Durch den Monat mit Helen Keller (Teil 4): Brauchen wir ein Verfassungsgericht?

Nr. 5 –

Helen Keller, Schweizer Richterin in Strassburg, sagt, weshalb die Angriffe aus der Schweiz auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Menschenrechten schaden.

Helen Keller: «Von einem Schweizer Verfassungsgericht könnten auch Rentenkürzungen oder AHV-Reformen überprüft werden.»

WOZ: Frau Keller, wenn ein Schweizer Gerichtsurteil im Widerspruch zu einem Grundrecht zu stehen scheint, delegiert das Bundesgericht einen solchen Fall gerne an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Braucht die Schweiz ein Verfassungsgericht?
Helen Keller: Die Antwort ist gar nicht so einfach. Seit einiger Zeit wendet das Bundesgericht in fast allen Bereichen, in denen es eine klare Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt, die Europäische Menschenrechtskonvention, die EMRK, an. Selbst dann, wenn die Strassburger Praxis früheren Entscheiden des Bundesgerichts oder dem Bundesrecht widerspricht. In diesen Fällen übernimmt das Bundesgericht tatsächlich die Rolle eines Verfassungsgerichts.

Aber es ist wohl dieser «vorauseilende Gehorsam», der Schweizer Nationalisten ärgert.
Es wäre aus meiner Sicht nicht sinnvoll, wenn das Bundesgericht einer klaren Strassburger Rechtsprechung nicht folgen und ein Urteil fällen würde, das in Strassburg sowieso wieder rückgängig gemacht wird.

Was steht auf dem Spiel, wenn der Menschenrechtsgerichtshof infrage gestellt wird?
In Europa gibt es viele Staaten, in denen die Menschenrechte massiv verletzt werden. Die dortigen Gerichte wischen Menschenrechtsverletzungen gerne unter den Teppich. Deshalb braucht es im Bereich der Menschenrechte unbedingt eine internationale Institution. Wenn politische Kräfte in der Schweiz die Legitimation dieses Gerichtshofs infrage stellen, ist das für Länder, in denen die Menschenrechte nicht gefestigt sind, ein verheerendes Signal.

Aber auch in der Schweiz ist die aktuelle Situation nicht unproblematisch, weil es hier zwei Arten von Grundrechten gibt: solche, die das Bundesgericht über die EMRK als Quasiverfassungsgericht schützt, und solche, die es eben nicht schützen kann, wenn der Bundesgesetzgeber sie ritzt.

Woran denken Sie?
Etwa an die Wirtschaftsfreiheit oder die Eigentumsgarantie. Beide sind in der Bundesverfassung verankert. In der Konvention steht nichts von der Wirtschaftsfreiheit. Die Eigentumsgarantie gibt es auf europäischer Ebene, die Schweiz hat jedoch das entsprechende Zusatzprotokoll als einer der wenigen Staaten in Europa nicht ratifiziert. In diesem Zusatzprotokoll ist zudem auch das Recht auf geheime, freie und wiederkehrende Wahlen verankert.

Weshalb hat die Schweiz es nicht ratifiziert?
Wegen der Landsgemeinden. Handaufheben ist nicht geheim. Mit den zwei Kategorien von Grundrechten – den klassischen, die auch in der Konvention garantiert sind, und jenen, die nur gemäss der Bundesverfassung gelten – haben wir ein Problem. Es wäre wichtig, dass wir gerade bei der Wirtschaftsfreiheit eine bessere Kontrolle hätten. Diese könnte ein Verfassungsgericht übernehmen.

Ist die Wirtschaftsfreiheit denn so bedeutend wie zum Beispiel die Meinungsäusserungsfreiheit?
Auf der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheit baut der liberale Rechtsstaat der Schweiz auf. Sie sind dafür also so zentral wie die Meinungsäusserungsfreiheit für die Demokratie.

Wird die Wirtschaftsfreiheit in der Schweiz schlecht geschützt?
Denken Sie zum Beispiel an den Gesundheitssektor: Da steckt viel Geld dahinter. Vor einem Verfassungsgericht könnte die eine oder andere staatliche Regulierung auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden.

Von einem Verfassungsgericht würden also grosse Firmen profitieren?
Ja, aber nicht nur sie, sondern auch Einzelpersonen, etwa eine Ärztin, die keine Bewilligung bekommt, eine Praxis zu eröffnen. Auch Rentenkürzungen oder AHV-Reformen wie die Erhöhung des Rentenalters könnten von einem Verfassungsgericht auf die Vereinbarkeit mit der Eigentumsgarantie überprüft werden.

Würde ein Verfassungsgericht rechtsstaatlich problematische Aktionen wie die UBS-Rettung im Notrecht von 2008 erschweren?
Je nachdem, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestaltet wäre, käme ein Verfassungsgericht hier zum Zuge. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass in solchen Fällen eine Politisierung eines Verfassungsgerichts droht. Trotzdem ist die Einführung eines Verfassungsgerichts in der Schweiz aus meiner Sicht fällig. Ich bin zuversichtlich, dass das Bundesgericht diese Funktion mit der nötigen Umsicht ausüben würde.

Die Forderung nach einem Verfassungsgericht liegt quer zu den Interessen der politischen Lager in der Schweiz …
Daran ist seine Einführung ja bisher auch gescheitert. Wenn man nach Europa blickt, ist es interessant, dass gerade jene Länder ein starkes Verfassungsgericht einrichteten, die im Faschismus schlimmen Machtmissbrauch erfahren haben, so etwa Italien, Spanien und Deutschland. Der Schweiz fehlt diese historische Erfahrung – zum Glück.

Am Mittwoch dieser Woche wurde in Strassburg 
in letzter Instanz der Fall des vom Bundesgericht verurteilten türkischen Genozidleugners 
Dogu Perincek verhandelt. 2013 hatte die Kleine Kammer mit fünf Stimmen (darunter die von Keller) gegen zwei entschieden, die Schweiz habe Perinceks Recht auf freie Meinungsäusserung verletzt. Als Richterin des betroffenen Staats wirkt Keller (50) auch in der Grossen Kammer erneut mit.