Auf allen Kanälen: Hass > Klicks > Kohle
Ein neues Enthüllungsbuch über Facebook erzählt Ungeheuerlichkeiten aus dem Machtzentrum von Mark Zuckerbergs Milliardenkonzern.

Noch ein bisschen bleiben oder Facebook endlich verlassen? Auch nachdem sie zum wiederholten Mal angeblich schwer schockiert vor neuen Untaten ihres Arbeitgebers steht, ist sich Sarah Wynn-Williams nicht sicher, ob sie ihren gut bezahlten Job im inneren Kreis der Macht von Facebook aufgeben mag. Etwa nachdem sie herausfindet, dass man Jugendliche gezielt mit Beautywerbung flutet, sobald sie in Instagram-Posts Unsicherheiten oder Ängste äussern. Oder als die Verantwortlichen versuchen, über Strohfirmen mit der chinesischen Regierung einen höchst fragwürdigen Datendeal abzuschliessen. Oder als mit grosszügiger Hilfe von Facebook Personen, die zuvor kaum bekannt waren, in hohe politische Ämter gewählt wurden.
2017 nimmt ihr Facebook die Entscheidung ab und stellt sie kurzerhand auf die Strasse – offenbar, weil man sonst ihren Vorgesetzten, Joel Kaplan, hätte entlassen müssen, den sie sexueller Belästigungen bezichtigt hatte. Nun hat sie einen Bestseller über ihre Zeit als «Verantwortliche für Weltpolitik» geschrieben, der Aufsehen erregt: beim Konzern, der seit 2021 Meta heisst und das Buch verbieten lassen wollte; im US-Senat, wo Wynn-Williams vom Justizausschuss befragt wurde; und in den Medien, die sich vornehmlich auf ihre hautnahen Anekdoten zu Mark Zuckerberg und seiner ehemaligen Kogeschäftsführerin Sheryl Sandberg stürzten.
Hochfunktionaler Soziopath
Der Buchtitel, «Careless People», ist ein Zitat aus einem der wichtigsten US-Romane des 20. Jahrhunderts: F. Scott Fitzgeralds «The Great Gatsby», der von rücksichtslosen, merkwürdig gefühlsarmen Neureichen handelt. Wynn-Williams findet deren Dotcom-Nachkommen hundert Jahre später in den Chefetagen und Privatjets von Facebook wieder. Wie viele Medien sofort monierten, hat sie dabei nichts atemraubend Neues zu berichten. Tatsächlich ist «Careless People» weniger Enthüllungsbuch als Erinnerungsschreiben. Wir erfahren nochmals, was wir eigentlich längst wissen: Facebook ordnet seiner Expansion alles unter, auch Menschenleben. Gründer Mark Zuckerberg hat eine Faszination fürs Manipulieren von Massen, die in scharfem Kontrast steht zu seiner eigenen, dezidiert uncharismatischen Persönlichkeit. Wynn-Williams zeichnet hochfunktionale Soziopath:innen, getrieben von Gier nach Macht und Geld. Zu ihnen gehört allerdings auch sie selber mit ihrer etwas aufgesetzt wirkenden Naivität, ihrer nicht mehr nachvollziehbaren Bereitschaft zur Selbstausbeutung und ihrem anhaltenden Enthusiasmus für die angebliche Grundidee von Facebook – Menschen zusammenbringen.
Burmesische Killerkommandos
Der Datenklau, mit dem Meta gerade wieder in den Schlagzeilen ist, weil der Konzern auf Instagram, Whatsapp und Facebook im grossen Stil Nutzer:innendaten absaugt, um damit seine KI zu trainieren, spielt in «Careless People» nicht die Hauptrolle. Wichtiger sind in der politischen Abteilung von Wynn-Williams die Manipulationsstrategien. Hier sticht vor allem das Beispiel Myanmar ins Auge: Facebook verbreitete dort nicht nur die Plattform, sondern gleich auch noch den Internetanschluss dazu, natürlich mit vorinstallierter Facebook-App. In weiten Teilen Myanmars war damit Internet gleich Facebook. Als sich dann Fake News und Mordaufrufe gegen Rohingya in realen Killerkommandos auf den Strassen manifestierten, merkte Wynn-Williams, dass man gerade mal zwei Mitarbeiter angestellt hatte, die überhaupt Burmesisch konnten. Und dass ihre Vorgesetzten keinerlei Interesse hatten, die brandgefährlichen, aber oft geklickten Posts zu löschen.
Im «ideologischen Vakuum» von Facebook, wie es der «Atlantic» in seiner Besprechung präzis benennt, hat auch Zuckerbergs Metamorphose vom Obama-Fanboy zum Trump-Unterstützer weniger mit einem politischen Gesinnungswandel als mit purem Opportunismus zu tun. «Careless People» wirft in seinen besten Passagen ein scharfes Schlaglicht auf die schmutzige Wahrheit hinter den von vielen grossen Internetplattformen vorgeschobenen Leitlinien wie Neutralität, «free speech» oder der Behauptung, man sei unpolitisch. So entsteht ein Sittenbild, das über Meta hinausweist: Nicht nur Zuckerberg und seine CEO-Garde werden mit dem algorithmisch gelenkten Aufheizen von Affekten und Konflikten stinkreich, ohne für die Folgen geradestehen zu müssen.
Sarah Wynn-Williams: «Careless People. A Cautionary Tale of Power, Greed, and Lost Idealism». Macmillan Publishers. New York 2025. 400 Seiten. (Nur Englisch.)