Antikriegswiderstand : Der Partisan aus Rjasan
Der russische Anarchist Ruslan Sidiki attackierte erst einen Militärflugplatz und brachte dann einen Güterzug zum Entgleisen. Die Geschichte von einem, der für seine Überzeugungen alles riskierte – rekonstruiert aus Gefängnisbriefen, persönlichen Erzählungen und Gerichtsakten.

Prolog
11. November 2023. Es ist der frühe Morgen eines kalten Tages, als in einem Wald nahe der russischen Grossstadt Rjasan ein Knall ertönt: Zwischen der Station Rybnoje und einem Kontrollpunkt sind 19 der insgesamt 54 Waggons von Güterzug Nr. 2018 entgleist. Die Ladung – ein Konzentrat des Minerals Apatit, das für Düngemittel verwendet wird – war aus dem hohen Norden auf dem Weg in die Region Saratow an der Grenze zu Kasachstan. In ihrer Mitteilung spricht die staatliche Eisenbahngesellschaft von «Fremdeinwirkung».
Die beiden Personen an Bord, der Lokführer und sein Assistent, erleiden leichte Schnittverletzungen, weil durch die Explosion die Fenster der Kabine geborsten sind. Den Schaden werden die Behörden später auf umgerechnet mehr als 300 000 Franken für die Eisenbahngesellschaft und rund 8400 Franken für die anderen Geschädigten beziffern. Den Vorfall im Wald stufen sie umgehend als Terrorangriff ein.
Wenige Stunden zuvor in der Internazionalnajastrasse. In einem gesichtslosen Wohnblock am Rand von Rjasan macht sich Ruslan Sidiki bereit: Er steckt Sprengstoff in seinen Rucksack, packt Kleidung zum Wechseln ein. Dann steigt er auf sein Velo und fährt los – dorthin, wo die Züge mit Kriegsmaterial in Richtung ukrainischer Grenze durchfahren.
«Die Eisenbahninfrastruktur ist das Blutkreislaufsystem eines kriegführenden Landes. […] Bei meinen Erkundungen entdeckte ich auf einer der Strecken, die Rjasan umfährt und dann in den Süden Russlands führt, Züge mit Militärtechnik. Nach einiger Beobachtung stellte ich fest, wie häufig die Züge fuhren, und erkannte, dass die Strecke nur für den Güterverkehr genutzt wird. Ich kam zum Schluss, dies sei ein geeignetes Ziel, denn selbst wenn man nur die Gleise in die Luft jagt, wird die Logistik zerstört.
Die Sabotageaktion kostete mich weniger als 10 000 Rubel [rund hundert Franken]. Innert weniger Tage baute ich zwei leistungsstarke Bomben und einen Videosender mit Selbstzerstörungsmechanismus. Im Kopf spielte ich die Fluchtroute durch. Bei mir hatte ich ein Nachtsichtgerät, in den Taschen Tütchen mit Pfeffer, um die Hunde zu verwirren. Um Mitternacht traf ich mit dem Velo an Ort und Stelle ein, befestigte die Sprengsätze unter den Schienen und die Kamera an einem Baum, damit sie den Moment der Explosion aufzeichnen konnte, verstreute den Pfeffer dort, wo ich mich versteckt hatte. […] Als es heller wurde und das Bild auf der Kamera schon zu sehen war, wartete ich den richtigen Moment ab, vergewisserte mich, dass es sich nicht um einen Personenzug handelte, und zündete die Sprengladung. […] In den Nachrichten sah ich das Resultat der Zugsprengung.»
Ruslan Sidiki versteht sich als Anarchist. Vor zwei Wochen wurde der heute 37-Jährige von einem Militärgericht wegen «Terrorismus» zu 29 Jahren Haft verurteilt – 9 davon soll der Saboteur in einem Gefängnis verbringen, die restlichen 20 in einer Strafkolonie. Dass er den Güterzug zum Entgleisen brachte, bestreitet er nicht. Auch eine zweite Tat – einen Drohnenangriff auf einen nahe gelegenen Militärflugplatz ein paar Monate zuvor – gibt er zu. Nur von Terror will Sidiki nicht sprechen: Sein Ziel sei es nicht gewesen, die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu behindern.
