Internationales Recht: Auf der Anklagebank
Seit der Ausstellung eines Haftbefehls gegen Benjamin Netanjahu stehen der Internationale Strafgerichtshof und damit auch das Konzept überstaatlicher Justiz und Zusammenarbeit unter Druck.

Seit zwei Wochen dominieren nicht nur Fragen der Militärstrategie, sondern auch solche zur Auslegung des Völkerrechts die Berichterstattung zum Nahostkonflikt. Während das Handeln staatlicher Institutionen bei möglichen Völkerrechtsverstössen vom Internationalen Gerichtshof (IGH) beurteilt wird, können vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Einzelpersonen angeklagt werden.
Ein Entscheid des IStGH, auf Englisch International Criminal Court (ICC), hat im vergangenen November besonderen Wirbel ausgelöst: der Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Ein halbes Jahr zuvor hatte Chefankläger Karim Khan (vgl. «Chefankläger unter Verdacht» im Anschluss an diesen Text) die Anordnung zur Festnahme Netanjahus wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen beantragt. Auch gegen Israels ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant und die Hamas-Führer Mohammed Deif, Ismail Hanija und Jahja Sinwar beantragte Khan Haftbefehle. Doch keine Entscheidung des Gerichts hat je so heftige politische Turbulenzen ausgelöst wie der Haftbefehl gegen Netanjahu: Die USA belegten den Gerichtshof in der Folge mit Sanktionen, Europa ist über den Umgang mit der Sache gespalten.
Schockierender Unsinn
Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag nahm seine Arbeit 2002 auf. Gegründet wurde die Justizbehörde auf Grundlage des Römischen Statuts, eines internationalen Vertrags, der bei einer Staatenkonferenz 1998 angenommen worden war. Der IStGH ermittelt bei schwersten Verstössen gegen das Völkerrecht: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriegen. Rechtlich sind die 125 Mitgliedstaaten des IStGH dazu verpflichtet, dessen Haftbefehle auf ihrem Staatsgebiet auszuführen. Während Irland, die Niederlande, Litauen, Slowenien und Spanien im Fall von Netanjahu ankündigten, eine Verhaftung zu vollstrecken, erklärten Ungarn, Italien, Frankreich und Polen, sie würden dies nicht tun.
Auch in der Schweiz wurde Anfang Jahr diskutiert, was zu tun wäre, sollte Netanjahu etwa das World Economic Forum in Davos besuchen. Der Standpunkt Belgiens, das eine Verhaftung zunächst befürwortete, wandelte sich, als im Frühjahr der rechte Premier Bart De Wever sein Amt antrat. Ebenso wie der neue deutsche Kanzler Friedrich Merz kündigte De Wever an, den Haftbefehl zu ignorieren. Ungarn gab anlässlich des Besuchs des israelischen Premiers im April bekannt, sich gleich ganz aus dem IStGH zurückzuziehen, und die französische Regierung argumentierte, Netanjahu geniesse Immunität, weil Israel, wie die USA oder Russland, kein Mitglied des IStGH sei. Die NGO Human Rights Watch bezeichnete das als «schockierenden Unsinn».
Der Fall Netanjahu bestätigt dabei nicht nur einmal mehr, wie fragil die Einheit der EU ist, sondern zeigt auch, wie stark die Uneinigkeit im Umgang mit internationalen Rechtsinstitutionen diese unterminieren und ihre Autorität beschädigen kann.
Was heisst Neutralität?
Der IStGH versteht sich als Teil eines «weltweiten Kampfs, um Straffreiheit zu beenden» – ein Ziel, das das Gericht, wie es auf seiner Website erklärt, «nicht allein erreichen kann». Insofern ist es Teil jener Ordnung, die im Nachgang des Zweiten Weltkriegs entstand: Um nationalistische Exzesse künftig zu verhindern, wollte man, so die Völkerrechtlerin Helen Keller unlängst in der WOZ, «eine gewisse Souveränität von der nationalen Ebene auf die internationale verschieben» (siehe WOZ Nr. 22/25).
