Diesseits von Gut und Böse: Offene Herzen

Nr. 23 –

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Seit Tagen versuche ich, mir vorzustellen, was es hiesse, jeden Morgen beim Erwachen erneut realisieren zu müssen: Alles ist weg. Begraben unter Millionen Tonnen Geröll. Furchtbar.

Doch so erschreckend der Gedanke ist, ist es auch ein grosses Glück, dass im Lötschental zwar eine Person vermisst wird, aber alle anderen am Leben sind. Nun wird gesammelt und gespendet, dass es nur so eine Freude ist – selbst Kinder könnten ihr Sackgeld für eine Woche hergeben, regte die Nationalratspräsidentin an. Da öffnen sich die Herzen, möchte man meinen, aber nicht alle.

Die Natur ist nicht grausam, sie gehorcht bloss physikalischen Gesetzen. Wo Eis schmilzt und Gestein rutscht, wirkt die Schwerkraft, und alles folgt zwangsläufig nur einer Richtung: nach unten. Der Mensch hingegen, obwohl er zweifellos eine Unterkategorie der Natur ist, hat durchaus die Befähigung zur Grausamkeit – im Grossen wie im Kleinen.

So komme ich derzeit nicht dagegen an, dass die Bilder aus dem Lötschental in meinem Hirn ständig von jenen der aktuellen Kriege überlagert werden. Wo unter den – in voller Absicht erzeugten – Schuttbergen tote Menschen liegen, die nicht rechtzeitig evakuiert werden konnten. Wenn die Überlebenden dann auch noch ausgehungert werden, schafft es unsere Regierung nicht mal, beherzt Stellung zu beziehen. Und jenen, die all das überlebt haben und nun versuchen, in der Schweiz eine neue Existenz aufzubauen, mögen manche hier kaum das Schwarze unterm Fingernagel gönnen.

Schnell tönte nach dem Bergsturz Missgunst aus den Kommentarspalten: Jetzt könne die Regierung endlich mal den Unsrigen helfen, statt das ganze Geld im Ausland zu verschleudern. Was die SVP umgehend zur offiziellen Forderung machte: Das Geld, das nun für Bergschutzmassnahmen und die Blattner:innen gebraucht würde, solle man bei der Entwicklungshilfe einsparen.

Mir klingelt schon der Vorwurf in den Ohren, ich wolle ein Leid gegen ein anderes ausspielen. Dabei scheint mir doch bloss ein Land, das eine marode Grossbank retten kann, auch in der Lage, mehrfaches Leid lindern zu können.

Der bedauernswerten Bevölkerung von Blatten wird geholfen werden. Und ich werde meine Spende guten Gewissens der Flüchtlingshilfe zukommen lassen.