Operation «Spinnennetz»
Am Wochenende ist dem ukrainischen Geheimdienst ein Erfolg gelungen: Mit auf Lastwagen versteckten Drohnen griff er mehrere Standorte der russischen Luftwaffe an – darunter einen Flugplatz an der Grenze zu China sowie jenen in Djagilewo, den auch Ruslan Sidiki ins Visier genommen hatte.
Den Schaden der Operation «Spinnennetz» bemisst die ukrainische Seite auf rund sieben Milliarden US-Dollar, auch will sie ein Drittel aller russischen Bomber zerstört haben. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht – wichtiger dürfte aber ohnehin die symbolische Wirkung der Aktion sein.
Ruslan Sidikis Fall ist in vielerlei Hinsicht besonders. Vor allem, weil er – im Gegensatz zu anderen militanten Aktivist:innen – die Öffentlichkeit aktiv an seinem Lebensweg, dem Tatmotiv und vielen weiteren, auch ideologischen Überlegungen teilhaben lässt – und damit die Deutungshoheit über seine Geschichte behält. In den meisten ähnlich gelagerten Fällen ist jeweils nur die Darstellung des russischen Inlandgeheimdiensts FSB bekannt, entweder frei erfunden oder dem Angeklagten unter Folter in den Mund gelegt.
Die meisten Zitate in diesem Text stammen aus Briefen, die Sidiki aus der Untersuchungshaft schrieb und die der Menschenrechtsaktivist Iwan Astaschin der WOZ – teils exklusiv – zur Verfügung stellte; die restlichen Informationen sind den Ermittlungsakten sowie der Anklageschrift, die der WOZ vorliegen, Befragungen vor Gericht und Berichten unabhängiger russischer Medien entnommen.
«Habe ich mich als Partisan gefühlt? Ich denke, man kann mich durchaus so bezeichnen. Wenn während des Zweiten Weltkriegs Menschen, die sich dem Dritten Reich auf seinem Territorium widersetzten, Partisan:innen genannt wurden, dann kann man mich auch zu ihnen zählen.»
«Ich denke, dass der Widerstand gegen totalitäre Regimes die Pflicht und das Recht jedes Menschen ist.»
«Die russische Regierung hat alle Möglichkeiten der friedlichen Einflussnahme auf die Situation zunichtegemacht: Wer sich gegen den Krieg ausspricht, wird zum Verräter erklärt und erfährt Repressionen. In einer solchen Situation ist es nicht verwunderlich, dass die einen das Land verlassen, während andere zu Sprengstoff greifen.»
«PS: Ich denke, dass die Unmöglichkeit, friedlich und gesetzeskonform Widerstand gegen die Handlungen der Herrschenden zu leisten, dazu führt, dass Leute auftauchen, die bereit sind, radikal zu handeln.»

I. Industrie und Landluft
Ruslan Kasemowitsch Sidiki wird am 16. März 1988 in der 200 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Rjasan geboren. Dort wächst er in der Obhut seiner Mutter und seiner Grossmutter auf. Der Vater stammt aus Afghanistan, kommt für die militärische Ausbildung in die Stadt und kehrt nach Kabul zurück, als Ruslan noch ein Kind ist. Im Russland der chaotischen Neunziger ist Sidikis Leben von einer grauen, harten Realität geprägt, der Krieg in Tschetschenien ist im Fernsehen ein Dauerthema, die Menschen um ihn herum sind «mürrisch und aggressiv». Sidiki erinnert sich, wie seine Nachbar:innen vor ihren Hauseingängen wachten, «damit niemand die Keller verminen konnte».
