Bergsturz von Blatten: So stark, so ausgeliefert

Nr. 23 –

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Vielleicht lässt sich die ganze Tragik der Katastrophe von Blatten an zwei Sätzen verdeutlichen. Bundesrat Albert Rösti sagte sie an der Pressekonferenz vom 28. Mai, wenige Stunden nachdem das Dorf von Dreck begraben worden war: «Die Natur ist stärker als der Mensch. Das wissen die Bergler.» Hat Rösti damit recht? Was zeigen seine Sätze, was blenden sie aus?

Der SVP-Bundesrat beschreibt eine Erfahrung, die Menschen seit Jahrtausenden machen – seit sie versuchen, in Gebirgen dauerhaft zu leben und zu wirtschaften. Lawinen, Murgänge und Steinschlag bedrohen Häuser, Felder und Weiden. In Naturkatastrophen wie dem Bergsturz von Goldau 1806 oder dem Lawinenwinter 1951 starben Hunderte.

Trotzdem: Die Demut, die diese Sätze suggerieren, klingt eigenartig aus dem Mund eines Politikers, der sonst ungebrochen an den technischen Fortschritt glaubt. Neue AKWs, neue Autobahnen, neue Gentechnik: Würde Rösti das wollen, wenn er wirklich dächte, die Natur sei stärker als der Mensch? Spricht daraus nicht eher das Gegenteil: «Der Mensch ist stärker als die Natur»?

Das ist allerdings die Kehrseite desselben Denkens: die Definition von Natur als Gegensatz, Gegenspielerin des Menschen. Auf diesem Gegensatz fusst die ganze technisch-kapitalistische Zivilisation. Sich selbst getrennt vom Rest der Welt zu denken und zu fühlen, war die Bedingung, um den Planeten und seine Lebewesen zu beherrschen und auszubeuten.

Der «Mensch»? Es war vor allem der weisse, männliche, «aufgeklärte» Europäer, der sich so verhielt und damit ein paar Jahrhunderte lang grossen Erfolg hatte. Es gab und gibt Gesellschaften, die diese Trennung nicht machen, den Homo sapiens nicht an die Spitze der Schöpfung stellen, sondern das Verbindende zwischen den Lebewesen betonen. Und es gibt offensichtlich eine grosse Sehnsucht nach diesem Verbindenden: Der Hype um alles Indigene in Populärkultur, Esoterik, Kunst und im linken Aktivismus zeigt es deutlich. Wer ihn belächelt, macht es sich zu einfach. Die Erkenntnisse der ökologischen Forschung – eines Wissenschaftszweigs, der sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert hat – klingen oft verblüffend, als wären sie von indigenem Denken inspiriert. Auch die Ökologie fokussiert auf Verbindungen, statt Getrenntes zu erforschen.

Biologisch ist der Homo sapiens eine Tierart unter vielen. Wir sind ein Teil der Natur: Das ist ein wissenschaftlicher Fakt. Für viele klingt er schön und romantisch. Aber er hat eine sehr dunkle Seite. Gerade im Versuch der Trennung, der Kontrolle, der Beherrschung hat sich unsere Spezies so untrennbar mit dem Planeten verstrickt wie nie zuvor. Das ist es, was der niederländische Chemienobelpreisträger Paul Crutzen ausdrücken wollte, als er das Wort «Anthropozän» erfand: Der Homo sapiens ist eine geologische Kraft geworden. Unsere Spezies löscht unzählige Tierarten aus, verändert das Klima für Jahrhunderttausende, ebenso lang werden unsere radioaktiven Abfälle strahlen. Wie in einem grausamen Märchen kommen die Kräfte, die wir zu beherrschen glaubten, potenziert zurück.

Auch wenn der genaue Anteil nie zu bestimmen sein wird: Ein Teil der Katastrophe von Blatten ist menschengemacht. Die menschengemachte Instabilität des Klimas lässt das «ewige» Eis schmelzen und verstärkt die geologische Instabilität der Gebirge. Der von Rösti behauptete Gegensatz bricht in sich zusammen. Vielleicht wäre es treffender zu sagen: Der Mensch ist zu stark für die Welt – und sich selbst – geworden.

Die Unberechenbarkeit von Klima und Ökosystemen wird weiter zunehmen. Technik kann helfen: Ohne Frühwarnsysteme hätte es in Blatten wohl Dutzende Tote gegeben. Doch Technik wird die Ursachen der Instabilität nicht beheben. Solange es nicht gelingt, Lebens- und Wirtschaftsweisen zu entwickeln, die die Raumnahme der Menschen auf ein weltverträgliches Mass begrenzen, werden sich die Katastrophen immer weiter verschärfen.

Blatten ist nur eine Warnung von vielen.