Syrien nach dem Umsturz: Macht, Geld, ­ Flüchtlinge

Nr. 24 –

Die Türkei will vom Wiederaufbau Syriens profitieren. So könnte das Land seine eigene Wirtschaft ankurbeln, sich geopolitisch positionieren – und nebenbei Hunderttausende Syrer:innen loswerden.

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ein Motorrad unterwegs auf der Strasse, schwer beladen mit Gasflaschen und Treibstoffbehältern
Das Land ist ruiniert – für die Türkei eine grosse Chance: Auch nach dem Ende des Assad-Regimes sind in Syrien Treibstoff und Strom Mangelware. Foto: Aaref Watad, Keystone

Rund 250 000 syrische «Brüder und Schwestern» seien aus der Türkei bereits ins südliche Nachbarland zurückgekehrt, seit dort im Dezember das Regime von Baschar al-Assad gestürzt worden sei, verkündete der türkische Innenminister Ali Yerlikaya Ende Mai voller Genugtuung. Rund drei Millionen Geflüchteten hat das Land in den Jahren des syrischen Bürgerkriegs offiziell Zuflucht gewährt, wobei die Zahl tatsächlich wesentlich höher sein dürfte. Nun aber scheint eine Gegenbewegung eingesetzt zu haben. Viele hoffen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, nachdem US-Präsident Donald Trump sowie die EU angekündigt haben, die meisten wirtschaftlichen Sanktionen gegen Syrien aufzuheben.

Regionale Energiedrehscheibe

Vom Aufbruch will auch die Türkei profitieren. Um wirtschaftliche, militärische und geostrategische Vorteile zu erlangen, stellte die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan bereits unmittelbar nach Assads Sturz erste Pläne für den Wiederaufbau des ruinierten Landes vor. Das türkische Militär soll demnach Teile der syrischen Armee ausbilden und entsprechende Ausrüstung liefern – was nicht nur Macht und Einfluss in der Region verspricht, sondern auch die landeseigene Rüstungsindustrie stärkt.

Überhaupt haben zahlreiche Unternehmen schnell signalisiert, dass sie in Syrien mitmischen wollen. Angestiegene Aktienwerte türkischer Unternehmen deuten darauf hin, dass auch viele Anleger:innen darauf spekulieren, dass der Türkei beim Wiederaufbau Syriens eine Schlüsselrolle zukommt. Vor allem Firmen im Zement- und Stahlsektor profitieren vom Aufwärtstrend. Es ist ein Wirtschaftsbereich, der schon lange eng mit dem türkischen Staat verbandelt ist.

Weiter erhalten auch Ambitionen, die Türkei als regionale Energiedrehscheibe zu positionieren, neuen Schwung. So hat Erdoğan einen alten Plan hervorgeholt: Er möchte den Bau einer Erdgaspipeline von Katar über Syrien in die Türkei wieder vorantreiben. Das Projekt wurde 2009 erstmals angekündigt, später jedoch aufgrund technischer und politischer Schwierigkeiten aufgegeben: Dazu gehörten der Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs, Streitigkeiten zwischen Katar und Saudi-Arabien sowie zwischen der Türkei und dem Assad-Regime wie auch der Ölpreisverfall von 2014, der viele regionale Energieinfrastrukturpläne behinderte. Zudem soll sich auch Assad gegen das Vorhaben gestemmt haben, um seine Nähe zu den Kriegsverbündeten Russland und Iran zu unterstreichen – und seinem Gegner Erdoğan eins auszuwischen.

Das Machtvakuum nach dem Sturz Assads bietet dem türkischen Präsidenten eine günstige Gelegenheit. Ende März unterzeichnete Syrien gemeinsam mit der Türkei und Katar eine Absichtserklärung, gemäss der in Syrien vier Gas- und Dampfturbinenkraftwerke sowie ein Solarpark gebaut werden sollen. Der Investitionswert beläuft sich auf sieben Milliarden US-Dollar. Dem von einer katarischen Holding geführten internationalen Konsortium gehören auch die türkischen Energiefirmen Kalyon GES Enerji Yatirimlari und Cengiz Enerji an, beide Unternehmen stehen Erdoğan nahe.

Bei einer Pressekonferenz in der syrischen Hauptstadt Damaskus verkündete der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar im Mai, dass die Türkei Syrien im Rahmen eines neuen bilateralen Energieabkommens jährlich zwei Milliarden Kubikmeter Erdgas liefern werde. Türkische Firmen seien eingeladen, in Syrien Möglichkeiten im Bergbau und bei der Phosphatgewinnung sowie der Stromerzeugung und -verteilung zu erkunden, sagte Bayraktar. Es sind Vorhaben, die auf Langfristigkeit setzen. Weil aber Syrien beim Wiederaufbau dringend auch kurzfristige Unterstützung brauche, werde man dem Nachbarland Strom liefern, fügte er hinzu. An derselben Pressekonferenz verkündete Bayraktars syrischer Amtskollege Muhammad al-Baschir, dass sich seine Regierung mit der Türkei auf die Instandsetzung einer Erdgaspipeline zwischen den beiden Ländern geeinigt habe. Noch im Juni soll das erste Gas strömen.

Sorge vor Zahlungsunfähigkeit

Das Interesse, vom Wiederaufbau in Syrien wirtschaftlich zu profitieren, ist in der Türkei sichtbar gross. Im Mai nahmen an der ersten internationalen Bau- und Energiemesse seit dem Machtwechsel in Damaskus 180 türkische Unternehmen teil, so viele wie aus keinem anderen Land. Ganz sorglos verspricht ihr Geschäft allerdings nicht zu verlaufen. Zu den grössten Hemmnissen gehört die fehlende Finanzkraft der neuen syrischen Regierung wie auch der Bevölkerung: Laut Uno-Angaben leben derzeit über neunzig Prozent der 25 Millionen Menschen im Land unterhalb der Armutsgrenze.

Dennoch erkennt die türkische Regierung die aktuelle Situation vor allem als Chance – und die eigenen wirtschaftspolitischen Massnahmen nicht zuletzt auch als Beweggrund für weitere Geflüchtete, in die Heimat zurückzukehren. Denn längst hat sich in der Gesellschaft die Stimmung gegen die «Brüder und Schwestern» aus Syrien gedreht. Mit einer starken Rückwanderung werde der aktuell grosse politische Druck auf die Regierung abnehmen, so die Hoffnung. Bereits seit Januar bietet Turkish Airlines wieder zivile Flugverbindungen nach Syrien an, und auch Syrian Airlines verspricht, demnächst wieder Destinationen in der Türkei anzufliegen.