Im Jahr 1999 fordert eine Reihe von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser Hunderte Tote und Verletzte. Die Behörden geben damals «tschetschenischen Separatisten» die Schuld – die Indizien deuten allerdings auf eine Beteiligung des FSB hin. Der russischen Führung liefern die Angriffe einen Vorwand, um den Zweiten Tschetschenienkrieg zu beginnen. In dessen Verlauf steigt ein bis dato unbekannter früherer Geheimdienstler zum neuen Präsidenten auf: Wladimir Putin.
«Es war eine typische Kindheit in den Industriezonen der Neunziger. Um uns herum Baustellen, Ruinen und Mülldeponien, die zu Spielplätzen wurden. Wir wuchsen nicht wohlhabend auf, verbrachten viel Zeit auf der Strasse, weil es zu Hause nichts zu tun gab. Viel lustiger war es, vor dem Wachmann auf der Baustelle wegzurennen, Farbballone ins Feuer zu werfen und auf die Explosion zu warten, sich in den Untergrund vorzuwagen, aus Stroh und Ästen Hütten zu bauen. Schon früh interessierten mich Getriebe und elektronische Geräte. Also kauften mir meine Eltern Wissenschaftsbücher und Bausätze.»
Mit elf Jahren verbringt der Junge den Sommer bei seiner Mutter, die inzwischen mit ihrem neuen Partner auf Sizilien lebt. Als sie ihm eröffnet, dass er fortan bei ihr leben soll, wird aus einem sorglosen Ferientrip gleich ein ganzer Lebensabschnitt. Bis sich Sidiki in seiner neuen Umgebung zurechtfindet, vergehen Monate. Als er zum Ende des Schuljahrs langsam die neue Sprache beherrscht und Spielgefährt:innen findet, wird die Situation besser. Weil er seine Grossmutter und die Freund:innen vermisst, kehrt er in den Sommerferien dennoch jeweils nach Rjasan zurück.
Nach dem Schulabschluss bemüht er sich vergeblich um die Aufnahme in den Comando Truppe Alpine, das Gebirgstruppenkommando der italienischen Armee.
«Damals glaubte ich viel mehr an die Möglichkeit einer sozialen Revolution, eines Lebens ohne Staat. Nicht dass ich heute nicht daran glaube, bloss bin ich auf dem Boden der Tatsachen angekommen, verstehe, dass alles nicht so einfach ist und längst nicht alle Leute sich dafür eignen. Ich sehe keine ernsten Widersprüche zwischen dem Anarchismus und dem Eintritt in die Armee eines Landes, das sich nicht im Krieg befindet, begrenzt auf ein Jahr, ohne weitere Verpflichtungen. […] In der italienischen Armee sah ich die Perspektive, mir Kenntnisse im Umgang mit Waffen, Ausrüstung und Technik anzueignen.»
Die Begeisterung für alles Technische, illegale Gerätschaften inklusive, zieht sich nach allem, was bekannt ist, wie ein roter Faden durch Sidikis Leben. Schon während seiner Zeit in Italien habe er sich für Sprengstoff interessiert, erinnert er sich einmal. In einem Zeitungsbericht sieht er die Anleitung für eine Bombe. Jahre später baut er selbst eine solche nach. Nach der Absage der Armee bleibt er eine Weile auf Sizilien; als er bei einer Reise nach Rjasan einen Job als Elektriker angeboten bekommt, kehrt er Italien 2008 den Rücken. Er habe Sehnsucht nach seiner Grossmutter und den Kindheitsfreund:innen gehabt, auch habe ihn die Perspektive eines Lebens im beschaulichen Europa gelangweilt, schreibt Sidiki später.
II. «Stalker» im Sperrgebiet
«Ab 2009 begeisterte ich mich für illegale Wandertouren in die Sperrzone rund um Tschernobyl in der Ukraine und in Belarus. Ich führte auch andere dort herum – nicht gegen Bezahlung, sondern um Gesellschaft zu haben. So lernte ich auch einige russische und ukrainische Genoss:innen kennen.»