Freilich ist internationale Gerichtsbarkeit keine übergeordnete, neutrale Instanz, sondern wie das Recht an sich immer ein Ergebnis dessen, was die beteiligten Akteure miteinander vereinbaren. Gerichte reflektieren stets politische Interessen, Konflikte, die sich daraus ergeben, und internationale oder regionale Kontexte. Dies zeigt sich an den unterschiedlichen Positionen im aktuellen Beispiel der südafrikanischen Genozidklage gegen Israel, die am Internationalen Gerichtshof verhandelt wird. Das Internationale Jugoslawien-Tribunal (ICTY) wiederum, das bis zu seiner Auflösung 2017 seinen Sitz ebenfalls in Den Haag hatte, sah sich zeit seiner Existenz der Anschuldigung vermeintlicher Voreingenommenheit und Parteilichkeit ausgesetzt.
Sanktionen seitens der USA
Seit dem Amtsantritt von Donald Trump in diesem Jahr hat sich der Druck auf den IStGH drastisch verstärkt. Bereits im Februar hatte die Trump-Regierung ein Einreiseverbot gegen Führungskräfte, Angestellte und Mitarbeitende des Gerichtshofs sowie deren engste Familienmitglieder verhängt und ihre eventuell in den USA vorhandenen Vermögen eingefroren – als Reaktion auf die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant. Trump sieht in dieser Massnahme einen «Machtmissbrauch» des Gerichtshofs. In einer Erklärung verurteilten daraufhin 79 Staaten die Sanktionen und «jeden Versuch, die Unabhängigkeit des Gerichtshofs zu untergraben». Sie warnen vor «Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen» und vor einer Aushöhlung des Völkerrechts.
Anfang Juni belegte die US-Regierung zudem vier Richterinnen des IStGH mit Sanktionen. Zur Begründung liess Aussenminister Marco Rubio verlauten, Solomy Balungi Bossa (Uganda), Luz del Carmen Ibáñez Carranza (Peru), Reine Alapini-Gansou (Benin) und Beti Hohler (Slowenien) hätten «aktiv an den gesetzeswidrigen und unbegründeten Aktionen des Strafgerichtshofs gegen Amerika und unseren treuen Verbündeten Israel teilgenommen».
Laut Rubio hätten zwei der Betroffenen «unbegründete Ermittlungen des IStGH zu US-Personal in Afghanistan» angeordnet; den beiden anderen wurden die «illegitimen Haftbefehle» gegen Israels Premier Netanjahu und Exverteidigungsminister Gallant angelastet. Als Konsequenz dürfen die vier Richterinnen in den USA weder Besitztümer haben noch Geschäfte mit Firmen oder Bürger:innen der USA tätigen. Rubio warf dem Gerichtshof vor, die USA und Israel aus politischen Gründen ins Visier zu nehmen. Schon 2020, während Trumps erster Amtszeit, sanktionierte die US-Regierung die damalige Chefanklägerin, Fatou Bensouda, wegen der Untersuchung mutmasslicher Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan. Unter Joe Biden wurden die Massnahmen gegen Bensouda zurückgenommen.
Gefährliche Rhetorik
All dies ist eng mit dem stetigen Aufstieg rechtspopulistischer Akteur:innen und ihrem zunehmend aggressiv vorgetragenen Unilateralismus verbunden. Die bekanntesten Beispiele gehen einmal mehr auf das Konto der USA im Griff der Maga-Bewegung, die aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgestiegen sind. Doch auch in Europa erkor, schon lange vor Trump, eine Renaissance nationalstaatlichen Denkens die EU beziehungsweise «Brüssel» zum Feindbild. Heute mehren sich die Stimmen, die sich etwa Verträgen zum Schutz Geflüchteter entledigen wollen.
Wie sich diese Entwicklung auf die internationale Justiz auswirkt, charakterisiert Völkerrechtlerin Keller so: «Dieses ‹Wir entscheiden› statt ‹Es gilt das Recht› ist eine gefährliche Rhetorik, die in den letzten zwanzig Jahren von Rechtsnationalisten ständig bedient wurde.» Keller betonte in dieser Zeitung bereits 2015 – damals als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg – dessen Bedeutung und warnte: «Wenn politische Kräfte in der Schweiz die Legitimation dieses Gerichtshofs infrage stellen, ist das für Länder, in denen die Menschenrechte nicht gefestigt sind, ein verheerendes Signal.»
