Kitas in der Coronakrise: Im Lockdown sind sie vergessen gegangen

Nr. 18 –

Die Situation vieler Kitas ist prekär: Das Personal kann sich kaum vor einer Corona-Ansteckung schützen, zugleich sind viele Einrichtungen in ihrer Existenz bedroht. Der Bund betrachtet sich als nicht zuständig.

«Seien wir ehrlich, die Vorgaben des Bundesamts für Gesundheit sind eigentlich ein Witz. Abgesehen vom Händewaschen und den üblichen Hygieneregeln lassen sie sich bei unserer Arbeit schlicht nicht umsetzen.» Mirjam Veglio findet deutliche Worte. Die Berner SP-Grossrätin ist in der Geschäftsleitung des Vereins Kinderbetreuung Zollikofen (Kibez) für zwei Kitas mit insgesamt sechzig Plätzen zuständig. «Die Kinder krabbeln übereinander, nehmen alles in den Mund, haben eine laufende Nase. Wir machen, was wir können, aber wir können schlicht nicht fünfmal am Tag alle Legosteine desinfizieren.»

Seit der Bundesrat die ausserordentliche Lage beschlossen hat, herrscht auch in den Schweizer Kitas Ausnahmezustand. Der Bundesrat stufte die Kitas als systemrelevant ein und rief zugleich Eltern auf, ihre Kinder möglichst zu Hause zu betreuen – aber weiterhin die Beiträge zu bezahlen. «Viele Eltern waren anfangs noch bereit, die Kinder zu Hause zu behalten. Es kamen noch etwa ein Drittel der Kinder zu uns», erzählt Veglio. Mittlerweile meldeten sich aber immer mehr Eltern, die ihre Kinder wieder in die Kita bringen wollen. Anscheinend steige der Druck der Arbeitgeber auf die Eltern, sie zeigten sich weniger kulant.

Die Krise prägt auch die Kinder

«Viele denken, dass mit der Öffnung der Schulen am 11. Mai auch die Kitas wieder normal geöffnet haben», sagt Veglio. «Doch das stimmt nicht, ich muss viele Eltern vertrösten, denn einmal mehr wurden die Kitas bei der Planung der Lockerung des Lockdowns vergessen.» Die Auflage des Kantons Bern etwa, die Kitas in Gruppen von vier Kindern plus eine Betreuungsperson zu organisieren, besteht weiter. Das stellt für viele Kitas allein schon räumlich eine Herausforderung dar. Manche mussten Räume dazumieten, und das in einer sowieso schon finanziell angespannten Situation.

Durch die Organisation in Kleinstgruppen habe sich auch die Betreuungsarbeit selbst verändert, sagt Isabelle Breiner, die als Erzieherin in einer Kita in der Stadt Zürich arbeitet: «Die Dynamik zwischen den Kindern ist ganz anders. Ich muss viel mehr improvisieren, um das aufzufangen und den Kindern einen abwechslungsreichen Alltag zu bieten.» Ausflüge in den Park oder auf einen Spielplatz werden zurzeit keine gemacht, die Kinder können sich im Kita-eigenen Garten etwas austoben, «aber wir Erzieherinnen merken schon, dass unser Bewegungsradius arg eingeschränkt ist. Die achteinhalb Stunden, die wir täglich in der Kita verbringen, sind herausfordernder als sonst.»

Dennoch gehe die Coronakrise auch an den Kindern nicht spurlos vorüber; sie lebten zwar sehr im Moment, dennoch werde sie diese Zeit prägen, ist Breiner überzeugt. «Gerade in verunsichernden Zeiten wie diesen brauchen die Kinder besonders viel körperliche Nähe. Masken tragen geht bei so kleinen Kindern nicht. Das wirkt beängstigend», sagt sie.

In der Kinderbetreuung sind MitarbeiterInnen einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Deshalb fordert etwa die Gewerkschaft VPOD, dass auch Schwangere und über sechzigjährige MitarbeiterInnen freigestellt werden müssen – bei voller Lohnfortzahlung. «Es braucht dringend mehr Personal», sagt Zentralsekretärin Christine Flitner. «Mit dem jetzigen Personalbestand sind die Betreuung in Kleinstgruppen, die Einhaltung der Hygieneregeln sowie der Qualitätsstandards nicht zu bewältigen.» Mehr Personal bedeutet auch höhere Kosten. Aber wer soll diese tragen?

