Gewalt in Nordirland: Ganz nach Drehbuch
Vergangene Woche kam es nächtelang zu rassistischen Krawallen in nordirischen Städten. Der Ausbruch kam nicht überraschend – seit Jahren erstarkt die radikale Rechte auf der Insel. Im jüngsten Fall hallt auch der Nordirlandkonflikt nach.

«Wo sind die Ausländer?», riefen die Maskierten, als sie letzte Woche randalierend durch die Strassen der nordirischen Stadt Ballymena zogen. Sie warfen Scheiben ein, zündeten Autos an und schleuderten Brandsätze auf Wohnhäuser und Geschäfte von Migrant:innen. Fünf Nächte in Folge tobten die rassistischen Krawalle, nach Ballymena auch in anderen Orten, etwa in Larne an der Ostküste.
Auslöser war ein sexueller Übergriff gewesen. Zwei Vierzehnjährige werden beschuldigt, in Ballymena ein Mädchen genötigt zu haben. Die Anklageschrift im Fall der versuchten Vergewaltigung wurde den mutmasslichen Tätern von einem rumänischen Dolmetscher vorgelesen. Für einige Anwohner:innen war klar: Ausländer. Sie riefen auf Facebook zu einem Protest auf, um «Wut auszudrücken über etwas, das wir in unserer Stadt nicht tolerieren werden». Die Kundgebung artete aus, junge Männer begannen, Wohnungen von Migrant:innen ins Visier zu nehmen. Der Ausbruch der Gewalt war erschreckend – doch für Beobachter:innen der rechten Szene kaum überraschend.
Vermeintliche Frauenschützer
Die radikale Rechte in Irland – sowohl in der Republik Irland wie auch in Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört – folge einem «Drehbuch», sagt Steph Hanlon, Soziologin am Carlow College südlich von Dublin und seit vielen Jahren antirassistische Aktivistin. «Rechtsextreme suchen nach irgendeinem schlagzeilentauglichen Zwischenfall, den sie instrumentalisieren können. Etwa Gewalt gegen Frauen, wie im Fall von Ballymena.» Freilich seien sie sehr selektiv: Regelmässig werden nordirische Männer wegen sexueller Nötigung angeklagt, das Interesse der Scharfmacher werde aber nur dann geweckt, wenn die mutmasslichen Täter Ausländer seien. Dann riefen sie über Kanäle wie Telegram zu Kundgebungen auf und präsentierten sich als Beschützer und Retter der Einheimischen, erklärt Hanlon.
Auf der irischen Insel ist es in den vergangenen drei bis vier Jahren zu zahlreichen solchen «Protesten» gekommen – viele endeten in Gewalt. Die rassistischen Krawalle, von denen im vergangenen August zwei Dutzend englische Städte ergriffen wurden, schwappten auch auf Belfast über. Der damalige Auslöser war die Desinformation über eine Messerattacke auf eine Kindertanzstunde in der englischen Stadt Southport, bei der drei Mädchen getötet wurden: Rechtsextreme Aktivist:innen behaupteten, der Täter sei ein muslimischer Migrant.
Wie in Grossbritannien ist die radikale Rechte auf der irischen Insel im Zuge der Covid-Pandemie auf der Strasse viel präsenter geworden. Rechte Aktivist:innen organisierten zunächst Proteste gegen die Lockdowns, später wurden Migrantinnen und Asylbewerber zur Zielscheibe. Die Aktivist:innen verbreiteten Verschwörungstheorien wie jene des «Great Replacement», laut der Migrant:innen nach Europa gebracht würden, um die weisse Bevölkerung zu ersetzen. Eine wichtige Rolle spielen US-amerikanische Influencer aus der Neonazi-Ecke, die Irland als fruchtbaren Boden für solche rechtsextreme Hetze ausgemacht haben. In der Republik nutzen die Rechten insbesondere die grassierende Wohnungskrise aus und machen Migrant:innen für den Mangel an erschwinglichem Wohnraum verantwortlich.
Gewaltvolles Erbe
In Nordirland kommt noch ein anderer Aspekt hinzu. Loyalistische Paramilitärs kämpften während des Nordirlandkonflikts von den späten 1960er bis Mitte der 1990er Jahre auf britisch-unionistischer Seite für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich – oft mit brutalen Mordanschlägen auf katholische Zivilist:innen. Noch heute sind sie in vielen unionistisch geprägten Gegenden im Untergrund aktiv, häufig auch im organisierten Verbrechen.
Der Ausschluss und die Vertreibung von Andersdenkenden ist Teil der Ideologie des militanten Loyalismus. Früher zielten die Paramilitärs auf Katholik:innen ab – im stramm unionistischen Ballymena beispielsweise kam es noch in den neunziger Jahren zu schweren Attacken auf die katholische Minderheit. Heute haben es die Paramilitärs auf Migrant:innen abgesehen. Die Beteiligung von Elementen der loyalistischen Paramilitärs an ausländerfeindlicher Gewalt und Einschüchterung sei ein bekanntes Problem in Nordirland, schreibt die Menschenrechtsorganisation Committee on the Administration of Justice in einem neuen Bericht über rassistische Zwischenfälle in Nordirland. Recherchen haben gezeigt, dass die Aufrufe zu den jüngsten Protesten in loyalistischen Facebook- und Chatgruppen geteilt wurden.
Auch Politiker:innen tragen Verantwortung. Als nach dem Gewaltausbruch mehrere migrantische Familien aus Ballymena flohen, schrieb der unionistische Minister Gordon Lyons in den sozialen Medien, dass sie offenbar in einem Freizeitzentrum in Larne unterkommen sollten – und entrüstete sich, dass er als lokaler Abgeordneter nicht konsultiert worden sei. Stunden später flogen Steine auf die Scheiben des Zentrums, Teile des Gebäudes standen in Flammen.
Unterdessen haben die Rassist:innen ihr Ziel erreicht, zumindest teilweise: Mehrere Migrant:innen haben sich offenbar kurzerhand entschieden, Nordirland zu verlassen. Eine bulgarische Mutter, die zehn Jahre lang in Ballymena lebte und deren sechsjährige Tochter hier geboren wurde, sagte gegenüber der BBC, sie habe keine andere Wahl. «Meine Tochter hat Angst. Es ist unmöglich, hier zu bleiben.»