Gertrud Leutenegger (1948–2025): Spaziergänge durch den Scharfsinn
Gertrud Leutenegger war die bekannteste Unbekannte der Schweizer Literatur. Sprachmächtig und eigensinnig entzog sie sich jeder einfachen Zuschreibung.

«Mein Raum des Handelns ist die Sprache.» So schlicht, so kategorisch hat Gertrud Leutenegger einmal ihr Programm beschrieben. Sie verstand das Schreiben – wie die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts das Sprechen – als ein Tun. Wie handelt man in, mit und durch Sprache? Welche Gesetze des Handelns gelten für die Literatur? Was unterscheidet die Literatur vom öffentlichen Reden in anderen Sphären und Bereichen? Leuteneggers Texte können als Antworten auf diese Fragen gelesen werden.
Aus dem Leben der 1948 in Schwyz geborenen Autorin sind nur wenige Eckpunkte an die Öffentlichkeit gelangt: ihr Studium an der Zürcher Schauspielakademie, ihre Arbeit als Regieassistentin in Hamburg unter Jürgen Flimm, ihre ausgedehnten Reisen nach Florenz, Berlin oder Tokio. Die Bühne gehört der Literatur, nicht den Literat:innen: Davon war Gertrud Leutenegger überzeugt. Sie galt als diskret und leise – ihr Werk ist es keineswegs.
Mitlaufen kann jede Ameise
Als sich die Autorin mit ihrem Romandebüt «Vorabend» 1975 einen Namen machte, gab es gerade einmal seit vier Jahren das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Formal innovativ thematisiert der Roman das politische Engagement, gegliedert in elf Strassen, nach der Route einer geplanten Demonstration. Der Roman folgt der Erzählerin, die am Vorabend die Wege abgeht und sich dabei zur Gegenwart ins Verhältnis zu setzen sucht. «Ich lasse mich gerne bis zu den Fusssohlen durchrütteln, ich bin begierig auf Spaziergänge durch den Scharfsinn, durstig nach entwirrender Intellektualität.»
Spazieren geht auch, vierzig Jahre später, die Erzählerin in «Panischer Frühling», ihrem 2014 erschienenen Roman, der auf der Shortlist des Schweizer und des Deutschen Buchpreises stand. Nicht durch Zürich, sondern durch London streift sie – und sie tut es zwangsweise: In Island ist ein Vulkan ausgebrochen, der Flugverkehr ist unterbrochen, die globale Mobilität eingeschränkt, die Menschen sitzen fest. Nicht die Strassen der Stadt, sondern die Wasserstrasse, die Themse, strukturiert den Roman. Die Kapitelüberschriften notieren Tidenwasserstände: «High Water», «Low Water».
Den wohl bekanntesten Spaziergänger der Schweizer Literatur, der darin auch dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau den Rang abläuft, nämlich Robert Walser, hat Leutenegger begeistert gelesen, wie sie im Prosastück «Jakob, der Johannisbeerstrauch» verrät. Zu ihrem «Guerilla-Handbuch im Dschungel der Dichtung» erklärt sie Walsers frühen Roman «Jakob von Gunten». «Und noch heute», so schliesst das Stück, «breche ich, wegen eines Johannisbeerstrauchs, in jeden fremden Garten ein. Um Jakob wiederzufinden: ganz Spötter, ganz Tänzer, ganz Rebell.»
Andere literarische Spuren sind versteckter: Unter den Spaziergängen durch Zürich oder London scheinen Spuren von Virginia Woolfs Gründungsdokument der literarischen Moderne durch: «Mrs. Dalloway». Auch hier folgt der Roman einer nachdenklichen Spaziergängerin durch die Stadt, während der Glockenschlag die Gliederung vorgibt; auch hier liegt die erzählerische Pointe nicht im Handlungsverlauf, sondern in der raffinierten Komposition und der Kraft der sprachlichen Bilder. Zu den deutschsprachigen Ausgaben der Arbeiten von Catherine Colomb, die im Geheimen und unter einem Pseudonym in Lausanne zu schreiben begann, hat Leutenegger die Einleitungen beigesteuert.
Lange galt sie als eigenwillige Feministin. Ihre weiblichen Figuren stehen oft bewusst abseits. Den Protesten will sich die Erzählerin in «Vorabend» gerade nicht anschliessen: «So ganz richtig dabeizusein. Eine Demonstration! Denn nur Mitlaufen, das ist es nicht. Da könnte sonst jede Ameise, die zur gleichen Zeit dieselbe Strasse entlang krabbelt, sich damit brüsten, sie hätte die gute Sache unterstützt.» So beginnt der Roman. Ist es Zufall, dass ausgerechnet ältere männliche Kollegen die literarischen Traditionslinien verkannten und «Vorabend» zu einem sprachbegabten Fall «literarischen Marketings» degradierten?
Solidarität mit Rushdie
Auch eine andere Dimension ihres Schreibens kommt erst langsam in den Blick: die ökologische. Früh thematisiert Leutenegger das Verhältnis von Natur, Mensch und Technik, greift Fragen der Umweltbewegung auf. In «Kontinent» (1985) kommt die Erzählerin in ein Bergdorf, das deutlich die Züge von Chippis im Wallis trägt. Für eine Jubiläumsfeier der Aluminiumfabrik sollen Töne aus der Umgebung aufgezeichnet werden. Die Neue und Fremde beobachtet, wie die Fabrik und die Natur das Leben bestimmen – ein Thema, das Leutenegger im Essay «Die dankbaren Toten von Chippis» 1982 schon berührt hat.
Als Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller 2022 gebeten wurden, den Mordanschlag auf Salman Rushdie zu kommentieren, ist Gertrud Leutenegger, die sich so selten politisch äusserte, dabei. Sie stellt die Infamie des Angriffs heraus und betont die Kraft der Literatur: «Allein durch die Zauberkraft der Sprache, mit seiner überbordenden Imagination erobert Rushdie verlorene kulturelle Reichtümer zurück. Die Fatwa gegen ihn ist auch eine Fatwa gegen die Fülle des Lebens.» Am 20. Juni ist Gertrud Leutenegger im Alter von 76 Jahren in Schwyz gestorben.