Da Eltern zum Teil die Plätze ihrer Kinder kündigen oder nicht bereit oder in der Lage sind, die Betreuungskosten auch dann noch zu zahlen, wenn sie zu Hause bleiben, geraten die Kitas zunehmend in finanzielle Bedrängnis. «Wir haben über Ostern eine Umfrage unter den Kitas gemacht, deren erste Auswertung auf den dringenden Handlungsbedarf hinweist», sagt Prisca Mattanza vom Kinderbetreuungsverband Kibesuisse. «Mehr als die Hälfte der befragten Einrichtungen würden ohne finanzielle Unterstützung maximal drei Monate überleben.»

Die finanzielle Situation ist auch mittel- bis langfristig gesehen prekär. «Im Sommer treten die älteren Kinder jeweils in den Kindergarten über, zurzeit gibt es aber kaum Neuanmeldungen, weil keine Besichtigungen und auch keine Eingewöhnungen durchgeführt werden können», so Mattanza. «Es ist ausserordentlich wichtig, dass die Betreuungseinrichtungen, die in den vergangenen Jahren aufgebaut wurden, jetzt nicht kaputtgehen, sondern erhalten bleiben oder sogar ausgebaut werden, weil der Bedarf aufgrund der fehlenden Betreuung durch die Grosseltern eher noch grösser ist», sagt Flitner vom VPOD. Ihre Gewerkschaft ist Teil einer Koalition von 35 Organisationen*, die in einem Anfang dieser Woche lancierten Appell Bund und Kantone auffordern, Konzepte für den Ausstieg aus dem Lockdown zu entwickeln, die auch bezüglich der Kinderbetreuung nachhaltig und zukunftsweisend sind.

Da der Bund keine Verantwortung für die Kitas übernimmt, besteht ein kantonaler Flickenteppich: Während etwa der Kanton Aargau in den letzten Wochen alle Kitas uneingeschränkt offen gehalten hat, haben die Kantone Basel-Stadt, Solothurn und die meisten Kantone der Romandie diese ganz geschlossen. Sie kommen für deren finanzielle Ausfälle vollständig auf. Eine Notbetreuung gibt es nur für die Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen. In anderen Kantonen wie etwa Bern und Zürich sollen nur jene Kinder in die Krippe gehen, die nicht anderweitig betreut werden können. Beide Kantone haben angekündigt, die familienergänzenden Betreuungseinrichtungen finanziell zu unterstützen und den Eltern die Kosten für nicht genutzte Betreuungsplätze zurückzuerstatten. In vielen anderen Kantonen ist Unterstützung bisher ausgeblieben.

Zögerliches Parlament

In der Sondersession des Parlaments kommende Woche wird nun über eine Motion der Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur verhandelt, die verlangt, dass der Bund ein Drittel der kantonalen Kosten zur finanziellen Unterstützung der Kitas abgelten soll. Der Haken an der Sache: Selbst wenn der Antrag durchkommt, liegt es immer noch an den Kantonen zu entscheiden, ob sie die Kitas unterstützen wollen oder nicht.

Die Krise offenbart ein grundlegendes Problem im Betreuungssektor: Wegen der Ansiedlung der vorschulischen Kinderbetreuung im Sozialbereich sind die Kantone und Gemeinden zuständig, es fehlt eine aktive, konsolidierte Politik auf Bundesebene. Sowohl bei der Verkündung des Lockdowns sowie bei dessen Lockerung hat der Bund die Kitas völlig ausser Acht gelassen. «Es zeigt sich immer wieder, dass unsere Arbeit nicht wertgeschätzt wird. Nicht einmal in dieser hoch prekären Situation ist der Bund bereit, in die frühkindliche Bildung zu investieren. Das löst bei den Erzieherinnen Wut aus», sagt Isabelle Breiner, die sich bei der «Trotzphase» engagiert, einer Gruppe von Betreuungsfachpersonen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpft.

Die Trotzphase fordert ebenso wie der VPOD, dass die familienergänzende Kinderbetreuung in den öffentlichen Dienst überführt wird. «In der Schweiz bezahlen Eltern zwei Drittel der Kinderbetreuungskosten, das gibt es in keinem anderen Land – eine klare Abschreckungsstrategie!», so Christine Flitner. «Kinderbetreuung sollte ein Service public sein, der viel umfassender staatlich finanziert ist.»

* Korrigendum vom 30. April 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, es seien dreissig Organisationen Teil der erwähnten Koalition. Korrekt ist, dass 35 Organisationen beteiligt sind.