Blatten: Der unpolitische Bergsturz

Nr. 23 –

Wie verarbeitet man als Gemeinschaft das Verschwinden eines ganzen Dorfes? Und wie gehen Politiker:innen damit um? Auf Ortsbesuch im Lötschental. 

Diesen Artikel hören (8:01)
-15
+15
-15
/
+15
Thomas Antonietti vor einem alten Relief des Lötschentaler Bergmassivs im Museum
Im «Talgedächtnis»: Thomas Antonietti, der Koleiter des Lötschentaler Museums, vor einem alten Relief des Lötschentaler Bergmassivs.

Die Aufgabe könnte für Thomas Antonietti kaum schwieriger sein: Ausgerechnet über den Begriff «Heimat» soll er am Pfingsttrunk in der Gemeinde Kippel einen Vortrag halten. Das war schon lange vor dem verheerenden Bergsturz von letzter Woche so abgemacht, der nur etwas weiter oben im Lötschental das ganze Dorf Blatten unter sich begraben hat. Die Behörden wollten das Fest weiterhin durchführen, sagt Antonietti, der seit 22 Jahren das Lötschentaler Museum in Kippel mitleitet. Er habe bis jetzt nichts vorbereitet. «Aber es geht darum, etwas Normalität aufrechtzuerhalten.»

Aus demselben Grund bleibt auch das Lötschentaler Museum in diesen Tagen nach der Katastrophe geöffnet. Auch wenn kaum jemand vorbeikommt, weil Tourist:innen derzeit nicht ins Tal gelassen werden und die Einheimischen andere Sorgen haben. Niemand habe hier im Lötschental mit dem Super-GAU gerechnet, sagt der Museumsleiter. «Das war einfach nicht vorstellbar.» Als am Mittwoch die Gerölllawine in Richtung Dorf donnerte, war Antonietti zusammen mit der Koleiterin Rita Kalbermatten im Museum: Vorbereiten für die Vernissage, die letzten Samstag hätte stattfinden sollen. «Dann hörten wir plötzlich diesen extrem lauten Knall.»

Der Präsident braucht eine Pause

«Fotoparadies Lötschental» heisst die aktuelle Ausstellung im Lötschentaler Museum. Antonietti steht vor der Arbeit eines Künstlers, der das Bietschhorn verfremdet hat: Ein schwarzes Loch klafft im Berg. «Das hat jetzt eine ganz andere Bedeutung», sagt er. So wie das ganze Museum. Das dauerhaft ausgestellte alte Relief des Lötschentaler Bergmassivs. Die Trachten aus Blatten. «Das ist nun alles plötzlich historisch.»

Dass ein Dorf einfach verschwunden ist – wie soll man das begreifen? Aber auch: Wie diese Katastrophe politisch verhandeln?

Im Hotel Sporting, etwas weiter oben im Tal bei der Talstation von Wiler gelegen, ist eine Woche nach dem Bergsturz alles wie immer, nur die Stille ist neu. Am Tresen suchen Männer Trost im Bier. Auch der Bruder des in Blatten vermissten Schäfers sitzt da. Draussen rattert der Suchhelikopter. Irgendwann betritt der Blattner Gemeindepräsident Matthias Bellwald das Lokal, schüttelt Hände, umarmt. Bellwald ist erschöpft. Mit Journalisten wolle er gerade nicht mehr reden, sagt er. «Das ist mein erster Kaffee heute. Sie werden verstehen, dass ich dringend einmal eine Pause brauche.»

Der Walliser Mitte-Nationalrat Philipp Matthias Bregy hat schon kurz nach der Katastrophe gesagt, man dürfe diese nun ja nicht politisch ausschlachten. Auf Nachfrage schreibt er: «Die Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten brauchen jetzt die Solidarität der Schweiz und Soforthilfe. Was sie nicht gebrauchen können, ist eine Verpolitisierung ihres Schicksals.» Es ist eine Botschaft, die bei vielen Bewohner:innen des Lötschentals gut ankommen dürfte – wo seit jeher der Mythos des robusten und eigenwilligen Bergvolks gepflegt wird. Wo man sich nicht reinreden lassen will. Wo an den Holzhäusern gottesfürchtige Sprüche von vergangenen Verheerungen zeugen. «Wenn Wetter schlagen, Stürme brausen, verschone Herr des Pilgers Haus.»