Einer dieser Genoss:innen ist Pjotr Wolin, der eigentlich anders heisst. Sidiki habe er über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt, erzählt er eines Abends am Telefon. «Den ganzen Winter haben wir hin und her geschrieben, dann trafen wir uns in Moskau am Bahnhof, kauften Zugtickets nach Kyjiw und waren zwei Tage später schon unterwegs in die Sperrzone, wo wir einen ganzen Monat verbrachten.» Die Freundschaft, die sich in dieser Zeit entwickelt hat, hält bis heute.

Bis zu Russlands Annexion der Krim fährt Sidiki einmal pro Jahr ins Sperrgebiet. Interessiert habe ihn der Ort lange vor dem Egoshooter «Stalker», der in der Zone rund um das Atomkraftwerk spielt, das durch eine Reaktorkatastrophe weltweite Berühmtheit erlangte. Das Spiel wiederum weckt Erinnerungen an den gleichnamigen Science-Fiction-Film des einflussreichen sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowskij aus den Siebzigern, in dem sich der Protagonist in einer mysteriösen Zone zurechtfinden muss.
Als einen solchen «Stalker» im Überlebensmodus sieht sich auch Sidiki. Er begibt sich auf illegale Pfade, ohne GPS, dafür mit alten Armeekarten ausgestattet, richtet sein Lager in Bauruinen ein, hört nachts den Wölfen zu.
«Ich spielte Partisan. Der Wald, ein Rucksack – und das Ziel, anzukommen, ohne erwischt zu werden.»
«Als ich in meiner Jugend Geräte anschleppte, schimpfte meine Mutter mit mir, weil sie befürchtete, sie seien radioaktiv. Sie erzählte mir auch von einer Stadt, die die Bewohner:innen wegen des Reaktorunglücks verlassen mussten. Geräte von dort würden immer wieder auftauchen und ihre Umgebung kontaminieren. Dass Reisen in die Sperrzone verboten waren, machte den Ort für mich nur noch anziehender. Ich mag es, mich durch schwer zugängliches Gelände zu kämpfen.»
Nach der Krimannexion gehen in Russland viele Freundschaften zu Bruch; auch in der Linken gibt es Unterstützer:innen der Aggression. Sidiki entscheidet sich für das Leben in einer Kommune von Ökoanarchist:innen: Im «Neuen Weg», einer Ansammlung von Hütten Gleichgesinnter in einem Wald bei der Siedlung Botschewo einige Hundert Kilometer südöstlich von St. Petersburg verbringt er fortan seine Sommer. Er pflanzt Gemüse an, baut sich aus Holzbrettern ein Haus, zu dem er auch selbst die Leitungen verlegt, unternimmt ausgedehnte Velotouren quer durchs Land. «Ruslan hat sich stark für autonome Orte und anarchistische Lebensweisen interessiert», erinnert sich Wolin. Gemeinsam waren sie Teil einer Bewegung, die in ihren Hochzeiten über fünfzig autonome Kommunenprojekte umfasste.

Für seinen Freund findet Wolin nur die positivsten Worte. «Ruslan mag etwas introvertiert sein, eher ein Einzelgänger, aber er ist ein zutiefst anständiger, netter Mensch, dem das Leid anderer nie gleichgültig war – einer, auf den man sich immer verlassen konnte.» Fasziniert habe ihn Sidikis Überlebenstrieb, die vielfältigen Interessen – Elektronik und Landwirtschaft, Physik und Chemie. «Er war sehr talentiert, ging immer mit grossem Ernst an seine Aufgaben heran; alles, was er anfasste, wurde zum Erfolg», berichtet Wolin.
