Wegweisende Gerichtsurteile: «Wir sind in einer kritischen Phase»
Die Justiz sei dazu da, die Demokratie zu überwachen, sagt Völkerrechtsprofessorin Helen Keller. Kann sie das noch?

Manchmal ändert ein Gerichtsurteil alles: Ende März etwa hat ein Pariser Gericht Marine Le Pen vom Rassemblement National der Korruption schuldig gesprochen und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Es hat ihr auch das passive Wahlrecht entzogen – Le Pen kann voraussichtlich bei der Präsidentschaftswahl 2027 nicht antreten. Im Dezember annullierte das rumänische Verfassungsgericht die Präsidentenwahl wegen russischer Einflussnahme, der rechtsextreme Kandidat wurde dadurch verhindert. Und in Deutschland könnte das Bundesverfassungsgericht dereinst die AfD verbieten.
Eine, die verschiedene Justizorgane aus dem Inneren kennt, ist Helen Keller. Die sechzigjährige Rechtswissenschaftlerin war von 2011 bis 2020 Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, seit 2020 ist sie Verfassungsrichterin in Bosnien-Herzegowina und Völkerrechtsprofessorin an der Universität Zürich.
WOZ: Helen Keller, kann die Justiz die Demokratie retten?
Helen Keller: Die Justiz beurteilt einzelne Fälle, sie reformiert nicht ganze Systeme und kann diese auch nicht rechtsstaatlich auffangen. Solange die Justiz unabhängig ist, hat ein Urteil ein gewisses Gewicht. Aber wir befinden uns in vielen Staaten in einer kritischen Phase, in der die Justiz heftig und systematisch angegriffen wird. Zum Teil ist auch ihre Unabhängigkeit nicht mehr garantiert.
WOZ: Können Sie ein Beispiel nennen?
Helen Keller: Wir sehen das etwa in den USA: Ich bin immer wieder stolz, wenn ich lese, erstinstanzliche Bundesrichter hätten einen Entscheid von Donald Trump gestoppt. Aber erstens wird das Justizsystem von der schieren Masse und Geschwindigkeit an Executive Orders fast gelähmt. Und zweitens ist die juristische Macht im obersten Gericht, dem Supreme Court, auf bloss neun Personen verteilt, deren Wahl zudem enorm politisiert ist.
Helen Keller: Wenn schliesslich J. D. Vance behauptet, unliebsame Richter und Richterinnen am Supreme Court könnten auch entlassen werden, obwohl diese auf Lebzeiten ernannt sind, wenn gesagt wird, es sei sowieso bedeutungslos, was dort geurteilt werde – dann ist das der erste Schritt zur Diktatur. Dieses «Wir entscheiden» statt «Es gilt das Recht» ist eine gefährliche Rhetorik, die in den letzten zwanzig Jahren von Rechtsnationalisten ständig bedient wurde.
WOZ: So klang es auch nach dem Klimaseniorinnen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR): Die Schweiz entscheide immer noch selbst.
Helen Keller: Das war ein regelrechtes Bashing, da haben auch viele Medienschaffende komplett versagt. Wenn ein Urteil aus Strassburg kommt, ist das nicht «gegen die Schweiz», sondern: Ein Individuum, das eine Verletzung seiner Menschenrechte geltend macht, hat vom EGMR recht bekommen. Das ist ein gutes Verdikt für die Menschenrechte und damit «für die Schweiz». Im Ausland wird das Urteil übrigens gefeiert – während man hier zum Angriff auf den EGMR bläst.
WOZ: Gerichtsurteile werden immer wieder als politisch kritisiert – etwa das gegen Marine Le Pen. Ist es das?
Helen Keller: Wer Gelder veruntreut, wird dafür bestraft, das ist geltendes, demokratisch verabschiedetes Recht, genauso wie der Entzug des passiven Wahlrechts: In Frankreich dürfen Personen des öffentlichen Lebens seit dem Inkrafttreten der Loi Sapin 2016 keine politischen Ämter mehr besetzen, wenn sie strafrechtlich verurteilt wurden. Man wirft einem Gericht also vor, ein geltendes Recht anzuwenden. Das ist absurd! Le Pen kann sich wehren, das sind die Spielregeln in einem Rechtsstaat. Und wissen Sie, welches Argument in den Debatten um das Urteil nie fällt?
WOZ: Welches?
