Arbeitsbedingungen: Ein System auf der Kippe
Mit der Coronakrise sind die Probleme der Kinderbetreuung besser sichtbar geworden. Eine parlamentarische Initiative fordert nun, dass sie Teil des Service public wird.
Die Arbeitsbedingungen in der schul- und familienergänzenden Kinderbetreuung sind prekär. Wer als ausgebildete Fachperson Betreuung in einer Kita arbeitet, verdient nicht gut. Der Einstiegslohn für eine Vollzeitstelle liegt etwa im Kanton Bern bei 4400 Franken. Doch rund die Hälfte aller Kitaangestellten haben keine abgeschlossene Ausbildung und arbeiten zu einem tieferen oder gar einem Praktikumslohn die gleiche Anzahl Stunden.
Beinahe revolutionär
Während die Angestellten in Kitas oft Vollzeit arbeiten müssten, sei in Horten eher die Zerstückelung von Pensen üblich, sagt Martina Flühmann von der Gewerkschaft VPOD. Sie glaubt, in der Coronakrise seien manche Probleme im Bereich der Kinderbetreuung besser sichtbar geworden, so etwa die fehlende Finanzierungssicherheit.
Dieser Meinung ist auch Prisca Mattanza vom Verband Kinderbetreuung Schweiz (Kibe), die findet: «Es braucht wenig, damit das ganze System kippt.» Der Branchenverband hat sich darum schon während des Lockdowns gemeinsam mit den Gewerkschaften dafür stark gemacht, dass der Bund für finanzielle Ausfälle der Kitas und Horte aufkommt. Mit Erfolg: Im Mai sprach das Parlament 65 Millionen Franken zur Deckung weggefallener Elternbeiträge.
Auf eidgenössischer Ebene geht es nur langsam vorwärts: Seit 2019 sind mehrere Vorstösse im Bereich der Kinderbetreuung hängig, nach dem Lockdown im Frühjahr kamen weitere hinzu. Einen für Schweizer Verhältnisse schon beinahe revolutionären Inhalt hat eine im Mai eingereichte parlamentarische Initiative von Katharina Prelicz-Huber. Für die Grünen-Nationalrätin und VPOD-Präsidentin ist klar, dass Kitas und Horte nur mit substanzieller öffentlicher Finanzierung in guter Qualität und mit fairen Arbeitsbedingungen betrieben werden können. Sie fordert darum in ihrem Vorstoss, dass die familien- und schulergänzende Betreuung Teil des Service public wird. Dem Initiativtext entsprechend wäre der Bund für einen Teil der Finanzierung zuständig, während das Angebot dahingehend ausgeweitet würde, dass jedes Kind Anspruch auf einen unentgeltlichen Betreuungsplatz hätte.
Service public bedeute aber nicht gratis, betont Prelicz-Huber: «Wenn wir eine faire Steuerpolitik haben, zahlen alle mit.» Sie hofft, dass der Frauenstreik und die Coronakrise ein Umdenken bewirkt haben und der Wert der Care-Arbeit sichtbar wurde. Im Januar kann sie ihre Initiative der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats vorstellen.
Auf Schmerzmitteln zur Arbeit
Kibe und VPOD hoffen auf weitere politische Konsequenzen, vor allem auf eidgenössischer Ebene. Aktuell unterscheiden sich die Rahmenbedingungen in den einzelnen Kantonen stark. Um den politischen Stillstand zu durchbrechen, hat sich in Zürich die Gruppierung Trotzphase formiert. Seit vier Jahren kämpft die Gruppe von Angestellten der Kinderbetreuung und -erziehung gegen die prekären Arbeitsbedingungen in Kitas und Horten.
Sahar Richter von der Trotzphase sagt, dass sich die Arbeitsbedingungen seit dem Frühjahr nicht verbessert hätten. Einiges laufe aber anders: «Es war früher eigentlich normal, dass man auch arbeiten kam, wenn man krank war», sagt die Fachfrau Betreuung. Aufgrund des grossen Drucks auf das Personal sei es gang und gäbe gewesen, Schmerzmittel einzuwerfen und trotzdem zur Arbeit zu erscheinen. Unter dem Eindruck von Corona geschehe das zwar nicht mehr, dafür mache sich ein verstärkter Personalmangel bemerkbar.
Erfreulich ist immerhin eine zunehmende Politisierung, die die Aktivistin feststellt. An einer von der Trotzphase organisierten Demonstration am 26. September nahmen über tausend Personen teil.