«Ich verstehe Anarchismus so, dass man nach Möglichkeit hilft oder an Projekten beteiligt ist, die der Bewegung nahestehen. An Aktionen teilnimmt, deren Ziel der Schutz von Rechten und Freiheiten der arbeitenden Bevölkerung ist. Menschen die eigenen Ideen nahebringt, wenn es die Umstände erlauben. Sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten aneignet, um das oben Genannte effektiver zu gestalten.»
III. Krieg dem Krieg
Am 24. Februar 2022 nickt Sidiki im Zug von Rjasan nach Moskau ein; wie im Traum hört er die Gesprächsfetzen der Mitreisenden: «Heute Abend werden wir in Kyjiw sein» – «Sie wollten uns angreifen». Als er nach dem Aufwachen durch die Newsfeeds scrollt, sieht er seine Befürchtungen bestätigt: Die Vollinvasion der Ukraine hat begonnen. Es sei ein sehr unangenehmes Gefühl gewesen, erinnert sich Sidiki in einem Brief aus der Haft: «Vor dem Zugfenster siehst du die Waggons mit Militärtechnik vorbeifahren, kannst aber nichts tun.»
Ein paar Wochen später schreibt er einem Freund in der Ukraine, den er aus seiner Stalkerzeit kennt, er denke darüber nach, sich der ukrainischen Armee anzuschliessen, lässt es aufgrund mangelnder Kampferfahrung aber bleiben. Der Freund, der sich an der Landesverteidigung beteiligt, kommt später bei einer Offensive nahe Charkiw ums Leben. Für Ruslan sei der russische Angriffskrieg «eine persönliche Tragödie» gewesen, erinnert sich Wolin.
«Die Situation auf kriegerische Weise zu beeinflussen, entschied ich Ende 2022 – als klar wurde, dass der Krieg lange dauern wird. Die russische Armee griff gezielt die ukrainische Energieinfrastruktur an und verheimlichte ihre Ziele dabei nicht: der Zivilbevölkerung Wasser, Wärme und Licht zu nehmen, damit die Leute, davon müde, die eigene Regierung unter Druck setzen. Artikel 205 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation [Terrorparagraf] spricht von einer ‹Explosion oder anderen Handlungen, die die Bevölkerung einschüchtern sollen›. Die Handlungen der russischen Seite fallen exakt unter diese Definition.»
«Die Angriffe auf die Ukraine fielen mit dem Dröhnen der Langstreckenbomber vor meinem Fenster zusammen. Das war der Grund, warum ich den Militärflugplatz Djagilewo für den Angriff auswählte, nicht mehr als zehn Kilometer von meinem Haus entfernt.»
Dank seiner Technikbegeisterung besitzt Sidiki ein selbstgebautes Quadrocopter-Flugmodell. Wie er den Ermittlungsbehörden später erzählen wird, kontaktiert er einen ukrainischen Freund, der ihn wiederum an einen Vertreter des Militärgeheimdiensts verweist. Im Februar 2023 trifft der selbsterklärte Partisan diesen in Istanbul, wo er – als Garantie, dass er nicht für den FSB arbeitet – einen Lügendetektortest absolvieren muss; später fliegt er nach Riga. Dort soll ihn der ukrainische Geheimdienst zur Sabotage ausgebildet haben, so die Version der Behörden – Sidiki selbst bestreitet das und beteuert, alles, was er zur Sabotage brauchte, habe er sich selbst angeeignet. Auch einen hohen Geldbetrag, der ihm später angeboten worden sein soll, habe er abgelehnt. Den Kontakt in die Ukraine behält er nach seiner Rückkehr nach Rjasan bei.
Am 20. Juli 2023 begeht Sidiki die erste Tat: den Angriff auf den nahe gelegenen Militärplatz Djagilewo. Bereits in der Nacht hat er vier Quadrocopter mit selbstgebauten Sprengsätzen ausgestattet. Er bringt sie aus der Stadt hinaus, programmiert die Drohnen für den baldigen Start und fährt wieder nach Hause. Wie Sidiki später aus den Nachrichten erfährt, ist allerdings nur ein Quadrocopter tatsächlich gestartet. Weder wird bei der Aktion jemand verletzt, noch einer der Kampfjets beschädigt. Wochenlang habe er voller Sorge gelauscht, wenn jemand an seiner Haustür vorbeiging, erinnert sich Sidiki. Als nichts passiert sei, habe er sich beruhigt, sei aber verärgert gewesen, dass die Aktion nicht nach Plan verlaufen sei.
