Léa Pool: Eine Wette gegen die Gewalt

Nr. 24 –

Mehr durch Zufall landete Léa Pool einst in Kanada, wo sie sich mit Filmen über weibliches Begehren einen Namen machte. In «Hôtel Silence» steht nun ein lebensmüder Mann im Zentrum.

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Filmstill aus «Hôtel Silence»: mehrere Personen sitzen auf einer Treppe
Solidarität und Widerstand in einem kriegsversehrten Land: Léa Pools «Hôtel Silence». Still: h264 Distribution

Als Kind habe sie sich immer gefreut, in Zürich zu sein, sagt Léa Pool und wird kurz nostalgisch. Zu Besuch bei den Grosseltern in Thalwil durfte sie damals, anders als in ihrem Elternhaus in Lausanne, ein Stück heile Welt erleben. Aus der angespannten Kindheit und Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren sollte sie später den Stoff für diverse Spielfilme machen – namentlich in ihrem Coming-of-Age-Film «Emporte-moi» (1999), wobei sie die Geschichte eines filmverliebten Mädchens in Montreal ansiedelte, wo sie seit 1975 lebt und arbeitet.

Dabei hatte sie eigentlich gar nicht vorgehabt auszuwandern. In der Schweiz hatte sie «eine gute Stelle als Lehrerin, eine schöne Wohnung und eine sichere Zukunftsperspektive», wie sie erzählt. Doch dann schlug ihr damaliger Freund vor, gemeinsam einen Studienaustausch in Montreal zu machen: Dort könne sie audiovisuelle Kommunikation studieren, was in der Schweiz damals noch nicht möglich war. Er bekam schliesslich kein Visum, Léa schon. Sie reiste allein nach Kanada. Und blieb.

«Dort konnte ich mich neu erfinden», sagt sie heute. «Niemand kannte mich, ich baute meine Identität neu auf – und da stand die Arbeit mit Bildern rasch im Zentrum.» Der Weg zur Filmemacherin sei zwar nicht leicht gewesen, doch in Quebec habe man ihr mehr Möglichkeiten gegeben, sich zu entfalten, als das damals in der Schweiz der Fall gewesen wäre.

Nicht nach Lehrbuch

Ihr lakonischer, von der französischen Avantgarde geprägter Erzählstil fand rasch Anklang in der nordamerikanischen Indie-Filmszene. Bereits mit ihrem einstündigen Film «Strass Café» (1980) und ihrem ersten Langfilm, «La Femme de l’hôtel» (1984), gewann sie Preise und Anerkennung. Zusammen mit «Anne Trister» (1986) bildete sich daraus eine Trilogie über weibliches Begehren und Sinnsuche. Ab dieser Zeit lebte Léa Pool auch ihre Liebe zu Frauen offen aus. Inzwischen sei es einfacher geworden, die eigene Sexualität nicht so sehr festzuschreiben: «Heute sind wir freier, so zu sein, wie wir sind.»

Mit ihrer poetischen Filmsprache und den eigenwilligen Hauptfiguren kam sie in Kanada sowohl in der frankofonen wie auch in der englischsprachigen Filmwelt gut an. Bald konnte sie zudem Beziehungen zur Schweizer Filmbranche aufbauen, die meisten ihrer Filme entstanden fortan als Koproduktionen zwischen beiden Ländern.

Portraitfoto von Léa Pool
Léa Pool, Regisseurin Foto: Brett Gundlock

Die Inspiration für ihre Drehbücher findet Léa Pool oft in einem Gedicht oder einem Bild. Erst mit der Zeit findet sie zu einzelnen Szenen und dann zu einer Geschichte: «Ganz im Gegensatz zu dem, was im Drehbuchunterricht gelehrt wird. Dort heisst es, wir müssten den Anfang, das Ende und den Erzählbogen haben, noch bevor wir mit dem Schreiben begännen. Bei mir läuft das immer viel instinktiver, überhaupt nicht gradlinig.» Ihre Arbeitsweise gleiche eher einer Collage, mit viel Improvisation: «Ich baue eine Dramaturgie als Vorwand auf für die Szenen, die mir vorschweben. Und ich lasse auch den Schauspieler:innen viel Raum, sich einzubringen.»

Für ihren neusten Spielfilm, «Hôtel Silence», griff sie nun auf den gleichnamigen Roman der isländischen Autorin Auður Ava Ólafsdóttir zurück. Er handelt von einem lebensmüden Mittfünfziger, der in ein kriegsversehrtes Land reist, um seinen seelischen Dämonen zu entkommen. Durch zufällige Begegnungen mit Überlebenden im Umfeld eines halb zerstörten Hotels nimmt sein Leben eine neue Wendung.

Eingeholt von neuen Bildern

Ólafsdóttirs Buch lässt offen, um welches Land und um welchen Krieg es sich handelt. Léa Pool verfolgt eine ähnliche Strategie, doch den Film musste sie an einem konkreten Ort drehen und ihre Figuren auch eine bestimmte Sprache sprechen lassen. Sie entschied sich für Französisch – «wobei jeder mit einem anderen Akzent spricht» – und drehte in Cerbère, einem französischen Küstendorf an der Grenze zu Spanien. Die Bilder von Kameramann Denis Jutzeler rufen aber mediale Erinnerungen an verschiedene Kriegsschauplätze und historische Zeiten auf. Als Pool das Projekt entwickelte, hatte sie vor allem Bilder der Balkankriege der neunziger Jahre im Kopf, aber auch die Erzählungen ihres Vaters, der als polnischer Jude auf der Flucht vor den Nazis den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte – zufälligerweise just in der Nähe der französisch-spanischen Grenze, wo sie schliesslich «Hôtel Silence» drehen würde.

Inzwischen wurde der Film von den Bildern der neusten Kriege eingeholt. Pool ist es wichtig, zu betonen, dass es in ihrem Film, wie schon in der Romanvorlage, nicht um den bewaffneten Konflikt geht, sondern um den Wiederaufbau – um die menschliche Resilienz – und um die Notwendigkeit von Solidarität und Widerstand: «Zusammen mit Auður Ava Ólafsdóttir nehme ich die Wette an, uns der Gewalt entgegenzustellen, die unseren Alltag so sehr beherrscht. Ohne allzu naiv zu sein: Unsere Menschlichkeit muss stärker sein als die Barbarei.»

«Hôtel Silence». Regie und Drehbuch: Léa Pool. Kanada/Schweiz 2024. Jetzt im Kino.