. Wenn die Rekurrenten vor dem Bezirksrat unterlägen, könnten sie noch weiter prozessieren. Das kann Jahre dauern. Trotzdem sollen noch dieses Jahr die GAV-Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Dereinst ohne Christian Geier. «Wir möchten, dass Kibesuisse eine neue Verhandlungsdelegation aufstellt, die mit ehrlichem Interesse den Verhandlungen beiwohnt», schreibt die Gruppe Trotzphase. «Und die das Ganze nicht weiter sabotiert und gefährdet.»