Einige Monate später folgt ein Schicksalsschlag: Anfang Oktober stirbt die betagte Grossmutter, zu der Sidiki sein Leben lang ein enges Verhältnis hatte. Der Enkel weiss, dass ihn die Trauer unvorsichtig macht, beschliesst aber dennoch, wieder aktiv zu werden. «Der Krieg ging weiter, und weil der Angriff aus der Luft missglückt war, dachte ich, müsse man auf dem Boden handeln.» Also nimmt Ruslan Sidiki die Eisenbahninfrastruktur ins Visier.
IV. Verbrechen und Strafe
Am 29. November wird Ruslan Sidiki in der Nähe seines Wohnorts festgenommen. Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass die Polizei bei der Verhaftung im Grunde nichts gegen Sidiki in der Hand hatte. Seinem Anwalt berichtet er später, wie er in den ersten Tagen nach seiner Festnahme gefoltert wird.
«Beim Durchsuchen meines Telefons schlossen sie aus meinen abonnierten Telegram-Kanälen, dass ich im Mindesten kein Anhänger der sogenannten militärischen Spezialoperation bin. Das ist ein weiterer Fehler, den ich zuliess: Im Netz musst du aussehen wie ein gewöhnlicher Turbopatriot. Das Wissen um deine Rechte bei der Festnahme sowie um ihre Arbeitsweise können auch nicht schaden. Als sie die Infos aus mir herausgeprügelt hatten, sagte einer: ‹… und ich wollte schon alle Velofahrer in Rjasan drannehmen.›»
«Auf dem Polizeiposten drohte er mir, dass sie ihre Infos so oder so bekämen: Gleich würden sie mich in die Natur rausfahren, dort foltern und anschliessend erschiessen, nachdem sie einen Fluchtversuch inszeniert hätten. Danach fragten sie mich nach chronischen Erkrankungen. Als ich verneinte, erhielt ich einen Schlag auf den Kopf, dann fiel ich auf den Boden, und sie fingen an, mich zu treten. Sie banden Kabel an meine Füsse und begannen, mich mit Strom zu foltern.»
Als Sidiki in Untersuchungshaft kommt, werden die Folterspuren an seinem Körper von einem Arzt festgehalten: Wunden am Kopf, Verbrennungen und blaue Flecken. Er reicht eine Beschwerde ein, die aber nicht weiterverfolgt wird. Die folgende Zeit beschreibt er als «äussert schwierig», Sidiki plagen Suizidgedanken. Hoffen lässt ihn die Anteilnahme von Bekannten und Freund:innen, aber auch die vielen Briefe Unbekannter, die er im Gefängnis erhält.
Am 13. Mai 2025 beginnt in Rjasan unter dem Vorsitz eines Einzelrichters des Zweiten Westlichen Militärbezirksgerichts der Prozess gegen Ruslan Sidiki. An Händen und Füssen gefesselt, muss er in einem Käfig Platz nehmen.
Die Angriffe auf den Militärflugplatz und die Eisenbahn stufen die Ermittler als Terror ein (Art. 205 Strafgesetzbuch der Russischen Föderation). Zudem werfen sie dem Anarchisten die Vorbereitung eines dritten Angriffs vor – einer neuerlichen Explosion auf einer Zugstrecke im Januar 2024. Den Vorbereitungsprozess für die beiden Sabotageakte betrachten sie als «Ausbildung zum Zweck der Durchführung eines Terrorangriffs» (Art. 205.3), hinzu kommt der Vorwurf, «in einer organisierten Gruppe» Sprengstoff hergestellt und eingesetzt zu haben (Art. 222.1 und 223.1). Die Ermittler gehen von einer Anwerbung durch den ukrainischen Geheimdienst aus.