Helen Keller: Das der Rechtsgleichheit. Bei der Frage, ob jemand Gelder veruntreut hat, darf es keine Rolle spielen, ob die Person eine einfache Bürgerin oder eine politische Berühmtheit ist. Ich hatte grosse Achtung vor diesem erstinstanzlichen Gericht in Frankreich. Dass dieses entschied: Es ist völlig irrelevant, wer das ist, es ist auch irrelevant, was die Mehrheit sagt. Demokratie spielt bei der Verabschiedung von Gesetzen eine Rolle, nicht aber im Gerichtssaal.
WOZ: Ist es denn möglich, Justiz und Politik immer zu trennen, wo es doch eine politische Frage ist, wer Gesetze schreibt, die dann angewendet werden, oder wer Richter:in wird?
Helen Keller: Man kann die politische und juristische Ebene nicht absolut und immer trennen. Auch Richterinnen und Richter sind Menschen, sie müssen auch als Menschen agieren. Aber sie legen einen Eid ab, nicht umsonst trägt die Justitia eine Augenbinde. Ich will damit nicht sagen, dass Urteile immer richtig sind, eine Urteilsfindung ist immer ein Prozess, ein Herantasten an eine möglichst gesetzeskonforme und gerechte Lösung eines Falles.
WOZ: Schauen wir noch weitere Beispiele an: In Deutschland wird gerade ein AfD-Verbot diskutiert. Kritiker:innen des Verbots wenden ein, die Partei müsse politisch geschlagen werden, nicht im Gerichtssaal. Was meinen Sie?
Helen Keller: Wir in der Schweiz haben eine ganz andere Tradition und auch eine ganz andere Rechtslage, es braucht sehr viel, bis wir eine Organisation, etwa al-Kaida, verbieten. Ich würde keine Prognose bei der AfD wagen. Aber es ist völlig richtig: Ein Verfassungsgericht kann die Demokratie nicht retten. Es braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens dafür, dass gewisse demokratische, rechtsstaatlich eingebundene Entscheide akzeptiert werden. Und dass Minderheiten- und Menschenrechte sowie völkerrechtliche Vorgaben nicht verletzt werden.
WOZ: In Rumänien hat das Verfassungsgericht die Wahl annulliert und den rechtsextremen Kandidaten verhindert. Inzwischen wurde Nicușor Dan gewählt. Wie ordnen Sie das Urteil ein?
Helen Keller: Ich kenne es nur aus der Presse. Ich denke aber, ein Verfassungsgericht hebt eine Wahl nur auf, wenn wirklich schwerwiegende Verstösse vorliegen. Wir werden sehen, wie es weitergeht, Urteile können natürlich immer instrumentalisiert werden.
WOZ: Der Politikwissenschaftler Philip Manow kritisierte kürzlich, Demokratie finde heute in vielen Ländern durch die Verfassungsgerichtsbarkeit nur noch «unter Beobachtung» statt. Was ist die Aufgabe von Verfassungsgerichten?
Helen Keller: Genau das: dass die Demokratie überwacht ist. Sehen Sie, eine der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg war, dass man erstens eine gewisse Souveränität von der nationalen Ebene auf die internationale verschieben wollte. Es sollte nie mehr ein Staat eine ganze Bevölkerungsgruppe auslöschen und dies zur inneren Angelegenheit erklären können. Und zweitens richteten viele Staaten, insbesondere Deutschland mit dem Bundesverfassungsgericht und Italien mit der Corte constituzionale, starke Institutionen ein, um zu verhindern, dass die neuen Verfassungsordnungen durch Volksentscheide unterwandert werden können.
Helen Keller: Europa entwickelte also insgesamt eine starke Justiz, auch weil es einen politischen Konsens gab, dass die Menschenrechte geschützt werden sollen. Die Entscheidungen der internationalen Gerichte fanden grossen Anklang in den nationalen Rechtsordnungen. Das gilt auch für die Schweiz, obwohl unser oberstes Gericht, das Bundesgericht, dieser Entwicklung lange hinterherhinkte.
WOZ: Inwiefern?
Helen Keller: Erstens war die Schweiz nicht in der Europäischen Gemeinschaft, der heutigen EU, und zweitens war das Bundesgericht nicht mit starken Kompetenzen ausgestattet worden. Historisch ist es als eine Institution zur Integration der Kantone konzipiert worden, aber nicht gegenüber der politischen Gewalt auf Bundesebene. Erst Ende der Neunziger änderte das Bundesgericht seine Praxis und gab speziellen völkerrechtlichen Verträgen grundsätzlich den Vorrang vor Bundesgesetzen.
WOZ: Und heute?
