Licht im Tunnel: Matriarchale Chimären
Michelle Steinbeck über natürliche Ordnung

Dieser Tage wünsche ich mich nach Deutschland: Dort wäre ich bereits im Mutterschutz. Nur in der Schweiz rühmen wir uns der Zumutung, bis zum Überrolltwerden durch die Geburtswehen scheinbar ungerührt weiter lohnarbeiten zu müssen. In einer kürzlich vom britischen «Economist» publizierten Rangliste zum Thema «The best places to be a working woman in 2025» steht die Schweiz denn auch wieder ganz unten. Wieso ist das so? Und warum bleibt es dabei – woher der merkwürdige Stolz auf die schlechtesten Bedingungen für erwerbstätige Eltern in einem der reichsten Länder der Welt?
Ein paar Thesen: der verbreitete Irrglaube der Einheimischen, in der Schweiz sei eh alles am besten. Die peinlich späte Einführung des Frauenstimmrechts. Der Kommentarspaltenkonsens: Was ich gelitten habe, sollen auch alle nach mir erdulden. Und natürlich der neoliberale Totschläger: Egal, was du willst, (Kinder zum Beispiel), du musst es dir halt leisten können. Aber woher diese Mentalität? Kollektive Umnachtung durch vergifteten St. Galler Schüblig in Kombination mit Zwingli-Rückständen im Trinkwasser?
Auch Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue befasste sich mit der Frage, wie zur Instandhaltung des Patriarchats die offensichtliche körperliche und mentale Überlegenheit, die Mütter etwa während Schwangerschaft und Geburt unter Beweis stellen, delegitimiert werden müsse. So beschreibt er Riten, die er in verschiedenen Kulturen beobachtet haben wollte: Dabei spielen Männer, deren Frauen gerade geboren haben, die Geburt nach, parodieren den unheimlichen Kraftakt der Frau, machen sie lächerlich zum Vergnügen der geladenen Gäste, die von ihr, die gerade frisch entbunden hat, bewirtet werden.
Dass das Matriarchat die eigentlich natürliche Ordnung ist, beweist auch der sogenannte Mikrochimärismus. Kinder zu bekommen beeinflusst mütterliche Körper weit über das Sichtbare hinaus: Noch lange nach der Geburt bleiben wir im Innersten verändert – und in den Körpern unserer Nachkommen verewigt. Seit in der Schilddrüse einer Frau männliche Chromosomen entdeckt und als Zellen ihres Sohnes erkannt wurden, wird dieses Phänomen erforscht: Während einer Schwangerschaft tauschen Mutter und Kind Zellen aus. Diese breiten sich im Körper aus, siedeln sich in verschiedenen Organen an und bleiben, teilen sich, wachsen – für Jahrzehnte, vielleicht ein Leben lang.
Dieser genetische Austausch betrifft nicht nur Mutter und Kind – neben Zellen unserer Mutter tragen wir alle auch solche unserer Grossmutter mütterlicherseits, unserer älteren Geschwister, sogar älterer Geschwister unserer Mutter in uns. Selbst früh in der Schwangerschaft Verstorbene bleiben auf Zellebene erhalten: Ab vier Wochen beginnen Mutter und Embryo mit dem Zellaustausch. Was diese Zellen tun, ist noch umstritten. Die Mikrochimärismusforscherin Diana Bianchi sagt: «Es verändert meine Vorstellung davon, wer ich bin.» Ihr Sohn sei längst erwachsen, und doch sei sie nie ohne ihn und er nie ohne sie.
Für mich als verwaiste Mutter ist dieser Gedanke tröstlich. Er bestätigt mein Empfinden auf wissenschaftlicher Ebene: Als mein Sohn starb, starb ein Teil von mir. Und obwohl er starb, ist er noch da. In Erinnerung, Liebe, aber nicht nur: Seine Zellen sind wirklich in mir, lebendig. Und nun auch in seinem Geschwister.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Mit dieser Kolumne verabschiedet sie sich in den Mutterschaftsurlaub.