Sidiki gibt zwar beide Sabotageakte zu, streitet aber die Vorbereitung einer dritten Tat ab und versichert, allein gehandelt zu haben. Auch als Terror will er seine Tat nicht eingestuft sehen. In seinem Schlusswort entschuldigt er sich beim Personal, das bei der Zugentgleisung leichte Blessuren davontrug. Nachdem er noch einmal die Motivation für seine Taten dargelegt hat, zitiert Sidiki einen Vers des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno, der zu Zeiten des russischen Bürgerkriegs ab 1917 im Süden der Ukraine anarchistische Gesellschaftsstrukturen verwirklichte.
Am 23. Mai fällt das Gericht sein Urteil. Die Forderung der Staatsanwaltschaft nach dreissig Jahren reduziert der Einzelrichter um ein Jahr.
Epilog
Ruslan Sidiki befindet sich derzeit im Gefängnis von Rjasan. Seit der Urteilsverkündung habe er noch nicht mit ihm gesprochen, sagt sein Anwalt Igor Popowskij am Telefon. Das Strafmass bewertet Popowskij als «übertrieben hart – selbst nach der gegenwärtigen Praxis des russischen Regimes». Um die Bevölkerung einzuschüchtern, würden die Strafen für Widerstand gegen die Staatsmacht immer höher.
Gemäss der antiautoritären Initiative Solidarity Zone sind in Russland und den besetzten ukrainischen Gebieten in den ersten neunzehn Monaten der Vollinvasion 310 militante Aktionen verübt worden – die meisten davon waren Sabotageakte gegen die Eisenbahninfrastruktur und Angriffe auf Einberufungsbüros und andere Objekte des Staatsapparats. Seither sind wohl viele weitere dazugekommen.
«Ich denke, man kann mich zu den Kriegsgefangenen zählen, denn meine Aktionen fanden im Rahmen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine statt. Ein politischer Gefangener wäre ich, wenn ich für eine friedliche Antikriegsaktion hinter Gittern gelandet wäre. Meine Handlungen fallen unter das Stichwort ‹Sabotage›, aber auf keinen Fall unter Terrorismus, denn ich hatte nicht das Ziel, die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Das Ziel bestand darin, Flugzeuge zu vernichten, damit sie nichts haben, mit dem sie Bomben abwerfen können, die Wege zu vernichten, damit sie nicht vorankommen.»
«Manche sagen, man soll nicht für die Ukraine kämpfen, weil du de facto für die Interessen einiger Politiker und Konzerne kämpfst. Ja, mag sein, dass das zum Teil stimmt. Doch wenn man davon ausgeht, dass niemand Russland angegriffen hat und es der Aggressor ist, der nicht aufhören wird – alle Zugeständnisse werden bloss den Appetit steigern –, können die Ukrainer:innen entweder still den Kopf senken und zu einem Teil der Russischen Föderation werden oder Widerstand leisten. Ich finde, in einem solchen Fall helfend die Hand auszustrecken, ist eine edle Handlung.»
Noch diese Woche werde er voraussichtlich die schriftliche Urteilsbegründung erhalten, sagt Anwalt Popowskij. Dann will er den Fall ans Oberste Gericht weiterziehen. Dass Ruslan Sidiki ein Kriegsgefangener sein soll, begründet er mit der Anklageschrift. «Wenn sie sagen, er sei vom ukrainischen Geheimdienst angeworben worden, muss er nach den Genfer Konventionen als Kombattant eingestuft werden.» Auch sein italienischer Pass könnte Sidiki womöglich zur Freiheit verhelfen. Bei der Urteilsverkündung war der italienische Konsul im Gerichtssaal anwesend.