Helen Keller: Heute haben diese Gerichte – sowohl die obersten nationalen Gerichte als auch die internationalen Institutionen – mehr Bedeutung: Es gibt mehr Klagen, mehr Beschwerden, auch organisierte, strategische Klagen. Die Gesellschaft hat verstanden: Die Gerichte lösen etwas aus, wir können uns wehren. Nochmals – und immer unter der Voraussetzung, dass überhaupt ein Fall vorliegt, denn wo kein Kläger, da kein Richter –, die Gerichte sind dazu da, dass jemand sagen kann: Wir rufen das Verfassungsgericht an, weil unserer Ansicht nach die Verfassung verletzt wurde. Demokratie ist eine Entscheidungsform. Sie muss in ein rechtsstaatliches Verfassungssystem eingepasst sein. Denn sie ist kein Freipass dafür, Menschenrechte zu verletzen.
WOZ: Sind die internationalen Institutionen wie etwa der EGMR stärker unter Beschuss als nationale Gerichte?
Helen Keller: Das würde ich so nicht sagen. Rechtspopulistische Regierungen schwächen als Erstes die nationale Justiz, das hat man in Ungarn gesehen, wo Viktor Orbán das Rentenalter für die Richter und Richterinnen runtergesetzt hat, um das Verfassungsgericht mit ihm genehmen Leuten zu besetzen. In Polen passierte etwas Ähnliches mit dem Trybunał Konstytucyjny.
Helen Keller: Russland, die Türkei und Aserbaidschan schiessen systematisch gegen den EGMR, aber die anderen Staaten machen relativ gut mit. Das Gericht hat die Situation vieler Menschen wirklich verbessert; nehmen wir die Gefängnisinsassen und -insassinnen: Keine Regierung holt sich Sympathien mit der Verbesserung von Haftbedingungen, aber es gibt diesen Gerichtshof, der immer und immer wieder sagt, so geht das nicht, die Gefängnisse sind überfüllt, die Menschen werden krank.
WOZ: Der Internationale Strafgerichtshof hat im November einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erlassen, trotzdem haben mehrere europäische Staaten gesagt, sie würden ihn nicht festnehmen. Verweist das auf eine Schwäche der Institution?
Helen Keller: Der Internationale Strafgerichtshof ist vielleicht tatsächlich in einer Krise. Es ist ein unglaublicher Fortschritt, dass nicht nur Menschenrechtsverletzungen durch Staaten vor Gericht landen, sondern dass gesagt wird: Bei schwerwiegenden Völkerrechtsverletzungen verurteilt man auch die Verbrecher, beispielsweise Wladimir Putin oder Netanjahu. Doch diese Errungenschaft ist im Moment sehr fragil. Solange der Strafgerichtshof weniger einflussreiche Machthaber verurteilt hat, vor allem vom afrikanischen Kontinent, ging das noch gut. Sobald jemand angeklagt wird, bei dem man weiss, es kann sein, dass man mit ihm noch an einem Verhandlungstisch sitzen muss, funktioniert das nicht mehr. Ich glaube, daran hat man tatsächlich zu wenig gedacht. Ich weiss nicht, ob diese Haftbefehle geschickt waren, auch wenn es sich in der Ukraine und im Gazastreifen um wirklich schwere Verletzungen der Genfer Konvention handelt.
WOZ: Die Justiz scheitert in diesem Sinne ein Stück weit an der politischen Macht?
Helen Keller: Ja, das könnte man so sagen. Auch die Politik knickt immer wieder vor den Mächtigen ein. Das verhindert, dass alle in gleicher Art und Weise vor das Gericht kommen.
WOZ: Sie sind selbst Verfassungsrichterin in Bosnien-Herzegowina. Welche Fälle beschäftigen Sie dort?
Helen Keller: Da bricht der Staat auseinander. Die Republika Srpska, eines der beiden Teilgebiete von Bosnien-Herzegowina, übernimmt ein Gesetz nach dem anderen von Russland, wir erklären diese Gesetze am laufenden Band für verfassungswidrig, etwa, dass man ins Gefängnis kommen kann, wenn man das Wort «Genozid» benutzt oder NGOs unterstützt. Aber die Republika Srpska anerkennt den Gerichtshof nicht mehr. Formal hat sie einen Sezessionsprozess angestossen, gleichzeitig besteht ein Haftbefehl gegen ihren Präsidenten. Doch niemand wagt es, ihn zu verhaften, aus Angst, es gebe ein Blutbad. Es wird mit harten Bandagen gekämpft.