Kellers Kritik verweist auch auf einen Aspekt, der in der Bewertung des IStGH latent umstritten ist: die universelle Gültigkeit des Rechts für alle Angeklagten, ungeachtet ihres Status. Seit seiner Gründung begleitet den Gerichtshof der Vorwurf, effizient bei der Verurteilung afrikanischer Präsidenten oder Warlords zu sein, Akteur:innen aus geopolitisch einflussreichen Staaten aber zu verschonen. Vor diesem Hintergrund findet Benjamin Dürr, Völkerrechtler und Autor des Buchs «Im Namen der Völker. Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs», die Ermittlungen und Haftbefehle zu den Kriegen in Gaza und der Ukraine könnten «auf längere Sicht zu einer Stärkung des Strafgerichtshofs beitragen», indem dieser auch bei Konflikten, in die einflussreiche Industrienationen involviert sind, eine Rolle einfordere.
Auch Dürr sieht Völkerrecht und internationale Gerichtsbarkeiten unter Druck, da sie zunehmend als Einmischung angesehen würden. Gegenüber der WOZ schlägt er freilich auch einen Bogen zur jeweiligen nationalen Ebene: Eine Schwächung von Demokratie und Rechtsstaat auf nationaler Ebene habe Folgen für das Völkerrecht und Organisationen wie den Strafgerichtshof, so der Völkerrechtler. «Weil es keine ‹Weltpolizei› gibt, müssen nationale Behörden Haftbefehle vollstrecken und die Organisationen unterstützen. Dafür braucht es einen funktionierenden Rechtsstaat, der eine Regierung zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen ermahnen oder zwingen kann.»
Vorwürfe gegen Karim Khan: Chefankläger unter Verdacht
Mitte Mai trat Karim Khan vorläufig von seinem Posten als Chefankläger des IStGH zurück. Grund dafür waren schwere Vorwürfe wegen sexueller Belästigung und Übergriffen, die erstmals im Herbst 2024 bekannt geworden waren. Der 55-jährige britische Jurist, der seit 2021 im Amt ist, soll eine Anwältin des IStGH ein Jahr lang bedrängt haben. Khan bestreitet die Vorwürfe vehement. Seine Stellvertreter:innen Mame Mandiaye Niang und Nazhat Shameem haben bis auf Weiteres seine Aufgaben übernommen.
Eine Untersuchung durch die interne Aufsichtsbehörde der Vereinten Nationen, die offenbar auf Wunsch Khans eingeschaltet wurde, steht mittlerweile kurz vor dem Abschluss. Laut eines Statements der Versammlung der Mitgliedstaaten (ASP) des Gerichtshofs garantiert die externe Ermittlung einen «unabhängigen, unparteiischen und fairen Prozess».
In der öffentlichen Wahrnehmung verschmelzen die Ermittlungen gegen Khan mit seinem Vorgehen gegen den israelischen Premier Benjamin Netanjahu und Exverteidigungsminister Joav Gallant. Deren Haftbefehle, von Khan im Mai 2024 beantragt, wurden ein halbes Jahr später genehmigt. Khan hatte kurz zuvor auf die Ankündigung der Ermittlungen gegen ihn mit einem Statement reagiert, das Raum für Spekulationen bot und implizierte, dass es sich um eine gezielte Falschbeschuldigung handle. Demnach seien das Gericht und Khan selbst «einer grossen Zahl von Angriffen und Bedrohungen» ausgesetzt.
Auf propalästinensischer Seite wird Khan nun vielfach als Opfer eines abgekarteten Spiels zugunsten Israels gesehen. Der anderen gilt er als potenziell antisemitischer Übeltäter, der sich mit der Anklage Netanjahus aus der Schusslinie bringen will, während die Haftbefehle mithin als Beleg für die Voreingenommenheit des Gerichtshofs sowie internationaler Organisationen dienen. Für die Glaubwürdigkeit und Integrität des IStGH ist dies nachhaltig gefährlich. Je nach Ausgang der Ermittlungen kann Khan von der Versammlung der Mitgliedstaaten abgesetzt werden. Der Imageschaden für das Gericht dürfte bleiben.