Klimaleugner Dettling

Doch wenn Bregy sagt, man dürfe die Katastrophe von Blatten nicht politisieren, dann ist diese Aussage freilich äusserst politisch: Seit der Katastrophe bemüht sich nicht nur seine Partei darum, den Courant normal aufrechtzuerhalten. Bereits kurz nach dem Bergsturz trat der aus dem Lötschental stammende Mitte-Ständerat Beat Rieder vor die Kameras und betonte die Widerstandskraft seiner Talgenoss:innen, die schon immer Murgängen, Lawinen und Hochwasser getrotzt hätten. Rieders Forderungen: Es brauche nun mehr Investitionen in Schutzmassnahmen. Das Tabu: dass nur ein viel schnellerer Ausstieg aus den fossilen Energien die Gefahr in den Bergen minimieren wird – dass das Lötschental nicht nur im Lötschental gerettet wird.

Auch SP-Kopräsidentin Mattea Meyer sagte kurz nach dem Bergsturz, man dürfe nun nicht sofort über Ursachen reden – sondern müsse jetzt einfach Solidarität üben. Jetzt sagt Meyer: «Solche Ereignisse zeigen die harte Realität der Klimakrise. Die Wissenschaft warnt klar, dass tauende Permafrostböden zu noch mehr Bergstürzen führen und wir dringend handeln müssen.» Noch klarere Worte findet Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone. Eben aus Solidarität mit den Bergbewohner:innen müsse man auch nach solchen Katastrophen über die Ursachen sprechen. «Es nicht zu tun, liegt im Interesse des bürgerlichen Machtblocks, und diesen gilt es zu brechen. Sonst schützt man den Abbau in der Klimapolitik und verhindert echten Klimaschutz.»

Am weitesten geht bei der Leugnung der Zusammenhänge die SVP. Parteichef Marcel Dettling sagt am Telefon: «Glauben Sie etwa, am Felssturz in Goldau im Jahr 1806 mit 500 Toten war auch der angeblich menschengemachte Klimawandel schuld? Es gab schon immer Schwankungen, da kann der Mensch nichts machen.» Die Forderung der SVP: Man müsse nun Gelder aus der Entwicklungshilfe nach Blatten umleiten.

Das Talgedächtnis

Im Hotel Sporting übt man sich in diesen Tagen vor allem in einem: der gegenseitigen Versicherung, dass es weitergehen kann wie bis anhin. «Gewisse Journalisten schreiben jetzt, die ganze Welt geht unter», sagt ein Einheimischer. «Aber das stimmt nicht. Hier ist ein Berg heruntergekommen, der schon lange instabil war. Jetzt ist der Berg unten, er wird nicht mehr kommen, das Leben wird weitergehen.»

Er sitzt mit drei anderen Männern an einem Tisch, die gekommen sind, um grosse Pläne zu schmieden. Es geht im Gespräch um Baumaterialien und geeignete Orte, um neue Häuser zu bauen – ganz so, als sei das jetzt im Lötschental schon planbar. Genaues wolle er zu seinen Ideen noch nicht sagen, sagt der Mann, aber mit seiner Baufirma möglichst rasch etwas zum Wiederaufbau beitragen. Vom Tresen schwankt ein Betrunkener rüber. Sagt: «Heute habe ich zu viel getrunken, aber morgen früh, um halb sieben, werde ich bereitstehen.»

Im Lötschentaler Museum ist mittlerweile auch Koleiterin Rita Kalbermatten angekommen, im «Talgedächtnis», wie sie es nennt. Kalbermatten ist in Blatten aufgewachsen und hat bis zur Evakuierung auch dort gelebt. «Den Verlust unseres Hauses werde ich irgendwann verschmerzen können», sagt sie. Schwieriger sei der Verlust der Nachbarschaft, des Dorflebens. «Und von unserem Fenster blickte ich täglich auf die Lötschenlücke. Tag und Nacht konnte ich vor dem Haus Wildtiere beobachten. Das ist weg, das ist unersetzbar», so Kalbermatten.

Das Museum dokumentiere das Leben im Tal vor allem auch für künftige Generationen: die jahrhundertealte bäuerliche Existenz, die Erstbesteigung des Bietschhorns mit dem Beginn des Tourismus, die Emigration, der Bau des Lötschbergtunnels. «Und nun ist ein neuer, tragischer Markstein hinzugekommen …», sagt die Koleiterin.

Über Politik wollen Rita Kalbermatten und Thomas Antonietti nicht reden. Das sei auch nicht ihre Aufgabe. Man wolle mit dem Museum nun einfach weiter da sein. «Und klar», sagt er, «wir müssen uns auch überlegen, ob und wie wir als Museum eine Ausstellung zu dieser Katastrophe gestalten können.»­